„Fühlen ist im Business-Kontext viel zu schlecht vermarktet“

Julia Kottkamp
5 min readApr 30, 2020

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Olivier Schneller by Tanja Thomsen

Olivier Schneller ist promovierter Volkswirt, Strategieberater, Innovationsberater und Coach. Und er würde sagen, dass das alles Quatsch ist und er eigentlich Frei- und Querdenker ist, mit fast 40 Jahren Erfahrung. Ein Gespräch über Corona als den neuen heißen Scheiß, selbstständiges Denken und die Dummheit, Gefühle im Business nicht zu achten.

Du bist auch als Innovationsberater unterwegs, kriegst also mit, was gerade angesagt ist. Angenommen Corona wäre der neuste heiße Scheiß am Innovationshimmel: Was macht dieses Corona möglich?

Zwei Dinge kommen mir instinktiv in den Sinn. Das Offensichtliche: Mal Pause drücken. Das ist deswegen so geil, weil es ermöglicht, mal links und rechts zu gucken und eben nicht nur wie sonst nach vorne — höher, schneller weiter. Der Gang ist momentan kleiner eingelegt und schenkt eine Atempause, sich jenseits des Bestehenden zu orientieren.

Und das zweite?

Es wird nicht mehr face-to-face gearbeitet, sondern remote. Das hat zur Folge, dass jeder einzelne Mensch, vor allem in Teams, viel stärker auf sich selber zurückgeworfen ist, weil Teamdynamiken mit entsprechenden Kommunikationsmustern weniger stark entstehen können. Ich glaube das führt den einzelnen zurück zu seinen eigenen Gedanken und Ideen, was bereichernd für die Gruppe sein kann, weil jeder sich traut oder gezwungen ist, quasi aus dem Kellerloch etwas zu entwickeln — frei von sonstiger Dominanz- und Kommunikationswucht.

Das Home-Office als Ort, wo jeder wieder frei denken kann also?

Ja, ich glaube das Corona diese Räume schaffen kann. Ich glaube generell, dass jeder viel mehr Potential hat, frei zu denken, als er oder sie es bislang tut. In unserer Arbeitswelt bewegen wir uns in einem effizienz- und kontrollorientierten Umfeld. Alles muss schlüssig sein. Alles muss zielgerichtet sein. Alles was du sagst muss Sinn ergeben. Das führt dazu, dass wir uns ein Denken angewöhnen, das sich versucht, an externen Dingen festzuhalten. Es verhindert, dass man loslässt und selber auf der „Grünen Wiese“ Neues erdenkt. Den Menschen fehlt oftmals der Mut, sich zuzutrauen, dass das, was sie selber neu gedacht haben, sinnvoller sein könnte, als ein „Best Practice“, was andere schon tausendfach vorgedacht haben und einem nur übergestülpt wurde.

Ist das „frei denken“ für dich eine Form, die eigene Stimme zu finden?

Ja, das ist meine Form. Für mich heißt das, die externen Einflüsse einfach mal wegzuschieben und die Gedanken nach innen zu richten: Was sagen mir meine Instinkte? Was meine Erfahrungen? Welche neuen Gedanken kommen mir?

Warum ist das wichtig?

Ich mache immer wieder die Erfahrung, dass wenn ich etwas selber gedacht habe, ich an einen Punkt gelange, an dem ich so begeistert bin und sich alles so stimmig anfühlt, dass das eine derart große Kraft auslöst, dass ich einfach gar nicht anders kann, als es direkt umzusetzen. Es erzeugt eine Kraft, in der ich bereit bin, etwas auszuprobieren, also direkt einen ersten Schritt zu gehen. Ich habe dann ein Selbstverständnis und habe mich selbst überzeugt. Gerade im Bereich der Innovation erlebe ich immer wieder, wie wichtig es ist, etwas wirklich zu spüren, um eine Umsetzungsstärke zu entwickeln — so eine Art positives Bulldozer-Dasein.

Du beschreibst die Business-Welt als etwas, was auch sehr stark auf ein klares Ergebnis getrimmt ist. Gleichzeitig sprichst du vom „spüren“ oder auch „fühlen“. Wie passt denn so etwas vermeintlich weiches wie Gefühle in diese harte Geschäftswelt?

Fühlen ist für mich gar nicht Weiches. Fühlen ist für mich etwas sehr Hartes. Allerdings glaube ich, dass das Fühlen sehr schlecht vermarktet wird, sodass es weich und unbusiness-technisch rüberkommt. Um in einem schlimmen Klischee zu sprechen: „Fühlen hat nichts männliches“.

Steile These…

Das Wort an sich ist schon so ein Hauchen. Ich glaube, das Wort wurde unglücklich gewählt, um das zu signalisieren, was ich mir wünschen würde: Instinkt, Überzeugung, Vision. Fühlen hat viele Facetten, sicher auch die weichen Dinge, aber es kann eben auch knallhart sein, wenn ich dadurch Fakten schaffe bzw. mein Wissen erweitere. Es trägt in sich die Kraft, Klarheit und Schärfe zu schaffen. Wenn nicht sogar Radikalität, im positiven Sinn. Jemand der aus dem Instinkt und dem Fühlen heraus handelt, der ist immer „edgier“ als jemand, der alle externen Faktoren fein sachlich erarbeitet hat und aus diesen schlüssigen, kognitiven Gedanken dann in einer Excel Matrix zum Schluss kommt, dass Option A eine vielversprechende Variante ist.

Im letzten Interview mit der Psychologin Doris Röschmann fiel der Satz, dass wir als Gesellschaft „kollektiv unterfühlt“ sind. Gilt das also auch für die Wirtschaft?

Es gibt definitiv zu wenig Raum zum Fühlen in der Wirtschaft. Ich nehme es so wahr, dass man diesen Teil von sich ablegt, wenn man ein Office betritt. Die Arbeitswelt findet einfach keinen Hebel, einem zu vermitteln, dass man mit dieser Fähigkeit in diesem Kontext wirksam werden könnte. Wie gesagt werden wir viel zu stark durch Kontrolle, Schlüssigkeit und Effizienz geleitet. Und das Fühlen passt da einfach nicht dazu.

Wo würde mehr Fühlen richtig viel reißen?

Schon ganz klar im Bereich der Innovation. Wenn es darum geht, Lösungen für Probleme zu finden, dann muss man sich öffnen, um den Mut zu haben, Dinge wirklich neu zu denken — jenseits der bekannten Grenzen. Denn wenn du in den Grenzen verhaftet bleibst, dann kann das Problem ja nicht gelöst werden, sonst hättest du es ja schon gelöst. Man muss Barrieren überwinden und das geht meine ich nur mit innerer Klarheit, mit Selbstüberzeugung und Mut. Und ich finde da kann uns auch Corona eine Lehre sein. Es hat mich schon beeindruckt, wie sich alle Organisationen um Politik und Unternehmen in einem kollektiven Hauruck neu eingerichtet haben. Sie mussten sich resetten und waren wahrscheinlich an der ein oder anderen Stelle selber überrascht, wie schnell und pragmatisch Lösungen gefunden wurden. Dieser Modus sollte unbedingt beibehalten werden.

Wovon träumst du, wenn Corona vorbei ist?

Ich hoffe, dass wir begriffen haben werden, dass globale Probleme nicht national gelöst werden können. Und ich wünsche mir, dass der Wert der Einfachheit erinnert werden wird. Eine Rückbesinnung darauf, was wirklich wichtig ist im Leben. Mein großer Wunsch ist, dass wir eine Rückkehr zur Normalität erleben, aber eben nicht der alten Normalität, sondern eine neu gedachte. Mit vielen Erkenntnissen die in diesen Wochen und Monaten raus gepurzelt sein werden, die das Leben für alle angenehmer und glücklicher macht. Am Ende wird vielleicht jeder merken, dass weniger mehr ist.

Olivier ist mein zweitliebster Schweizer in Hamburg. Und ein großes Vorbild in Sachen: “Scheiß drauf, ich mach das einfach anders.” Im Prozess meiner eigenen Positionierung hat er mir essenziell (!) geholfen. Guter Mann!

Kontakt zu Olivier gibt’s hier: https://olivierschneller.com/

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40 Stunden zeigt Menschen und ihre Berufe. Unabhängig davon, ob jemand studiert hat, einen „hippen“ Job ausübt oder einfach „nur“ die Post austeilt: In jedem Menschen stecken wertvolle Gedanken, Erfahrungen und Ideen und genau die will 40 Stunden sichtbar machen. Was bedeutet Erfolg für eine Klofrau? Wie fühlt sich das Leben als Prostituierte an? Und was bewegt einen Neurochirurgen vor einer OP? In einfühlsamen Interviews und Bildern zeigt 40 Stunden unbekannte Perspektiven und berührt, inspiriert und begeistert.

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Julia Kottkamp

Ich arbeite mit Menschen und Organisationen an ihrer Essenz. | Why I write on Medium: https://bit.ly/2UzGo8o | My other blog: www.40stunden.de