Das Gebet der Einfachheit
Die Kartäuser haben keine eigene Methode der Betrachtung und des innerlichen Gebetes entwickelt. Ihre Gebetsweise wird nachdrücklich von ihrer Lebensweise her bestimmt, ganz besonders von dem Leben des Schweigens und der Einsamkeit, worin jeder Kartäuser der Regel gemäß fortwährend zu verharren hat. Dadurch gelangt er sicher zum Gebet und der Einfachheit. Diese Weise zu beten ist der Höhepunkt, zudem eine Seele mit Hilfe der gewöhnlichen Gnade gelangen kann (modo humano). Man nennt diese Weise zu beten auch erworbene Beschauung, zum Unterschied von der eingegossenen Beschauung, die ein reines Geschenk Gottes ist und unter dem besonderen Einfluss des Heiligen Geistes steht (modo divino).
Das will jedoch nicht sagen dass ein Kartäuser mit dem Ordenseintritt sofort zu diesem Grade des einfachen Gebetes gelangt. Auch er muss wie jeder andere Gottsucher sich erst mehr oder weniger lange in der Betrachtung und im affektiven Gebet üben. Nur helfen ihm das Schweigen und die Einsamkeit und dann auch die lange nächtlichen Psalmodie dabei, leichter und schneller zu diesem Gebet der Einfachheit zu gelangen.
Versuchen wir eine kurze Beschreibung dieses innerlichen Gebetes. Will Gott einen Menschen tiefer in seine göttliche Liebe hineinnehmen, erweckt er in ihm das Verlangen, sich von Sünden und Unvollkommenheiten zu reinigen, sein Beten zu vereinfachen und sich im Grunde seiner Seele zu sammeln. Dann führt er ihn zu einem viel reineren und innigeren Gebet, das in einem einfachen Liebesblick auf Gott besteht. Er verlässt jetzt allmählich die Erwägungen und Gespräche mit sich selbst und mit Gott und begnügt sich mit einem liebevollen Blick der Seele auf den Geliebten. Je länger er in diesem Zustand verbleiben kann, umso besser ist es; denn dann kann der Heilige Geist an ihm sein Werk vollbringen. Bei diesem Gebet tut die Seele scheinbar wenig und erhält doch viel; denn sie hält sich an die Quelle des Lichtes und der Liebe und trinkt in langen Zügen das glückliche Leben. So nähert sie sich immer mehr Gott, ihrem einzigen und höchsten Gut, ihrem ersten Anfang und letzten Ziel.
Wie soll man diese Weise zu beten konkret verwirklichen? Weil man auch beim Beten nicht mit der Tür ins Haus fallen kann, bedarf es je nach unserer Verfassung entsprechend längeren oder kürzeren Sammlung und Einkehr. Mit wenigen, langsam gesprochenen Worten kann man seinen vorbehaltlosen Glauben an Gott seine unerschütterliche Hoffnung auf ihn und sein Verlangen, ihn aus ganzem Herzen lieben zu wollen, bekennen. Oder man lese einige Zeilen eines geistlichen Buches, am besten nicht mehr als eine halbe Seite. Es muss freilich ein Buch sein, das mich persönlich wirklich anspricht, und das sind nur wenige. Oder man spreche einige Male: mein Gott ich liebe dich! (seien Sie versichert: lieben wollen ist lieben. Spürbare Gefühle braucht es dazu nicht).
Auf diese oder ähnliche Weise wird mein Inneres auf Gott, auf Jesus hin, ausgerichtet. Jetzt soll ich, wie ein kleines Kind auf seine Mutter schaut, ruhig um mit einem liebevollen wenn auch dunklen Blick auf Gott schauen. Natürlich kann man Gott nicht sehen. Aber ich weiß ihn gegenwärtig. Manchmal hilft es, von Zeit zu Zeit zu sprechen: mein Gott oder Jesus ich liebe dich. Zuweilen wird mein liebendes Schauen auf Gott stärker dass es mich fast überwältigt.
Mag diese liebende Hinordnung auf Gott anfangs nur kurze Augenblicke gelingen, durch stete Übung wird man immer länger zu beten können. Normalerweise eine halbe Stunde etwas so zu beten, wird als die oben erwähnte Stufe des Gebetes der Einfachheit bezeichnet es gibt ja immer im geistlichen Leben mehrere Stufen immer tieferer Vereinigung mit Gott.
Wer so beten kann, soll in stiller Ruhe auf Gott oder auf Jesus hin ausgerichtet bleiben und sich nicht ängstigen. Während dieser Zeit soll man keine Betrachtung, keine Erwägung mehr machen. Der Verstand ist ja durch einen einfachen, inneren Blick auf Gott, auf Jesus hin ausgerichtet, und auch der Wille bleibt nicht untätig: er liebt. Es ist dies eine rein geistige Liebe, so dass die Seele sich manchmal fragt, was sie denn eigentlich liebt, und doch liebt sie Gott allein.
Im Anfang besonders meint man, viel zu verlieren, wenn man nicht ständig in Tätigkeit ist. Die innere Erfahrung jedoch lehrt bald, dass man im Gegenteil viel gewinnt. Die Erkenntnis Gottes wird größer, ohne dass man im Augenblick es merkt. Und je einfacher und klarer diese Gotteserkenntnis ist, umso tiefer und inniger wird auch die Liebe, umso aufrichtiger die gute Meinung, der Abscheu vor der Sünde, die Sammlung während des Tages, die Selbstlosigkeit und die Demut.
Weil nach dem Neuen Testament das christliche Leben wesentlich ein Leben der Liebe ist oder sein sollte, mache man es sich zur Gewohnheit alles in einem Geist der Ruhe und des Friedens aus Liebe zu Gott zu tun. In allen Ereignissen während des Tages, selbst den kleinsten soll man den Willen des himmlischen Vaters sehen. Dadurch wird unser ganzes Leben einfach und einheitlich, was Voraussetzung jeder wahren Heiligkeit ist.
Man könnte nun fragen ob die Kartäuser nur auf ihr eigenes Heil bedacht sind und kein Auge und Ohr haben für die Nöte ihrer Mitmenschen. Die Statuten der Kartäuser geben darauf die Antwort: mit der Wahl des verborgenen Lebens erfüllen wir eine Aufgabe in der Kirche, wo das Sichtbare auf das Unsichtbare, die Tätigkeit auf die Beschauung hin geordnet ist. Wenn wir Gott wirklich anhängen, verschließen wir uns nicht in uns selbst. Im Gegenteil: unser Geist wird offen und unser Herz wird weit. Durch die äußere Trennung werden wir eins mit allem, damit wir stellvertretend für alle vor dem lebendigen Gott stehen. Diese Absicht zielt, soweit wir als Menschen dazu in der Lage sind, unmittelbar und ununterbrochen auf Gott (unserem aller Endziel, dadurch allein schon üben wir nach der Mahnung des Zweiten Vatikanischen Konzil ein Zeichen- eine Hinweisfunktion aus). Sie verbindet uns aber auch in besonderer Weise mit Maria der seligen Jungfrau, die wir die einzigartige Mutter der Kartäuser zu nennen pflegen (aus den Kartäuser Statuten). Der Wert des rein beschaulichen Lebens kann auf jeden Fall nur im Glauben erfasst werden.
Wenn die Kartäuser auch keine eigentliche Abhandlung über das oben beschriebene Innere Gebet verfasst haben, so kann man doch aus ihren Schriften ersehen, dass diese Gebetsweise eine logische Folge ihres Lebens ist. Das Schweigen und Einsamkeit eine notwendige Bedingung dafür sind, um auf diesem Weg und durch diese Gebetsweis zur Vereinigung mit Gott zu gelangen.
So schreibt der heilige Bruno (1035 – 1101) an seinem Freund Radulfus Viridis: Welchen Gewinn und göttlichen Genuss die Einsamkeit und das Schweigen denen bereitet, die sie lieben, das wissen nur die, welche es verkostet haben. Denn hier können mutige Männer, so oft Sie es wünschen, bei sich Einkehr halten und verweilen. Hier sucht man voller Eifer jenes geistige Auge dessen Lächeln den Bräutigam zu Liebe verwundet und dessen Reinheit Gott schaut. Hier lebt man in einer Muse voller Geschäftigkeit und verharrt in einer Tätigkeit voller Ruhe. Hier verleiht Gott seinen Kämpfern den begehrten Lohn für die Kampfesmühe: in Frieden den die Welt nicht kennt und die Freude im Heiligen Geist.
Guigo I. (1083 – 1136) war der fünfte Prior der Großen Kartause und Verfasser der ersten Statuten. Er schreibt zu unserem Thema: Jesus unser Herr und Gott, dessen Tugend in der Verborgenheit keine Stütze finden und in der Öffentlichkeit keinen Schaden nehmen konnte, wollte uns durch sein Beispiel lehren. Deshalb wurde er bevor er anfing zu predigen und Wunder zu wirken durch Versuchungen und Fasten in der Wüste gleichsam auf die Probe gestellt. Nach dem biblischen Bericht verließ er die Schar seiner Jünger und stieg allein auf den Berg, um zu beten. Und als schon sein Leiden drohend bevorstand, verließ er die Apostel, um allein zu beten. Besonders durch dieses Beispiel hat er uns zu verstehen geben wollen, welchen Gewinn das Gebet aus der Einsamkeit zieht, wollt ihr doch beim Gebet durch niemanden, nicht einmal durch seine Apostel gestört werden.
Hören wir noch einen zeitgenössischen Kartäuser: „In der unkörperlichen geistigen Welt ist Einfachheit zugleich Vollkommenheit. Das geistliche Leben geht denselben Weg. Die verschiedenen Übungen der Frömmigkeit, in denen sich die Seelenkräfte am Anfang des Gebetslebens mehr oder weniger zerstreuten, bekommen einen einzigen Sinn. Auch hier heißt es: aus der Vielfalt zur Einheit! Die religiösen Übungen werden zu einem einzigen Akt, der mehr empfangen als hervorgebracht wird. Er besteht darin: Gott in uns sein zu lassen. Man kann ihn heißen: Liebe, Glaube, Vertrauen, Anbetung, Dank oder Sühne. All diese Worte oder Begriffe werden gleich bedeutend und scheinen ineinander überzugehen im Glühen des Herzens, in welchem das Leben der göttlichen Liebe leuchtet.