Der Deal mit der Angst

von Pfefferspray, Schreckschusswaffen und den dunklen Straßen auf dem Heimweg

Brigitta Buzinszki
8 min readNov 3, 2016

“Und? kommst du mit?”
Meine Schwester schob mir die Anzeige unter die Nase:
Einführungskurs: Selbstverteidigung für Frauen

Ein Selbstverteidigungskurs? Ich hatte nie zuvor daran gedacht einen zu besuchen.
Nicht in Amerika, nicht in Tübingen; auch nicht in der großen Stadt Kyôto— meine wunderbare Körpergröße sowie meine selbstbewusste Ausstrahlung hatten es bis dahin stets geschafft unwillkommene Fremde in die Flucht zu schlagen.

Andererseits gab es diese dunklen Feldwege, die mir zum Heimweg wurden, sobald ich den Nachtbus verpasste; dabei hatten sich des Öfteren torkelnde Herren mit mir angelegt — unsere Definitionen von einem “netten Kommentar” gingen nämlich meist weit auseinander; und irgendjemand musste sie ja zurechtweisen.

“Nein Danke”

Ich schob die Zeitung von mir.

“Gut, ich gehe aber sicher hin”, erwiderte meine Schwester mit glitzernden Augen. Sie sah sich bereits als der nächste Jackie Chan ihren Übungspartner auf die Matte befördern.

Ich segnete diesen Ehrgeiz aus demselben Grund ab, aus dem ich zuvor das erste Mal in 23 Jahren überlegt hatte mich davon anstecken zu lassen; es lag die subtile Angst in der Luft. Diese Angst, die keine Ratio kennt— und die man weder kommen noch gehen sieht.

Wie, du trägst kein Pfefferspray?

Meine Heimatstadt war mehr als behütet — und mein jetziger Wohnort wiegt mich meist in der selben Sicherheit.

Logisch gesehen, gibt es überall auf der Welt Menschen, die einem schlechtes wollen — Mörder, Vergewaltiger; solch kranke Seelen; das Böse ist nicht ortsgebunden.

Dennoch war ich überrascht, als Sarah* vor vier Jahren — wir damals frische Erstsemelstler in einer neuen Stadt — mit folgenden Worten in ihre Wohnung zurückhechtete:

“Ich habe mein Pfefferspray vergessen!”

“Wozu das Pfefferspray?”, fragte ich sie kurze Zeit später, in der Abenddämmerung. Wir wollten uns mit Freunden zum Trinken treffen.

“Na ja, damit fühle ich mich sicher auf der Straße. Wie wehrst du dich denn, wenn dir jemand dumm kommt?”

Tja, wie genau? Ich schien kein leichtes oder offensichtliches Opfer; bis dahin war mir das selten passiert.

“Meistens bleibe ich ruhig und rede auf die Leute ein”, erwiderte ich.

Story-Time

Einmal packte mich ein junger Mann am Arm — ich war auf dem Heimweg vom Stammtisch letzten Winter.

“Wollen wir uns nicht näher kennenlernen?”

Sofort wusste ich, dass ich das bestimmt nicht wollte. Aber der Junge hatte derart glasige Augen, dass die Antwort “Nein danke” nicht mal die kleinste Synapse gereizt hätte.

Ich musste an tiefgreifende Emotionen appellieren. Während er mich beiseite zerrte, schluckte ich die Panik, legte ihm eine Hand auf den Arm und drückte stark genug zu, dass er kurz innehielt.

“Was würde deine Mama hierzu sagen?”

Nichts treibt die Libido eines angetrunkenen Studenten schneller in den Keller, als das Bild der eigenen Mutter. Der Junge ließ von mir ab und setzte sich schwerfällig auf eine Treppenstufe vor der Stiftskirche.

Leider haftet meine Taktik nur bei harmlosen Fällen — und die passenden Umstände sowie eine ordentliche Portion Glück schaden auch nie.

Manchmal, so ganz selten, denke ich daran, was wohl passieren würde, wenn ich einmal jemanden nicht mit Worten entwaffnen könnte; und dann bin ich plötzlich gelähmt.

Schaut man sich die Zahlen an, welche die FAZ in Februar 2016 zum allgemeinen Sicherheitsgefühl im Land veröffentlichte, ist eindeutig zu sehen, dass die oben beschriebene Angst sich weiteren Terrain erobert.

Von 45%, die noch in 2014 fürchteten, Opfer eines Verbrechens zu werden, sind es 2016 inzwischen 51%.

Das Interesse an Selbstverteidigungsmitteln wächst dazu parallel; die Sehnsucht nach Sicherheit ist groß.

Ein Pfefferspray also zur Notwehr für die Momente, in denen es tatsächlich jemand blutig ernst meint?

Ich ging auf Antwortsuche, um meine Lähmung aufzulösen und ein Gegenmittel für die Angst zu finden.

Von Sarah inspiriert, schaute ich mir die Zusammensetzung und Wirkung von Pfefferspray an.

Es beinhaltet den Wirkstoff “Oleoresin Capscicum”, kurz OC — ein Konzentrat, welches aus dem Fruchtfleisch von scharfen Chilischoten gewonnen wird.

“Chili”, dachte ich, “Das klingt nach einem natürlichen Wirkstoff. Vielleicht sind die Konsequenzen dadurch nicht zu ernst”

Was kann Mutter Natur uns schon Schlimmes antun? Wie sich herausstellte, wohl vieles. Die Wirkung eines direkten Treffers ins Gesicht sieht folgender Maßen aus:

Augen: Schmerzen, Rötung, Schwellung der Bindehaut, Tränenfluss und eine Blindheit, die bis zu 30 Minuten anhalten kann.

Atmung: Hustenreiz, Atemnot bis hin zu Atemkrämpfen — es heißt, Asthmatiker könnten auch “heftiger” reagieren;

was bedeutet, dass sie unter Umständen gar keine Luft bekommen.

Für jemanden wie mich, die Aktion der Reaktion vorzieht, steckt definitiv zu viel Verantwortung komprimiert in einer Sprühdose; die Schäden sind nicht zu unterschätzen — ein Mitführen mit der festen Absicht es am Menschen anzuwenden ist deswegen illegal; laut Etikett ist lediglich die Nutzung am Tier vorgesehen.

Diese Einschränkung hebt sich nur in einer Notwehrsituation auf.

Ich will niemanden verletzen, weil ich in der Nacht eine Berührung falsch verstehe — wobei mich ungebeten eigentlich niemand anfassen sollte. Gern geschehen fremder Mann, dass ich deine Gesundheit meinem Wohlbefinden trotz allem vorziehe. Frage mich bitte niemand warum.

Fragen wir lieber, wie man also sonst an die Sicherheit herankommen kann!

Gehst du auch zum Schießstand?

Am 30. Oktober dieses Jahres veröffentlichte der SPIEGEL ein Video über die Nutzung von Schreckschusspistolen.

Sie sehen aus wie richtige Waffen, sie wiegen so viel wie richtige Waffen und haben einen ordentlichen Rückstoß.

Bis zu dem Punkt war mir der Begriff der Schreckschusswaffe nicht geläufig — inzwischen weiß ich, dass für Kauf und Besitz einer solchen Waffe keine Papiere nötig sind; und dass das Abfeuern aus nächster Nähe tödlich sein kann.

Will man die Waffe auf der Straße mit sich tragen, reicht der Erwerb des kleinen Waffenscheins, für den lediglich die körperliche wie geistige Eignung nachgewiesen werden müssen.

Die Zahlen

Ich war furchtbar interessiert an der plötzlichen Popularität der Schreckschusswaffe. Laut SPIEGEL begann — wohl als Reaktion auf die Kölner Silversternacht — ein sprunghafter Anstieg des Waffenscheinerwerbs dieses Jahr.

Zum Vergleich: Januar 2015 bis Ende Dezember 2015 gab es einen Zuwachs von rund 264.000 auf rund 301.000 ausgestellten kleinen Waffenscheinen im Land.

Januar 2016 bis September 2016 erfolgte ein Sprung von 301.000 auf 440.000 — Tendenz steigend.

Das sind ein totaler Anstieg letztes Jahr von 37.000 zu einem Anstieg von 139.000 dieses Jahr, die Zahlen für Oktober bis Dezember noch nicht mit einberechnet.

Am häufigsten sind die kleinen Waffenscheine in NRW, Bayern, Hessen und Baden-Württemberg. Vergleichsweise wenige interessiert der Erwerb in Bremen, Mecklenburg-Vorpommern und Thüringen.

Aus diesen Angaben lässt sich natürlich nicht folgern, dass jeder neue Waffenschein auch eine neu erworbene Waffe mit einschließt.

Der Gedanke liegt jedoch nahe.

Wenn sich solch eine Zahl für die Schreckschusspistole entscheidet, überlegte ich, wird wohl etwas am Gebrauch dran sein.

Viel mehr aber, lockt die Idee der Sicherheit in direkter Griffnähe.

Phantasie vs Realität

Im Kopf spielte sich sogleich die Szene mit dem betrunkenen Jungen ab — diesmal mit mir in der Hauptrolle der Jane Bond.

Kaum, dass er mich anfasst, zücke ich meine Waffe, schaue ihm tief in die glasigen Augen, die nun groß und rund auf den Abzug staren.

“Ich glaube, das ist der Moment, in dem du mit eingezogenem Schwanz davonschleichst, mein Guter”

Die Macht, die Furchtlosigkeit — ich schmecke das alles auf der Zunge und das Gefühl dabei ist verdammt gut.

Jetzt erst fällt mir auf, wie bedrückend die dunklen Straßen in der Nacht sich in die Weite ziehen; wie schwierig es ist, das mulmige Gefühl nach jedem Schritt abzuschütteln.

Und wie vergleichsweise aufwändig es ist, ruhig wie vorsichtig auf Bedrohungen zu reagieren.

Ich habe keine Angst, erklärte ich stets, wenn ich gefragt wurde, ob ich wirklich alleine nach Hause laufen wollte.
Aber verdammt, in Gedanken mit der Waffe in der Hand, fühlte ich das erste Mal, wie es tatsächlich war keine Angst zu haben.

Hier riss die Geschichte jedoch ab, die kalt rationale Realität holte mich aus den Träumerrein.

Wie jede Waffe, wurde mir bewusst, ist auch die Schreckschusspistole nicht ohne ernste Folgen anwendbar.

Es tritt nur eine Druckwelle aus, dennoch können Waffen, für die der Kleine Waffenschein gedacht ist, schwere Schäden an den Augen verursachen, das Trommelfell zerreißen. Ein aufgesetzter Schuss aus nächster Nähe könnte tödlich sein, wenn wichtige Adern zerfetzt werden.

Erklärt der Fachmann im besagten Artikel des SPIEGEL.

Dazu kommt, dass Laien — wie mir — die nötige Routine für einen sicheren Umgang mit der Waffe fehlt;
diese Unsicherheit wird schnell zu einer neuen Gefahr, sobald der Angreifer merkt, dass wir nicht wissen, was wir tun.

Die Waffe wird entwendet und schlimmsten Falls daraufhin uns selbst an die Brust gesetzt.

Eine Schreckschusspistole die einer scharfen Waffe derart ähnlichsieht, könnte auch provozieren, die Situation zusätzlich verschärfen; was, wenn der Gegenüber seine eigene Waffe zieht und diese auch abfeuert?

Ich kenne mich und weiß, dass ich nicht ohne Weiteres im sicheren Ton jemanden bedrohen könnte — egal wie ausgeliefert ich mich auch fühle; oder wie sehr mein Leben daran hängt.

Meine Finger würden zittern, meine Knie erweichen und in plötzlicher Panik wüsste ich nicht einmal mehr wo oben und wo unten ist. Mit dieser Einstellung hilft mir selbst eine Waffe in den Händen nicht;

egal wie entzückt ich von dem Gefühl in meiner Phantasie auch war.

Ringen um das Gefühl der Sicherheit

So lästig ich auch die Angst finde, die sich manchmal heranschleicht — so sehr auch die kurze, einfache Erlösung von dieser doch lockt, weiß ich ihr nicht nachzugeben.

Manch einer mag sich seiner mehr trauen als ich mir selbst — diese Leute tragen dann ein Pfefferspray in der Jackentasche oder haben den Antrag auf einen Waffenschein bereits gestellt. Diese können sich über die Hilfe in direkter Nähe freuen.

Waffen sind nämlich kaum mehr als das; Unterstützer einer gewissen Ruhe und Sicherheit, die zu einer erfolgreichen Auflösung der Gefahrensituation beitragen.

Greifen wir jedoch mit Angst und Verwirrung in unsere Handtasche, ziehen die Schusswaffe in der Hoffnung hervor, unsere Angst damit loszuwerden, stoßen wir lediglich auf Enttäuschung.

Der verantwortungsbewusste Umgang fängt mit der Sicherheit an, die das Zittern aus den Händen nimmt, die Knie wieder festigt, die Stimme stärkt.

Einatmen, ausatmen, warnen — Schuss. Mit der Angst im Nacken geht das nicht.

In meinen Augen sind Pfefferspray, Schusswaffen und co. keine Arznei, kein Wundermittel, gar die eine Lösung gegen die Angst, sondern viel mehr die komprimierte Form der Sicherheit, die ich in dem Moment aufbringen muss.

Man möge mir Applaudieren!

Es hat mir lediglich 23 Jahre gebraucht zu merken, dass die Sicherheit genau dort entsteht, wo die Angst ihren Ursprung findet. Und dort kann und muss sie kultiviert werden, bis sie groß genug ist, es mit der Angst aufzunehmen.

Vielleicht steckt die Anzeige, die ich fortgeschoben habe noch irgendwo zwischen den Zeitschriften im Wohnzimmer.

Ich frage am besten meine Schwester.

*jegliche Namen und einzelne Details der Umstände wurden zwecks Identiätsschutzes geändert

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Brigitta Buzinszki

Lehrerin und Mutter // meine Meinung meist mit Humor verfeinert // Writes occasionally in English about Germany, Hungary and Brazil