Besinnlichkeit und digitale Besinnung

42 Wolfsburg/Berlin
42 Coding Schools Germany
3 min readDec 22, 2020

Wir erwecken unsere Initiative aus dem Jahr 2020 wieder zum Leben, diesmal aber so richtig. Alle Jahre wieder…

Lasst uns während der Festtage selbst beobachten: Wie nutzen wir digitale Systeme? Und wie sollten wir sie nutzen, damit Technologie uns hilft, ein gutes Leben zu führen? Dabei essen wir Plätzchen. Und im neuen Jahr reden wir dann alle Tacheles.

Eine Weihnachtsreflexion von Anna Kaiser und Max Senges

Warum ist Weihnachten für viele von uns so wichtig? Auch wenn wir nicht religiös sind. Wenn wir unsere Familien doch auch an anderen Tagen im Jahr sehen und intensiv Zeit mit ihnen verbringen können. Ja warum ist Weihnachten selbst vielen unserer Freundinnen und Freunde wichtig, die keine christliche Wurzeln haben, als Atheisten die Kirche sonst rundweg ablehnen oder als Agnostiker die Geschichte von der Geburt Jesu für mindestens inkonsistent halten?

Auch uns, Anna und Max, hat die Aussicht auf ein Weihnachten mit Zoom-Schalte zu den Eltern und Großeltern unter dem Weihnachtsbaum zutiefst verstört. Zugleich spüren wir, dass diese Verstörung uns nach einem durchgängig verstörenden Corona-Jahr produktiv auf eine Frage zurückwirft, die uns als Akteur:innen auf dem Spielfeld digitaler Veränderung ohnehin ständig umtreibt: Welche Rolle kann Technologie für ein gutes Leben spielen?

Die gesundheitspolitisch angeordnete Sozialtechnik des “Social Distancing” hat uns seit 2020 schmerzlich spüren lassen, wie emotional wertvoll und ökonomisch produktiv die physische Nähe selbst in Arbeitsbeziehungen ist. Zugleich merkten auch wir, selbstbewusste digitale Vorreiter:innen, mit welcher Selbstverständlichkeit und Effizienz sich noch mehr Aufgaben als ohnehin vermutet mit digitalen Kollaborationswerkzeugen erledigen lassen, zeitversetzt und ortsunabhängig und mitunter auch emotional befreiend von den Zwängen und Ritualen der Bürokultur. Martin Heideggers Reflexion der Unmittelbarkeit der Telekommunikation bei gleichzeitiger Unerreichbarkeit wurde einem ultimativen Härtetest unterzogen [1]. Die vorläufige Bilanz, wie sollte es anders sein, empfinden wir als so ambivalent wie Giorgios Angambens Bild von den “unheimlichen und einladenden Prothesen” [2], die Digitalisierung und angeblich intelligente Maschinen uns Menschen bieten.

In diesem Weihnachten, so unser Eindruck, kondensieren sich alle Herausforderungen und Möglichkeiten, Zielkonflikte und Ambivalenzen, kreativen Nutzungspotenziale und Rebound-Effekte bezogen auf den sozial intelligenten Umgang mit digitaler Technologie. Wir werden mit weniger Menschen gemeinsam feiern. Vielleicht werden wir daher umso intensiver spüren, welche Rolle Gemeinschaftsfeste in einem guten Leben spielen.

Wir malen uns Szenarien aus, wie Weihnachten mit Technologie dieses Jahr bei uns und in vielen Familien ausfallen könnte:

  • Szenario 1: Wir schieben uns alle die neuesten Electronic Devices als Geschenke rüber und jeder daddelt den Rest des Abends daran rum.
  • Szenario 2: Wir schieben uns alle die neuesten Electronic Devices als Geschenke rüber und nutzen sie, um den Rest des Abends gemeinsam etwas damit zu machen und die Großeltern vom anderen Ende der Republik dazu zu schalten.
  • Szenario 3: Wir schieben uns alle die neuesten Electronic Devices als Geschenke rüber, lassen sie aber für einen Abend unter dem Baum ruhen und konzentrieren uns auf die gemeinsame Zeit mit denen, die da sind.
  • Szenario 4: Wir schenken uns bewusst nix außer der gemeinsamen Auszeit.

Und während wir noch über diese beraterige Corona-und-Technik-Weihnachtsmatrix ein wenig schmunzeln, kehren Wunsch und Vorsatz zurück, dass wir die Besinnlichkeit dieses so anderen Weihnachtsfests nutzen wollen, um uns auf die Urfrage der Philosophie nach dem guten Leben zu besinnen [3]. Und in der Folge möchten wir Euch gerne folgendes Angebot unterbreiten:

Wir alle beobachten uns dieses Weihnachten selbst und genau, wie wir Technologie nutzen. Ob und wie es uns gelingt, wenigstens für wenige Tage den Prokrastinierungsfallen auf Insta, Twitter und LinkedIn zu entkommen. Ob und wie uns das soziale Wesen der Vernetzungsmaschinen nützt, unserer sozialen Natur mithilfe digitaler Technologie näher zu kommen; ganz im Sinne von Ursula Goodenough und ihrer so eindrücklichen Beobachtungen an den Schnittstellen von Evolution und Biologie, Kultur und Religion.

Über unsere Eindrücke und Erfahrungen wollen wir dann im nächsten Jahr mit Euch diskutieren. Wir wollen mit Euch Antworten finden auf diese zwei Fragen: Wie macht uns Technologie zu sozialeren Menschen? Wie ermöglicht uns das Digitale ein besseres Leben? Die Suche wird auf sozialen Medien stattfinden, wo sonst, geankert hier auf der Medium-Seite von 42 Wolfsburg.

Wir freuen uns sehr darauf. Bis dahin wünschen wir Euch ein wunderbares, inniges Fest, mit Zeit zur Kontemplation über das gute Leben mit und ohne Technologie, über intelligente maschinelle Assistenz und Ausschalter. Und wir freuen uns nach Silvester auf eine lebhafte Debatte mit Euch, wie wir das gute Leben 2022 gemeinsam mit intellektueller Kraft und technischer Kreativität angehen können.

[1] Martin Heidegger: The technology and the turn. First edition 1953, new edition Klett-Cotta, Stuttgart 2002.

[2] Giorgio Agamben: “State of exception (Homo sacer, II, 1)” (2003). Engl. Übersetzung: State of Exception, Chicago University Press, Chicago, 2005.

[3] For the original question of philosophy see Planton’s “Kriton”: https://de.wikipedia.org/wiki/Kriton German translation according to Schleiermacher: https://www.textlog.de/platon-kriton.html

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