Achtung Bürokratie — die Kreativität kommt, um zu bleiben!

Das “Amt für Unlösbare Aufgaben” in Heidelberg

Politics for Tomorrow
Öffentliches Gestalten
8 min readMay 31, 2018

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Verfasst von Anna Varnai (Politics for Tomorrow / IDEO München)

Kennen Sie schon AuA, das “Amt für unlösbare Aufgaben”?
Was von Mai bis Dezember 2017 in Heidelberg entwickelt wurde, verdeutlicht die Möglichkeiten menschenzentrierter Gestaltung im öffentlichen Sektor in Deutschland. Das Modellprojekt hat für alle Beteiligten erfahrbar gemacht, was durch Kreativität, Kooperation und Mut mit kleinen, einfachen Mitteln in der Verwaltung und für Bürger*innen und Mitarbeiter*innen zu bewirken ist! Willkommen in der Behörde von Morgen:

„Wie bekommen wir Menschlichkeit, eine ansprechende Sprache, Wertschätzung, Design, Humor und Identifikation in die Bürokratie? Eine unlösbare Aufgabe? Es galt, das Amt für unlösbare Aufgaben zu gründen.“ (Leonie Pichler)

In Zusammenarbeit mit der Stadt Heidelberg haben vier Akteure der Kultur- und Kreativwirtschaft das Amt für unlösbare Aufgaben gegründet, um kreative Lösungsstrategien für bürokratische Prozesse zu entwickeln und Alternativen zum Status Quo umzusetzen. Ziel von AuA und den Initiator*innen ist es, die Begegnung von Bürger*innen mit Bürokratie und Verwaltungsprozessen zu vereinfachen.

Team:

Vier gewinnt

Die vier Initiator*innen hatten zuvor wenig Berührungspunkte mit Bürokratie und haben sich mehrere Monate lang mit der Innen- und Außenwahrnehmung, den Prozessen und Abläufen sowie der Gestaltung von Kommunikation rund um das Thema Bürokratie auseinandergesetzt: Warum empfinden so viele Bürger*innen und Unternehmen Bürokratie als Belastung? Das Ziel war bürokratische Handlungsroutinen zu identifizieren, die das Zusammenspiel zwischen Bürger*innen und Bürokratie erschweren und Alternativen zu entwickeln, die diese Schwierigkeiten aus dem Weg räumen. Dabei hat das Team Techniken, Fertigkeiten und Methoden aus ihren Berufen auf das Thema Bürokratie angewandt: Involviert waren die Musikmanagerin Julia Wartmann, der Stadtforscher Matthias Burgbacher, die Theaterregisseurin Leonie Pichler und die Architektin Lilia Kleemann.

(von links nach rechts: Julia Wartmann, Matthias Burgbacher, Petra-Leonie Pichler, Lilia Kleemann)

Die Akteure konnten frei und ergebnisoffen arbeiten — ohne inhaltliche Beteiligung des BMWi oder des Kompetenzzentrums Kultur- und Kreativwirtschaft (KKW) — und zusammen mit den Mitarbeiter*innen der Stadt Heidelberg sowie der Unternehmen Vitra und Kahl und natürlich auch den Bürger*innen von Heidelberg nach Antworten forschen und gemeinsam Ideen entwickeln.

Hierbei war vor allem die Leiterin des Oberbürgermeister-Referats Heidelberg, Nicole Huber, wichtig, die sofort „Ja“ gesagt hat, als die Initiator*innen anfragten, ob das Amt für unlösbare Aufgaben im Heidelberger Rathaus einziehen könne. Dies war die Geburtsstunde für das Amt für unlösbare Aufgaben, das im Rahmen des Projekts PHASE XI — eine Expedition mit der Kultur- und Kreativwirtschaft — entstanden ist. Insgesamt wurden in acht Labs in ganz Deutschland relevante Themen aus Wirtschaft, Politik und Gesellschaft aus dem Blickwinkel der Kultur- und Kreativwirtschaft betrachtet. Ein weiteres Lab im Rahmen von Phase XI hat z.B. zum Thema Alpenraum stattgefunden.

Das Projekt wurde im Auftrag des BMWi durch das Kompetenzzentrum Kultur- und Kreativwirtschaft des Bundes durchgeführt, die Akteure konnten jedoch frei und ergebnisoffen an ihren Aufgaben arbeiten. D.h. das AuA hat mit der Stadt Heidelberg zusammen gearbeitet — ohne inhaltliche Beteiligung des BMWi oder des Kompetenzzentrums Kultur- und Kreativwirtschaft (KKW). Diese Art der Zusammenarbeit ist dem Projekt PHASE XI zu verdanken, das die entsprechenden Mittel zur Verfügung gestellt hat, um die Wirkungsweise von kreativwirtschaftlichem Handeln sichtbar zu machen: Nicht-technische Innovation und Denken “out of the Box”.

Prozess:

Partizipation und menschen-zentrierte Gestaltungsmethoden

Am Anfang wurden umfassend Informationen über die Innen- und Außenwahrnehmung von Bürokratie gesammelt, um besser zu verstehen, wo die verschiedenen Anspruchsgruppen Gestaltungsspielräume und Potenziale für die Bürokratie sehen. Neben Fachartikeln und Studien, wurden über selbst gestaltete Fragebögen auf http://deutschland.brauchtdich.com, über Facebook, in 12 Expert*innen-Interviews, in unzähligen persönlichen Gesprächen mit Bürger*innen und Verwaltungsmitarbeiter*innen und über die eigene Erfahrung während eines kurzen Praktikums im Bundeswirtschaftsministerium und bei der Stadt Heidelberg Wissen generiert und ausgewertet.

Es wurden die folgenden Themen und Gestaltungspotenziale identifiziert:

  • Gemeinsame sprachliche Ebene zwischen Verwaltung und Bürger*innen
  • Anerkennender Erfahrungsaustausch
  • Offene, wertschätzende Räume
  • Flexibilität in Personaleinsatzplanung, Mittelverwendung und Zeitgestaltung
  • Beschleunigung von Entscheidungsprozessen
  • Abbau von Vorurteilen

Ergebnisse:

Konkrete Ansätze und Pilotprojekte

Auf dieser Basis wurden in enger Absprache mit den Mitarbeiter*innen der Stadt Heidelberg modellhafte Ansätze entwickelt, um die identifizierten Themenbereiche sinnvoll zu verändern. Einige dieser Ansätze — wie die “Lange Nacht der Bürokratie” — konnten noch im Rahmen des Projekts als Pilotprojekt verwirklicht werden. Andere konnten aufgrund der kurzen Projektlaufzeit nicht umgesetzt werden, wurden jedoch in der finalen Publikation „Amt für unlösbare Aufgaben“ zusammengefasst. Die Publikation kann auf der Webseite des Kompetenzzentrums Kultur- und Kreativwirtschaft (KKW) des Bundes kostenfrei heruntergeladen werden und gibt Impulse und Inspiration für die kreative Gestaltung von Bürokratie.

„Jedes Formular ist eine Chance zur Kommunikation mit Bürgerinnen und Bürgern.”

  • Orientierung und Entlastung: Entwicklung eines Leitfadens
    Am Beispiel der Genehmigung eines Zwischennutzungsprozesses hat das Team zusammen mit der Baubehörde einen Leitfaden erstellt, der den Antragsteller*innen als erste Orientierungshilfe dient und bei den Mitarbeiter*innen der Behörden für Entlastung sorgt. Zusätzlich wurde die Idee formuliert, verschiedene Genehmigungsvorgänge auf einen einzigen persönlichen Termin zu konzentrieren.
  • Digitalisierung: Steuererklärung 2020
    Ein Entwurf für die digitale Steuererklärung der Zukunft wurde erstellt, mit dessen Hilfe Wertschätzung, eine individualisierte Sprache und Transparenz in die Kommunikation zwischen Mensch und Verwaltung gebracht wird. Außerdem wurde angeregt die Elektronische Lohnsteuererklärung nicht ausgerechnet nach einem diebischen, schwarzen Vogel zu benennen.
  • Haltung: Die 10% Utopie
    Wie schaffen wir es, in Berufsumfeldern von Behörden, Ämtern und Verwaltungen eine neue Identifikationsebene mit dem Job zu schaffen und dadurch die persönliche Verantwortung für das Gelingen von Projekten, Anliegen, Anfragen zu stärken? Die 10% Utopie verfolgt das Ziel, dieses Mindset zu befördern und damit auch eine neue Generation für die Arbeit in Behörden zu erschließen. Die Idee ist, 10% der Mittel frei verfügbar zu halten, 10% der Arbeitszeit für Sonderprojekte frei einsetzen zu können, 10% der Zeit den Arbeitsplatz frei wählen zu können. Weitere 10% Regelungen sind denkbar.
  • Wertschätzung: Der Award für bürokratisches Heldentum
    Mit dem Award sollen einmal im Jahr Personen, Fachbereiche oder Kommunen ausgezeichnet werden, die sich in besonderer Weise daran beteiligt haben, möglichst kreativ Lösungen für Probleme und Herausforderungen von Bürger*innen zu finden.
  • Raumgestaltung: Die Architektur der Kommunikation
    Im Rathaus Heidelberg wurde das Amtszimmer der Zukunft als Ort der gegenseitigen Wertschätzung gestaltet. Es wurden Orte für verschiedene Situationen geschaffen, so zum Beispiel ein Sessel mit integriertem Tisch, der durch die Abgeschlossenheit nach drei Seiten Ruhe schafft, um zum Beispiel ein Formular auszufüllen oder ein Tresen mit erhöhten Drehsesseln auf beiden Seiten, der eine Gesprächssituation auf Augenhöhe schafft. Im Rahmen der LaNaBü (Lange Nach der Bürokratie) wurde das umgestaltete Amtszimmer von den Heidelberger*innen getestet und für gut befunden.
  • Image: Kampagne für die Bürokratie
    Mit Postkarten und Plakaten wurde eine Imagekampagne für die Bürokratie gestartet, deren Mitarbeiter*innen täglich mit vielen Vorurteilen und Vorwürfen konfrontiert werden, obwohl sie im Kern außerordentlich gut funktioniert.
  • Bedarfe erkennen: Wann ist eine gute Zeit für Behördengänge
    Am 4. Oktober 2017 wurde die Lange Nacht der Bürokratie erstmals durchgeführt. Für Berufspendler*innen, Nachtschwärmer*innen, Workaholics, Mütter, Väter und alle Heidelberger*innen, die keine Möglichkeit haben, Behördengänge zu den üblichen Öffnungszeiten zu erledigen, öffnete das Bürgeramt Altstadt im Rathaus Heidelberg von 20 bis 23 Uhr seine Türen.

Auf unserem Blog geht es nicht nur um die Ergebnisse, sondern vor allem um den Prozess und die langfristige Wirkung: Wir möchten Initiator*innen eine Plattform geben, ihren Prozess sichtbar zu machen und offen darüber zu reflektieren, was sie gelernt haben, was sie eventuell anders machen oder Interessierten empfehlen würden!

Gelerntes:

Was haben die Beteiligten mitgenommen? Wie hat sich die Organisation dadurch weiterentwickelt?

  • Menschlichkeit
    Das Prinzip Menschlichkeit ist ein wichtiger Schlüssel um die Erfahrung mit Bürokratie für Bürger*innen verständlicher und angenehmer zu machen.
  • Wertschätzung
    Direkt danach folgt die gegenseitige Wertschätzung, die in alle Prozesse, Formulare und Vorgänge default eingearbeitet werden sollte.
  • Haltung
    Schaffen wir es, das bisherige Selbstverständnis der Bürokratie, das sich aus Begriffen und Werten wie Struktur, Loyalität, Sicherheit, Neutralität und Ordnung zusammensetzt um weitere Elemente wie Wertschätzung, Vertrauen, Flexibilität, Motivation, Identifikation zu ergänzen, dann haben wir die Möglichkeit, das Selbstverständnis Deutschlands um eben diese Werte zu ergänzen und zu erneuern.
  • Konkret werden und anfangen
    Es gibt viele Möglichkeiten, etwas zu verändern, wenn man nicht versucht das ganz große Rad zu drehen, sondern sich konkrete Dinge vornimmt und angeht.

In Heidelberg gibt es ohnehin bereits einen starken Willen zur Veränderung, der durch die Zusammenarbeit und modellhafte Projektentwicklung weiter gestärkt wurde. Alle diejenigen, die für Veränderung stehen, konnten für Bürger*innen und Kolleg*innen erfahrbar machen, dass mit kleinen und einfachen Mitteln Veränderung möglich ist.

Wenn Sie die Möglichkeit hätten das Projekt nochmals durchzuführen, was würden Sie anders machen?

Die Besonderheit dieses Projekts war es, dass die Akteure die seltene Möglichkeit hatten ergebnisoffen zu arbeiten. Es gab keine Zielsetzung — auch Scheitern wäre als Erfolg gewertet worden. Das Kompetenzzentrum sieht einen wichtigen Schwerpunkt darin mehr “Risky Projects” zu etablieren, um die Relevanz der Arbeitsweise von Kultur- und Kreativwirtschaft noch stärker sichtbar zu machen und zu fördern.

Eine längere Projektlaufzeit hätte geholfen, weitere der konzipierten Elemente auszuprobieren und umzusetzen und andere Behörden, Städte und Regionen in den Prozess einzubeziehen.

„Wir haben versucht, die Bedürfnisse und Anliegen der Bürgerschaft und generell derjenigen, die in Berührung mit Behörden kommen, abzufragen und einzubinden. Das ist uns mit unseren Methoden stichprobenartig geglückt. Allerdings würden wir nächstes Mal andere Methoden zur Einbindung der Bürgerschaft wählen, da das von uns eingesetzte online tool leider nicht wie erhofft angenommen wurde“, sagen die projektverantwortlichen Akteure.

Was würden Sie anderen Personen, die ähnliches vorhaben, raten oder weiterempfehlen?

  • Die eigenen Vorurteile nicht zu unterschätzen. Daher Methoden und Prozesse zu wählen, die möglichst viele Perspektiven einbeziehen.
  • Die Fragestellung scharf zu formulieren, das Ziel jedoch nicht vorwegzunehmen, da es sich im Prozess verändern kann.
  • Nicht am grünen Tisch zu planen. Möglichst früh Partnerschaften und Kooperationen eingehen.

Was könnte die Vorgesetzten in einer anderen Organisation überzeugen, ein ähnliches Projekt zu ermöglichen?

Kommunen stehen beim Verwenden von Steuergeldern unter hohem Rechtfertigungsdruck und sind deshalb vor allem bei sehr ergebnisoffenen Prozessen durchaus kritisch, wenn es um Verbindlichkeiten wie z.B. die Vergabe von Budgets geht. Für Experimentierräume wie das Amt für unlösbare Aufgaben ist es daher gut, einen Rahmen vorzufinden, der das Risiko für alle Beteiligten minimiert. Das Kompetenzzentrum Kultur- und Kreativwirtschaft des Bundes war Projektträger und hat das Konzept zur Phase XI entwickelt, das 2017 bewilligt und zusätzlich durch das Referat des Bundeswirtschaftsministeriums beauftragt wurde.

Ausblick:

Wie geht es weiter?

Am 4. Juli 2018 wird es im Rahmen des Festivals für Digitale Bildung, veranstaltet von der Landesinitiative bw@digital in Heidelberg, einen gemeinsamen Workshop geben mit der Fragestellung, wie die Mitarbeitergewinnung und -qualifizierung neu aufgestellt werden kann, um Akteure und Knowhow aus der Kultur- und Kreativwirtschaft als (strategische) Ressource für die Verwaltung der Zukunft zu gewinnen. Oliver Rack, der Abteilungsleiter für Fördermittelmanagement und Open Governance, ist seit 2018 Fellow des Kompetenzzentrums und Teil von Politics for Tomorrow.

Kommen Sie gern vorbei!

Weitere Informationen dazu werden wir über unseren Politics for Tomorrow Newsletter versenden, zu dem Sie sich gern HIER anmelden können.

Autorin: Anna Várnai, Politics for Tomorrow / IDEO München

Projektkontakt: „Amt für unlösbare Aufgaben“

Matthias Burgbacher, Plan:Kooperativ, Heidelberg
Email: burgbacher@plankooperativ.de

Projektträger: Kompetenzzentrum Kultur- und Kreativwirtschaft des Bundes

Katja Armbruckner, Presse und Öffentlichkeitsarbeit, Kompetenzzentrum KKW, Berlin
Email: armbruckner@kreativ-bund.de

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Politics for Tomorrow is a non-partisan initiative fostering democratic innovation with and for the public sector based on human-centered learning formats.