Bürgerorientierte Verwaltung in Dänemark

Ministerin für öffentliche Innovationen stellt Bürger in den Mittelpunkt von Verwaltungshandeln

Christin Skiera
Öffentliches Gestalten
8 min readJun 7, 2018

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Bürokratieabbau erhält Ministerrang

In Dänemark nimmt die Förderung der öffentlichen Innovationskraft Ministerrang ein. Seit November 2016 gehört dem dänischen Kabinett von Ministerpräsidenten Lars Løkke Rasmussen ein Ministerposten für öffentliche Innovationen an. Dänische Regierungen bestehen auf Grund der häufigen Koalitionsregierungen meist aus mehr Ministerinnen und Ministern als in Deutschland. Am aktuellen Kabinettstisch nehmen neben Ministerpräsidenten Rasmussen neun MinisterInnen und zwölf Minister Platz. Trotzdem wird die Frage, wie der öffentlichen Sektor innovativer gelenkt und gestaltet werden kann, mit der Schaffung eines Ministerium erstmalig auf die oberste politische Ebene gehoben. Inne hat ihn Sophie Løhde. Die 33 Jährige war seit 2015 Ministerin für Gesundheit und Senioren, nachdem sie 8 Jahre für die Partei Venstre im dänischen Parlament saß.

Machtvolles Ministerium mit breiter Zuständigkeit

Løhdes Innovationsministerium gehört dem Finanzministerium an. In den skandinavischen Ländern teilen sich häufig zwei MinisterInnen ein Ministerium. Deshalb ist es im Fall der Innovationsministerin kein Zeichen von politischer Schwäche, denn sie übernahm umfangreiche Zuständigkeiten vom Finanzminister. Zu diesen gehören neben Verhandlungen von Tarifen, Gehältern und Renten auch das umfangreiche Querschnittsthema Digitalisierung. Vier große Behörden, wie z.B. die Modernisierungsbehörde (Moderniseringsstyrelsen) und die Digitalisierungsbehörde (Digitaliseringsstyrelsen), mit fast 1.000 Angestellten sind ihr nachgeordnet.

Öffentlich besser wirtschaften

Dänemark sieht sich ähnlich wie Deutschland vor großen demographischen Herausforderungen. Zuwanderung und eine wachsende Zahl älterer Menschen erfordern zukünftig höhere Ausgaben in den Sozialsystemen. Gleichzeitig führen komplexes Verwaltungshandeln und die fehlende organisationsüberschreitende Zusammenarbeit zwischen den Kommunen, den dänischen Regionen und der zentralstaatlichen Ebene zu Ineffizienzen. Wie die öffentliche Hand besser wirtschaften kann, ist daher eine Schlüsselfrage für das aktuelle Kabinett oder wie es die Ministerin selbst ausdrückt: „Wie kann der öffentliche Sektor länger mit weniger fahren, in einer Zeit, in der die Gelder knapp sind?”[1].

Inspirationsreise durch alle 98 Kommunen

Wo setzt man an, um den öffentlichen Sektor mit seinen 710.000 Angestellten zu modernisieren[2]? Um sich zu dieser Frage eine eigene Meinung zu bilden, besuchte die Ministerin zu Beginn ihrer Amtszeit die öffentlichen Verwaltungen.

Ministerin Sophie Løhde (2.v.r.) besucht Fredensborg (Foto: Kim Rasmussen)

Gemeinsam mit anderen MinisterInnen besichtigte sie Schulen, Pflegeheime, Krankenhäuser und Verwaltungen. Auf ihrer Inspirationsreise führte sie Gespräche mit fBeschäftigten aller 98 dänischen Gemeinden.

Menschliche und ökonomische Ressourcen besser einsetzen

Die Bilanz ihrer Reise zieht sie wie folgt: „Das Ergebnis ist, dass Aufgaben in einem zu hohen Grad in den silo-ähnlichen Verwaltungsstrukturen — weit weg von den eigentlichen Bedürfnissen der BürgerInnen und der Unternehmen. Für die BürgerInnen bedeutet dies häufig eine Reihe unkoordinierter, nicht zusammenhängender Termine auf Ämtern und Behörden. Oft sind es die BürgerInnen, die es am schwersten haben, die befasst sind mit den schwierigsten und am schwersten durchschaubaren Regel und Auflagen. Wir verschwenden daher zu viele Ressourcen in der öffentlichen Verwaltung — menschlich und ökonomisch.”[3]

So führe beispielsweise die Umschulung eines Schülers von der Hauptschule in der einen Kommune zum Gymnasium in der anderen zum unnötigen doppelten Verwaltungsaufwand einmal für die Eltern wie für die Verwaltungsangestellten. Noch komplizierter sei es im Bereich der Pflege oder der Betreuung von psychisch Kranken, da sich je nach Pflegestufe Regionen und Länder die Zuständigkeiten teilten.

Sammenhængsreform: Öffentlichen Sektor vom Bürger her denken

Abhilfe soll eine Ende 2017 vorgelegte Verwaltungsreform schaffen: Die „Zusammenhangsreform — Bürger zuerst — ein mehr zusammenhängender öffentlicher Sektor“ (Sammenhængsreform — Borgeren først — en mere sammenhængende offentlig sektor[4]) denkt und gestaltet den öffentlichen Sektor vom Bürger aus neu. Der Grundgedanke der Reform ist simpel, gelänge es das Zusammenspiel von Sektoren und Strukturen der öffentlichen Verwaltung an den gesellschaftlichen Bedarfen auszurichten statt an administrativen und juristischen Auflagen, stiegen wohlfahrtstaatliche Leistungen in Qualität und Quantität.

Mehr Kohärenz über Organisationsgrenzen hinweg

”Für mich ist es zentral, dass die Bedarfe der BürgerInnen im Zentrum stehen. Manche leben mit sehr komplexen Anforderungen, wie physischen oder psychische Problemen, Sucht oder langer Arbeitslosigkeit. Sie erfordern einen organisationsübergreifenden Einsatz der Verwaltung.” so die Ministerin für Gleichstellung[5], deren Ministerium neben dem Wirtschafts-, Innenministerium und dem Finanzministerium an der Reform beteiligt ist. Die Federführung obliegt im Ministerium für öffentliche Innovation.

Eine bessere Kohärenz für BürgerInnen und ArbeitnehmerInnen soll zum einen durch eine enge Zusammenarbeit zwischen den Kommunen, Regionen und der nationalen Ebene erreicht werden. Die Interessens- und Arbeitgeberverbände der dänischen Regionen und Kommunen wurden bereits bei der Formulierung der Reform eingebunden. Die Umsetzung begleiten sie durch ihr Mitwirken in einer Referenzgruppe. Dort vertreten sind außerdem Gewerkschaften und Interessensvertretungen einzelner Berufsgruppen, wie LehrerInnen oder des Pflegepersonals.

Die Verwaltungsreform setzt an zwei Punkten an: Erstens, die Innovationskompetenz der Beschäftigten des öffentlichen Sektors zu stärken. Zweitens, die silo-artigen Organisationsstrukturen der öffentlichen Verwaltung aufzubrechen und stärker an den gesellschaftlichen Bedürfnissen auszurichten. Die vier Säulen des Reformpakets stützen sich auf mehrere Programme.

Die vier Säulen der Zusammenhangsreform

Grafik: Die vier Säulen der Zusammenhangsreform, Christin Skiera, 2018

Mehr Zeit für Kernaufgaben

Mehr Zeit und Freiraum sollen die Angestellten des öffentlichen Sektors für ihre Kernaufgaben erhalten. Wirtschafts- und Innenminister Simon Emil Ammitzbøll erklärt:

“Wir wollen unter anderem Dokumentations- und Registrierungsauflagen verringern und mehr Platz für neue, einfache Lösungen der wohlfahrtstaatlichen Aufgaben schaffen.”[6]

Schwarmintelligenz für Bürokratieabbau

Die Ministerin rief im Oktober 2017 unter dem Slogan „Mit einer Regel“ BürgerInnen, Angestellte und Berufsverbände auf Vorschläge einzureichen, wie sie administrative Regeln vereinfachen und Dokumentationsanforderungen senken würden.

„Wir hören oft, dass der öffentliche Sektor viel zu bürokratisch sei, aber selten werden konkrete Stellschrauben benannt, wo wir ansetzen können. Wenn es uns gelingen soll Bürokratie abzubauen, brauchen wir daher konkrete Inputs von unseren BürgerInnen und Mitarbeitern, die wissen, wo der Schuh drückt.”, erklärt Løhde[7].

Eine Woche vor Annahmeschluss lagen über 800 Vorschläge vor. Darunter Ideen zur Vereinfachung von Verwaltungsvorschriften bis hin zur Weiterentwicklung des Schulwesens. Derzeit prüfen die zuständigen Ministerien gemeinsam mit Regionen und Kommunen ihre Umsetzbarkeit. Für ausgewählte Bereiche der wohlfahrtstaatlichen Vorsorge werden Arbeitsgruppen eingerichtet.

Kommunen experimentieren mit neuen Regeln

Innovationen im öffentlichen Sektor treiben zu 92% die öffentlich Angestellten selbst voran, so das Center für öffentliche Innovationen in seinem aktuellen Innovationsbarometer[8]. Die Regierung will ihnen mehr Raum und Zeit zum Experimentieren geben. Sie sollen die Möglichkeit erhalten vereinfachte Abläufe auszuprobieren, neue Dienstleistungen zu entwickeln und bestehende Regeln kritischer zu hinterfragen. Außerdem sollen Städte und Gemeinden zunehmend mehr Wahlfreiheiten erhalten.

Wirtschafts- und Innenminister Simon Emil Ammitzbøll erklärt: „Wir werden auch weiterhin auf lokaler Ebene mehr Freiheiten eröffnen — sodass Kommunen und Bürger zu einem höheren Grad Lösungen wählen können, die für sie wichtig sind”[9]

Zur englischen Kurzfassung des Innovationsbarometers. Bild: Center for Offentlig Innovation

Ein bewährtes Instrument dafür sind in Dänemark die sogenannten „Freigemeinden” (frikommune[10]). In den kommunalen Innovationslaboren entwickeln und testen ausgewählte Kommunen neue Prozesse und Produkte, wie digitale Anwendungen in der Altenpflege. Das Programm „Freigemeinden” startete bereits 2016 mit 44 Kommunen. Løhde setzt es nun im Rahmen der Verwaltungsreform fort. 2018 startet der dritte Durchgang u.a. im Bereich Wohnungsbau, Soziales und Integration.

Mehr Führen, weniger Steuern

Statt einer detaillierten Steuerung an Hand von Prozessen und Auflagen sollte sich die Verwaltung verstärkt an gesellschaftlichen Zielen ausrichten. Nach Ansicht der dänischen Regierung müsse dazu eine mehr ergebnisorientierte und motivierende Personalführung geschaffen werden. Wichtig sei, dass leitende Angestellte eine offene Kultur befördern, die die Beschäftigten auffordere, aktiv mitzugestalten. Erneuern und Hinterfragen müsse als Teil der täglichen Arbeit verstanden werden.

Doch wie gelingt der Wandel einer Führungskultur? An Hand welcher Kompetenzprofile soll zukünftig eingestellt werden? Welche Fähigkeiten sollen bei Weiterqualifizierungen des Personals vermittelt werden? „[Um Antworten auf diese Fragen zu erhalten], richten wir eine Kommission zur Führung im öffentlichen Sektor ein, die ein Fundament für eine bessere, moderne und partizipative sowie vertrauensvolle Führung im Öffentlichen schaffen soll. Dies tun wir auch, um für ein wenig mehr Austausch zwischen den privaten und öffentlichen Sektoren zu sorgen„, so Ministerpräsident Løkke bei der Pressekonferenz.[11]

Führen, Steuern, Leiten. Bild: C Skiera

Das bestehende „Programm für Führungskräfte im Staat“ der dänischen Modernisierungsbehörde[12] ist ebenfalls Teil der Verwaltungsreform. Es richtet sich an öffentliches Führungspersonal auf allen drei Organisationsebenen. Das Programm fördert die individuelle als auch die organisatorische Innovationskapazität. Im Mittelpunkt steht die Fähigkeit Organisation und Aufgaben ganzheitlich zu betrachten und themen- und organisationsübergreifende Lösungsansätze zu entwickeln. Die Angebote zur Handlungs- und Reflexionskraft betrachten auch persönliche Stärken und Schwächen, um individuelle Führungskonzepte zu erarbeiten. Neben Kurse bietet das Programm auch regelmäßige Netzwerktreffen.

Öffentliche Vergabe

Die Reform stellt auch die öffentliche Vergabe in den Fokus. Der dänische öffentliche Sektor kauft jährlich für 300 Milliarden dänische Kronen ein. Diese Ausgaben, effektiv und vorausschauend eingesetzt, könnten eine große Hebewirkung für die Innovationskraft des öffentlichen Sektors entfalten. Eine Einschätzung, die auch von Løhde geteilt wird. Sie wünscht, dass zukünftige Vergabeverfahren stärker gesellschaftliche Anforderungen statt regulatorische Auflagen in den Blick nehmen.

Arbeiten wo es am schönsten ist: Solarbetriebene Parkbank mit Steckdosen. Bild: C. Skiera

Pilotprojekte für gemeinsame Vergabeverfahren mehrerer Kommunen und E-Handel sollen angestoßen werden. Auch die Potenziale von Robotertechnologie und künstlicher Intelligenz seien zu überprüfen. Lernen möchte man dabei von erfolgreichen Unternehmen und ihren Innovationsmodellen.

Partizipativer Reformprozess: Offener Dialog

Der Reformprozess stützte sich von Beginn an auf einen engen Dialog mit BürgerInnen, VertreterInnen der dänischen Kommunen und der Regionen. Auf die Inspirationstour der Innovationsministerin und ihrer Kampagne „Mit einer Regel“ folgen nun 2018 Dialogtreffen mit Stakeholder. Außerdem sind Wettbewerbe, sogenannte „Challenge Panels“, geplant, auf denen wie auf Hackathons Angehörige des öffentlichen und privaten Sektors, mit ihren Ideen zur Lösungen der Herausforderungen im öffentlichen Sektors gegeneinander antreten.

Ambitionierter und mutiger Paradigmenwechsel

Die Zusammenhangsreform stellt ein ambitioniertes Reformprojekt dar, wie die Ministerin selbst zugibt. Nun gilt es sie mutig umzusetzen. Vielversprechend dabei ist, dass existierende Programme unter dem Dach der Reform zusammengeführt wurden. So kann auf bestehende Instrumente und Kompetenzen aufgebaut werden. Fast jede europäische Regierung möchte den Staat verschlanken und (digital) effizienter gestalten. Dänemarks Ansatz ist aus drei Gründen couragiert und läutet einen Paradigmenwechsel ein:

• Erstens, Bürger — zuerst!

Bürgerbeteiligung wird häufig postuliert, geht aber nicht immer über Akzeptanzbeschaffung hinaus. Öffentliche Verwaltung entlang gesellschaftlicher Bedarfe zu strukturieren, markiert einen mutigen Schritt zur dialog- und bürger-orientierten Verwaltung.

•• Zweitens, Reform in breiter Allianz und Dialog planen und umsetzen.

Organisationsstrukturen lassen sich top-down neu schaffen, Organisationskulturen nicht. Mit der Einbindung von Ressorts, Regionen und Kommunen sowie Interessenvertretern schuf die Ministerin eine schlagkräftige Allianz für ihr Anliegen.

••• Drittens, Verwaltungsmodernisierung zur ChefInnensache.

Mit der Einrichtung eines Ministeriums mit umfangreichen Zuständigkeiten verankert Dänemark Verwaltungsmodernisierung auf höchster politischer Ebene.

Der Artikel ist Ergebnis einer Forschungsreise zur öffentlichen Innovationskraft in Skandinavien und im Ostseeraum.

Mai 2018, Christin Skiera / Politics for Tomorrow, Forum Northern Politics

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Quellen:

[1] https://www.information.dk/telegram/2016/11/loehde-faa-offentlige-koere-laengere-paa-literen

[2] Denmark Statistics

[3] https://www.regeringen.dk/nyheder/regeringen-vil-sikre-en-mere-sammenhaengende-offentlig-sektor/

[4] https://www.regeringen.dk/media/3260/sammenhaengsreform_borgeren-foerst-en-mere-sammenhaengende-offentlig-sektor.pdf

[5] http://www.denoffentlige.dk/her-er-de-44-frikommuner-i-otte-netvaerk

[6] https://www.regeringen.dk/nyheder/regeringen-vil-sikre-en-mere-sammenhaengende-offentlig-sektor/

[7] https://www.fm.dk/nyheder/pressemeddelelser/2018/01/hundredevis-af-forslag-til-regelforenklinger

[8] http://innovationsbarometer.coi.dk/brug-medarbejdernes-ideer/medarbejderne-spiller-en-n%C3%B8glerolle-i-offentlig-innovation/

[9] https://www.regeringen.dk/nyheder/regeringen-vil-sikre-en-mere-sammenhaengende-offentlig-sektor/

[10] Vgl. http://www.denoffentlige.dk/her-er-de-44-frikommuner-i-otte-netvaerk

[11] https://www.dr.dk/nyheder/politik/sophie-loehde-overtager-flere-af-finansministerens-opgaver

[12] https://modst.dk/ledelse/ledelsesudvikling/

Alle Quellen abgerufen am 15.5.2018.

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