“In der Innovationspolitik predigen wir seid mutig! Das müssen wir auch selber sein!”

Christin Skiera
Öffentliches Gestalten
5 min readSep 11, 2019

Die schwedische Innovationsagentur Vinnova ist international anerkannt für ihre modernen Ansätze zur Forschungs- und Innovationsförderung. Seit zehn Jahren widmet sich die Behörde verstärkt der Innovationsfähigkeit des öffentlichen Sektors. Politics for Tomorrow (P4T) sprach mit ihrem stellv. Generaldirektor, Joakim Appelquist, über den Staat als Motor für gesellschaftlichen Wandel und über die staatliche Behörde als Innovationszentrum.

P4T: Aus deutscher Sicht wird eine staatliche und gleichzeitig innovative Institution oft als Widerspruch wahrgenommen. Vinnova hingegen ist international als erfolgreicher Förderer von Innovation auch im Staatsapparat bekannt. Warum ist der öffentliche Sektor wichtig?

Joakim: Großer gesellschaftlicher Wandel kann nur mit dem öffentlichen Sektor an Bord gelingen. Auf der einen Seite braucht es den Staat in seiner Rolle als Einkäufer von Dienstleistungen und Produkten. Auf der anderen Seite, als Schöpfer von regulatorischen und rechtlichen Standards und Experimentierräumen!

“In der Innovationspolitik predigen wir seid mutig! Dass müssen wir auch in unserer Behörde sein und wagen auszuprobieren, zu experimentieren und zu lernen”, sagt der stellv. Generaldirektor von Vinnova Joakim Appelquist.

P4T: Wie meinst du das?

Joakim: Innovation im öffentlichen Sektor ist inzwischen ein sehr wichtiger Teil von Vinnovas Arbeitsfeld. Vor zwei Jahren beauftragte uns die schwedische Regierung uns sogenannte Politiklabore einzurichten. Dabei handelt es sich nicht um echte Labore, sondern eher um einen Methodenkoffer mit nutzerentrierten, kollaborativen und iterativen Ansätzen, mit dem wir öffentliche Organisationen unterstützen. In Workshops identifizieren die TeilnehmerInnen aus Politik und Verwaltung Probleme mit Regularien, in Arbeitsabläufen oder in Kooperationsprojekten. Unter Einbeziehung der betroffenen Einrichtungen finden wird dann Lösungen. Die Idee ist inspiriert vom dänischen Innovationslabor MindLab und ähnlichen staatlichen Innovationslaboren.

P4T: Kannst Du uns ein Beispiel für solch ein Politiklabor geben?

Joakim: In einem Fall standen die Vorschriften der schwedischen Finanzaufsichtsbehörde für FinTech — Start-ups im Mittelpunkt. In dem Bereich gab es viele Beschwerden, Auflagen waren missverständlich, Rollen unklar zugeteilt und die betroffenen Start-ups verunsichert den Kontakt zur Finanzaufsicht zu suchen. Nach drei Workshops mit der Finanzaufsichtsbehörde, mit den zuständigen Ministerien, mit Fin-Tech-Start-ups und ihren Branchenorganisationen wurde deutlich, dass es an Vertrauen, Kommunikation und Wissen über die Bedürfnisse der jeweils anderen Seite fehlte. Das Labor brachte alle Beteiligten ins Gespräch, nahm viel Frustration und brachte einen Lösungsvorschlag: Ein Innovationszentrum vermittelt nun und unterstützt betroffene Unternehmen beiden regulatorischen Prozessen.

P4T: Die schwedische Verfassung fixiert ein unabhängiges Verhältnis zwischen den Ministerien und den ihr nachgeordneten Behörden. Wie funktioniert die Beziehung zwischen Vinnova und dem ihr übergeordneten Ministerium für Unternehmertum und Innovation?

Joakim: Die schwedischen Behörden sind in der Tat sehr autonom. Von dem uns übergeordneten Ministeriumerhalten wir allgemeine Richtungsweisungen für unsere Programme. Außerdem bekommen wir jährlich eine Handvoll von konkreten Aufträgen von der Regierung. Aber zu einem Großteil obliegt uns die Entwicklung der Innovationspolitik selbst, und zu 100 Prozent die Programmentwicklung. Trotzdem führen wir einen engen Dialog, nicht nur mit dem uns übergeordneten Ministerium, sondern auch mit vielen anderen Ministerien.

P4T: Woher bekommt Vinnova ihre klugen Köpfe?

Joakim: Bisher war es sehr einfach, gute Leute zu rekrutieren. Es ist ein toller Job! Man erhält einen Überblick über das Innovationssystem und arbeitet an zentralen gesellschaftlichen Themen. In der Agentur kann man verschiedene Bereiche und somit Perspektiven kennen lernen, wie zum Beispiel technische oder soziale Innovation. Darüber hinaus kann man sich sogar mit europäischen Angelegenheiten befassen. Wir suchen Menschen, die besser das WER als das WAS beantworten können. Bei Vinnova arbeitet man mit so vielen verschiedenen Branchen zusammen, dass wir weniger technischen ExpertInnen suchen, sondern Menschen, die wissen wen in einer Branche oder einer Disziplin sie fragen müssen. Und dann sind natürlich unsere Arbeitsbedingungen attraktiv: Sport während der Arbeitszeit, hohe Vereinbarkeit mit dem Privatleben, Elternzeit und die Möglichkeit zum Home-Office.

P4T: In welchem Umfang spielen Kreativität und Flexibilität des Personals eine Rolle?

Joakim: Unser früheres Büro war ein Großraumbüro mit festen Arbeitsplätzen. Dies erschwerte uns den abteilungsübergreifenden Austausch, den zum Beispiel unsere Querschnittprogramme erfordern. Heute sitzen wir in einem offenen und bunten Büro mit unterschiedlichen Arbeitszonen: Ruhezonen, Besprechungsräumen, Lounge. Jeden Tag kann ich wählen, welche Zone zu meiner heutigen Aufgabe passt. Das macht uns kreativer. Obwohl ich gestehen muss, dass ich einer von denen bin, die sehr häufig doch am gleichen Platz sitzen. Aber jetzt habe ich zumindest die Wahl. Vinnova verspricht ein “kreatives und offenes Arbeitsklima”. Seit 2015 bietet das Stockholmer Büro dafür das passende Büro. Statt fester Arbeitsplätze gibt es in dem “aktivitätsbasierten” Büro Ruhezonen, eine offene Lounge und Workshop-Räume. Je nach Aufgabe wählen die Angestellten die passende Zone.

P4T: Alle zusammen in einem Raum?! Gibt es trotzdem eine Hierarchie?

Joakim: Gemäß der skandinavischen Tradition leben wir eine sehr flache Hierarchie. Alle ProgrammmanagerInnen bei Vinnova müssen viele Entscheidungen selbst treffen, auch über das Budget. Als Mitarbeiter der Internationalen Abteilung fiel mir schon früher als Referent auf: Meine europäischen KollegInnen und Kollegen mussten nach jeder Verhandlung in ihrer jeweiligen Hauptstadt grünes Licht für die ausgehandelten Vereinbarungen einholen, während ich selbst mandatiert war, zu entscheiden. Bei Vinnova tragen alle MitarbeiterInnen viel Verantwortung.

P4T: Was sind die Leitlinien eurer Personalpolitik?

Joakim: Unsere Personalentwicklung basiert auf den drei Säulen: Verantwortung, Mut und Respekt. In den jährlichen Mitarbeitergesprächen bilden Verantwortung, Mut und Respekt den Ausgangspunkt. Wie respektiert ein Referent seine Leistungsempfänger? Unsere Antragsteller brennen leidenschaftlich für ihre Ideen. Eine ablehnende Entscheidung über einen Förderantrag muss transparent sein und mit konstruktivem Feedback einhergehen, so dass beide Seiten etwas lernen können. Dabei geht es auch um den Respekt für die Arbeitszeit der antragstellenden Einrichtungen. Die dürfen wir nicht mit bürokratischen Antragsverfahren verschwenden. Außerdem sprechen wir bei VINNOVA viel von Selbstführung. Die verantwortlichen ProgrammmanagerInnen kennen sich in ihrem Bereich am besten aus. Deshalb sollten sie zuerst selbst versuchen, ein Problem zu lösen und erst dann die übergeordnete Geschäftsleitung einbeziehen. Und die dritte Säule: Mut! In der Innovationspolitik predigen wir seid mutig! Dass müssen wir auch in unserer Behörde sein und wagen auszuprobieren, zu experimentieren und zu lernen. Wenn wir uns das nicht trauen, gibt es keinen Grund, eine Agentur wie Vinnova zu haben.

P4T: Wie können wir die internen Innovationskapazitäten des Staates besser die Gesellschaft transportieren?

Joakim: Ich denke, es geht auch darum, Mut in der Regierung zu finden. Ich bin der festen Überzeugung, dass die beiden Welten des vorhersehbaren bürokratischen Staates und des innovativen, agilen öffentlichen Sektors miteinander verwoben werden können. Wir müssen genau hinschauen, wann es welchen Teil braucht! Bürokratie ist eine wirklich gute Sache. Manche Prozesse müssen langsam und kontinuierlich voranschreiten. Der Staat sollte nicht wie ein Start-up-Unternehmen Gesetze erlassen! Aber wir müssen besser verstehen, wann wir welche Rolle brauchen, wann die langsamen und wann die agilen, offenen Komponenten. Mit mehr Selbstreflexion können wir selbstbewusster sein und kleine Schritte aus der Komfortzone heraus machen. Das brauchen wir in Schweden!

P4T: Vielen Dank für Deine Zeit, Joakim!

Das Interview führten Caroline Paulick-Thiel und Christin Skiera von der Initiative Politics for Tomorrow, die sich für modernes Regierungs- und verwaltungshandeln einsetzt.

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Christin Skiera
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