Wie ein neues Museum digital versagt

Lina Timm
6 min readDec 27, 2015

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Stell dir vor, im Jahr 2015 wird ein Museum erbaut — und die neueste Technik darin ist fünf Jahre alt. Das Europäische Hansemuseum in Lübeck ist ein trauriges Beispiel dafür, wie sich die Bildungslandschaft der Digitalisierung verweigert.

Fünfzehn Minuten lang war ich begeistert. Voller Hoffnung, dass ich jetzt, in diesem Gebäude, das es erst seit einem halben Jahr gibt, in eine moderne Museumswelt eintauchen würde. Ich konnte meine Eintrittskarte personalisieren und auswählen, welche Stadt mich interessiert und welches Themengebiet. Nach diesen fünfzehn Minuten war ich gelangweilt. Dann frustriert. Am Ende wütend.

Im Mai 2015 ist in Lübeck das Europäische Hansemuseum eröffnet worden. Nicht neu-eröffnet, wie so viele Museen, die es vorher schon gab und nun mühevoll ein paar Mittel auftreiben konnten, um sich wenigstens ein bisschen zu modernisieren. Das Hansemuseum gab es vorher noch nicht. Weder als Museum, noch als Gebäude. 50 Millionen Euro hat es gekostet (Eigentlich sollte es nur 27 Millionen teuer sein und 2013 fertig sein. Aber gut, jede Stadt hat ihren Flughafen und hier kamen archäologisch wichtige Ausgrabungen dazwischen, wie meistens in einer so alten Stadt wie Lübeck.)

Die Grabungsstätte mit Relikten um das Jahr 800 ist der Eintritt ins Museum — mit meiner Eintrittskarte kann ich die Leuchtschriften einschalten. Wirkt erstmal interaktiv. © Europäisches Hansemuseum / Foto: Thomas Radbruch

Ein neu konzipiertes Museum im Jahr 2015 ist für mich eine Chance, Wissen und Bildung auf modernstem Wege zu vermitteln. Anderen Museen zu zeigen, wie es gehen könnte. Menschen — auch junge Menschen — für Geschichte zu begeistern. Mit allen Mitteln, die es nur gibt.

Das Hansemuseum hat dabei komplett versagt.

Warum? Der Einsatz der Medien ist vollkommen undurchdacht. Die Technik ist gestrig und als wäre das nicht schon genug, fehlt auch noch inhaltlich zu oft der Zusammenhang. Aber Stück für Stück.

[ tl,dr: Rundgang & Kritik auf Snapchat ]

Wer nicht lesen mag: Hier ist mein Rundgang mit Kurz-Kritik als Snapchat-Story:

Hansemuseum — was genau?

Lübeck wurde mal als die Königin der Hanse bezeichnet, diesem Zusammenschluss von Städten und Kaufleuten, der der Stadt im Mittelalter Reichtum und Aufschwung brachte. Zur Geschichte der Hanse seit ihren Anfängen im 12. bis zum Niedergang im 17. Jahrhundert gab es bislang noch kein Museum. Mit großem Brimborium wurde es 2015 eröffnet, sogar Angela Merkel reiste an. Es soll das weltweit größte zur Hanse sein und erzählen, was es mit diesem Verbund auf sich hatte. Und das macht es denkbar schlecht.

Digital? LCD-Screens sind doch digital!

Im ersten Moment war ich begeistert von diesen Eintrittskarten. Bevor es in die Ausstellung geht, kann ich die mit Chip versehenen Karten am Terminal personalisieren. In der Ausstellung schalten sich mit Hilfe der Karte Informationen an. Wow, interaktiv! Im dritten Raum merke ich: Die Personalisierung funktioniert nur auf einem Bruchteil der Screens. Die meisten sind pseudo-interaktiv. Es kommen die gleichen Infos für jeden, ich muss sie mir nur manuell mit Karte öffnen.

Ähh… App?

Das Museum war recht gut besucht, ich stehe also im Pulk vor den Tafeln voller Text, an denen das Modernste ist, dass sie schwarz mit durchleuchtender Schrift sind statt weiß und schwarz bedruckt. Und vor den LCD-Screens stehe ich Schlange, weil sich jeder selbst durchklicken muss. 2015 — und das Museum hat keine App? Nicht einmal einen Audioguide (Barrierefreiheit, anyone?)?

Die Screens sind ja prima für alle, die kein Smartphone haben oder es im Museum nicht benutzen wollen. Aber warum hat niemand an eine App gedacht? Mit der hätte ich…

  • die Ausstellung in meinem eigenen Tempo durchlaufen können statt in Schlangen zu stehen
  • mir zusätzliche Informationen holen können, die es über die Eintrittskarten-Personalisierung nicht gab (im Pest-Abschnitt hätte mich nicht nur das Leben der Seefahrer, sondern auch das der Armen interessiert…)
  • idealerweise die Auswahl, ob ich lesen oder hören will (meine Mutter ermüdete das viele Lesen schnell, sie hätte gern einen Audioguide gehabt).

Mit einer App könnte man den Hinweis “Exponat” auf einer Texttafel auch interaktiv gestalten. Für Kinder und Erwachsene gleichermaßen spannend: Such doch mal das Exponat, über das hier erzählt wird. Indoor-Mapping, Bildungsspiele, gibt es doch alles schon.

Im Hansemuseum stand stattdessen im dritten von zehn Räumen ein Mädchen neben mir, vielleicht zehn Jahre als, die zu ihrer Mutter sagte: “Kann ich jetzt wieder nach Hause? Das ist langweilig.” In einem 2015 erbauten Museum.

Hätte sie es auch langweilig gefunden, wenn sie das Smartphone ihrer Mutter auf das große Rad gerichtet hätte und in einer Animation gesehen, wie es sich in Bewegung setzt und im Haus der Hansekaufleute Waren in den Schüttboden befördert? Augmented Reality ist längst weit genug dafür, Beispiele wie die Ausstellung zur Berliner Mauer oder der Landauer Walk beweisen das.

Medieneinsatz? Wie, es gibt mehr als Text?

Läuft man durchs Hansemuseum, könnte man denken, das einzige Medium der Welt sei Text.

Symbolbild: Angela Merkel liest Dinge. Die Kanzelerin hat das Hansemuseum eröffnet — ich bezweifle, dass sie alle Texte gelesen hat. © Europäisches Hansemuseum / Foto: Thomas Radbruch

Beispiel I: Wegbeschreibungen

Ich musste eine Passage von vier Zeilen drei Mal lesen, bis ich den Inhalt verstanden habe. Darin stand die Beschreibung eines Schiffsweges, irgendwo durch das heutige Russland. Die Städte sagten mir was, aber wo sie genau liegen? Keine Ahnung. Wenn man schon Screens hat, warum dann nicht eine Karte zeigen? Eine Linie, die animiert die Städte verbindet, die Namen einblendet, die Schiffstypen als Bild dazu? Für diese Wegbeschreibung war Text die schlechteste Wahl.

Beispiel II: Modelle

Bei aller Liebe für Technik — manchmal ist der Screen einfach nicht das richtige Mittel. Das gute alte Modell in 3D hat etwas Haptisches, man kann es umlaufen, Größen einordnen. Wie Lübeck gewachsen ist sehe ich im Hansemuseum auf einem Screen mit Animation. Okay, eine Lösung. Hier mal ein anderer Vorschlag: Ein 3D-Modell, bei dem ich die Entwicklung per Licht dazu schalten kann. Bei so vielen Screens und so viel Lesen wäre das eine gute Abwechslung.

Beispiel III: Video

Die Bänke des Hansesaals haben sie nachgebaut, die Inszenierung leider vergessen. © Europäisches Hansemuseum / Foto: Thomas Radbruch

Mir ist leider völlig unverständlich, wie man 2015 eine Ausstellung ohne Video denken kann. In einem Raum wurde der Hansetag nachgebaut. Die Zusammenkunft der Hansestädte, bei der sie die wichtigsten Dinge besprochen haben. Ich kann mich in eine nachgebaute Bank des Hansesaals setzen. Dann schaue ich auf eine Beamer-Leinwand. Und auf der läuft ein Textband durch, das den Ablauf beschreibt. Göteborg streitet sich mit X, Y mit Z, beides wird erstmal vertagt, und so weiter. Das ist das klügste, was euch eingefallen ist? Ein Textlaufband? Ich habe selbst schon historische Szenen fürs Fernsehen mitinszeniert. Das muss nicht einmal sonderlich teuer sein. Wenn ich als Besucher aber schon auf der Bank der Städtevertreter sitze, warum steht dann nicht auf der Leinwand vor mir der Leiter der Versammlung, schaut mir ins Gesicht (bzw. die Kamera) und spielt eine kurze Szene durch? Wie viel eindrücklicher wäre das, und was für eine schöne Abwechslung?

Storytelling

Die Szenografie der Hanseschiffe vor Nowgorod ist schon hübsch, aber leider im Schummerlicht der Ausstellung — anders als auf diesem Foto, nicht zu erkennen. © Europäisches Hansemuseum / Foto: Thomas Radbruch

Als ob Technik und Medieneinsatz noch nicht genug wäre, leider ist das Hansemuseum auch vom Storytelling her schlecht. Die Zeit vor der Hanse wird ausführlich besprochen, die Bedeutung von Nowgorod, wie sich die ersten Seefahrer zusammenschlossen, was daran so besonders war. Danach wirkt es, als hätten die Macher die Lust verloren. Oder vielleicht auch nur ich die Lust, mich durch die vielen Texte zu lesen. Hier und da überspringe ich welche, gerade in den Räumen, in denen die klassischen Vitrinen mit nicht etwa Originalen, sondern Faksimiles stehen. Schön einzig: Die aufwändigen Szenografien, durch die ich wie in einem Theaterbühnenbau laufen kann. Digital ist daran aber nichts.

Die Geschichte der Hanse wird bruchstückhaft erzählt, der rote Faden fehlt völlig. Und das, obwohl sich die Ausstellung am zeitlichen Verlauf orientiert. Faszinierend, wie man den Faden dann verlieren kann. Auf einmal stehe ich in London und weiß nicht warum. Irgendwelche Kaufleute werden mir aufgelistet, eine Übersicht über die Stadt, was genau das mit der Hanse zu tun hat? Weiß ich nicht. Im “Finale” der Ausstellung stehen überlebensgroße Bürgermeister. Warum? Wird nicht erklärt.

Erschütternd schlecht

Selten habe ich mich über einen Museumsbesuch so geärgert. Ich kann nicht nachvollziehen, wie man im Jahr 2015 so ignorant mit der Digitalisierung umgehen kann. Das Europäische Hansemuseum, 2015 eröffnet, es müsste jetzt schon modernisiert werden.

Wer gute Museen auf der Höhe der Zeit kennt — ich freue mich über jeden Tipp, der mir den Glauben in die Digitalisierung der Bildungswelt zurückgibt.

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Lina Timm
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Written by Lina Timm

Digital Enthusiast. Journalism and Startups. Program Manager @MediaLabBayern. Founder of digital-journalism.rocks.

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