Marco Zehe
5 min readNov 14, 2015

Nach den Anschlägen von Paris ist ein politisches Umdenken erforderlich

Am 13.11.2015 wurden bei mehreren fast zeitgleichen Anschlägen und einer Geiselnahme in Paris mehr als 120 Menschen getötet und über 200 teilweise schwer verletzt. Unter den Folgen werden Betroffene und Angehörige ihr ganzes Leben lang leiden.

Nach dem ersten Schock und dem Entsetzen werden Politiker verschiedener Coleur mit sehr großer Wahrscheinlichkeit wieder reflexhaft nach mehr Vorratsdatenspeicherung, mehr Militär, härterem Vorgehen gegen Terroristen und anderen Dingen rufen. Dies kann man im Angesicht der Lage nur als puren und blinden Aktionismus bezeichnen. Erste Zündeleien verbaler Art eines Terrorexperten gab es im französischen Fernsehen schon: „Wir befinden uns im Krieg“, wurde da sinngemäß gesagt.

Dabei ist genau jetzt der Zeitpunkt gekommen, endlich umzudenken. Denn das, was Paris am 13.11. erlebt hat, ist genau das, wovor seit Jahren und verstärkt in den letzten Monaten hunderttausende Menschen nach Europa fliehen. Und dieser Tatsache kann man einfach nicht mit den Mitteln begegnen, die diese Situation erst heraufbeschworen haben. Es dürfen nicht mehr Waffen in den nahen Osten exportiert werden. Die Antwort kann nicht sein, mit noch mehr Militär und Bomben gegen den IS oder andere Terrorgruppen vorzugehen. Denn was hat denn eigentlich dazu geführt, dass die Situation so eskallieren konnte?

Nach den Anschlägen vom 11.09.2001 begann ein militärischer Aktionismus, der wohl bisher beispiellos in der menschlichen Geschichte war. Planlos und scheinbar ziellos marschierten die USA und die alliierten Nationen in Afghanistan ein, die den USA „uneingeschränkte Solidarität“ bekundet hatten. Unter anderem auch Deutschland war dabei, und es war der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder, der mit dem Ausspruch dieser „uneingeschränkten Solidarität“ wohl einen der größten Fehler seiner Kanzlerschaft beging. Denn wie andere übersah auch er, dass die USA keinen Plan hatten, wie sie Afghanistan dauerhaft stabilisieren und den dort lebenden Menschen eine echte Perspektive bieten konnten. Denn bis heute ist der Terror nicht besiegt, sind die Fundamentalisten stark verankert, es gibt täglich Anschläge, Verletzte und Tote. Die Bundesregierung sah sich sogar kürzlich genötigt, das Kontingent der Bundeswehrsoldaten, die vorort Sicherheitskräfte ausbilden, wieder zu verstärken, weil klar ist, dass die Truppe in ihrer jetzigen Stärke den Aufgaben nicht mehr gewachsen ist.

Im März 2003 wurde dann der nächste Schritt vollzogen, um den nahen Osten ins Chaos zu stürzen. Nein, beabsichtigt war das natürlich nicht, aber derselbe Fehler wurde erneut begangen. Wieder waren es die USA und ihre Alliierten, die in ein Land einmarschierten, diesmal den Irak. Die „weapons of mass distruction“, die für diesen Zweck von der Bush-Administration frei erfunden wurden, wie später eingeräumt wurde, jagten genügend Leuten Angst ein, um sich den US-Truppen anzuschließen. Das Problem war das gleiche: Es gab keinen Plan für das Hinterher. Es gab keinen Plan für die Stabilisierung nach dem Machtvakuum, das dem Sturz Saddam Husseins folgte. Auch im Irak gibt es bis heute täglich Anschläge, Tote und Verletzte.

All dies bereitete den Nährboden dafür, dass der arabische Frühling im Jahr 2011 dazu führte, dass Syrien in einen Bürgerkrieg geschleudert wurde. Der angestrebte Sturz des Assad-Regimes scheiterte, und der IS nutzte die Gelegenheit, Teile des destabilisierten Landes unter seine Kontrolle zu bringen. Gemeinsam mit den IS-Kräften im Irak bündelten sie die Kräfte und errichteten ein Terror-Regime.

Und wieder hat die westliche Welt nichts besseres zu tun, als in puren Aktionismus zu verfallen. Da wird Saudi-Arabien mit Panzern und Waffen unterstützt, Bomben auf Syrien geworfen, gleichzeitig aber auch das Assad-Regime als Feindbild geschürt. Dieses wiederum wird von Russland unterstützt, gegen den IS, aber auch gegen Gruppen, die von den USA und Europa unterstützt werden. Und wieder gibt es keinen Plan, wie es weiter gehen soll.

Oh ja, es gibt inzwischen eine Syrien-Friedenskonferenz in Wien, an der übrigens niemand aus Syrien teilnimmt, also nicht mal die befreundeten Gruppen, die Europa und die USA eigentlich im Kampf gegen den IS unterstützen, und natürlich auch niemand des weiterhin fest im Sattel sitzenden Assad-Regimes. Dabei dürfte nicht nur ausgewiesenen Nahost-Experten inzwischen klar sein, dass eine Stabilisierung Syriens ohne Assad nicht funktionieren wird.

Aber was sind die Probleme? Warum scheitert der Westen an diesen selbst gestellten Aufgaben? Es wird Zeit, sich mal auf die letzte wirklich gelungene Aktion Alliierter Truppen zu besinnen: Die Befreiung Deutschlands vom NS-Regime. Hier gab es *vorher* eine Konferenz, auf der nicht nur das militärische Vorgehen, sondern auch erste Pläne für ein „danach“ gemacht wurden. Denn damals war allen Beteiligten klar, dass Deutschland hinterher eingebunden werden musste, sollte es nicht in Chaos versinken oder gleich in die nächste Diktatur zurückfallen, mitten im Herzen Europas, und somit weiterhin eine Gefahr darstellen.

Die Landung in der Normandy gelang, Deutschland und Europa wurden vom Joch des NS-Regimes befreit, und die Potsdam-Konferenz regelte das weitere Vorgehen. Dass hierbei längst nicht alles glatt lief und die Welt in den nächsten 40 Jahren mehrmals am Scheideweg einer atomaren Vernichtung stand, sind sekundäre sehr unschöne Begleiterscheinungen gewesen. Das Primärziel aber, Deutschland zu stabilisieren, wurde erreicht. Dieses Land war 1989 sogar fähig, einen friedlichen Umsturz in der DDR zu bewerkstelligen und sich 1990 wiederzuvereinen.

Und auch an diesem Punkt gab es jemanden, der – wenn auch kurzfristig – einen Plan hatte, nämlich Helmut Kohl. Er besaß die politische Weitsicht, zu erkennen, dass die Vorgänge in der DDR nicht die einzigen bleiben würden, die demnächst im ehemaligen Ostblock anstanden. Ihm war klar, dass er handeln musste, wollte er die Vereinigung Deutschlands nicht gefährden. Bei aller berechtigter Kritik an seiner Person und anderen Handlungen wie in der CDU-Schwarzgeld-Affäre muss man Kohl zu Gute halten, dass er hier genau das richtige getan hat. Dass auch hierbei nicht alles glatt lief, es keine „blühenden Landschaften“ gibt und auch 25 Jahre nach der vollzogenen Wiedervereinigung immer noch Unterschiede in den Bundesländern bestehen, ist ebenso der menschlichen Fehlbarkeit zuzuschreiben Wie der Leichtgläubigkeit mancher. Die „blühendenLandschaften“ waren nichts weiter als politische Rhetorik.

Das Problem jetzt ist also, dass es einen Plan geben muss, der sicherlich auch militärische Komponenten haben muss, aber eben nicht nur, und vor allem nicht vordergründig! Die Ursachen müssen an der Wurzel gepackt werden, und vor allem anderen muss die Menschlichkeit stehen. Die Staaten Europas und der übrigen „ersten Welt“ müssen umdenken und Entwicklungshilfe endlich ernst nehmen. Staaten dürfen nicht mehr aus Habgier irgendwelcher Wirtschaftslobbyisten zum Ausbluten gebracht werden. Den Menschen muss eine Perspektive geboten werden, dass ihre Länder auf eigenen Füßen stehen, es Wohlstand und Sicherheit gibt. Den radikalen Hetzern muss der Nährboden entzogen werden, auf dass ihre Saat verdorrt und stirbt. Und das geht nur, wenn sich der Westen nicht mehr länger als das Feindbild aufführt, als das er von diesen radikalen Kräften gezeichnet wird. Einfach reinzubomben und zu sagen: „Hier habt ihr unsere Demokratie, nehmt sie oder wir bomben weiter“, funktioniert einfach nicht! Das hätte auch in Deutschland nicht funktioniert!

Ich appelliere an alle LeserInnen: Engagiert euch! STellt diesem Terror Menschlichkeit entgegen! Helft denen, die bei uns Schutz suchen, im Rahmen eurer Möglichkeiten! Die Ziele der Anschläge in Paris waren junge, hippe Ziele, die die Ideale „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ verkörpern. Zeigen wir diesen Terroristen, dass sie uns das nicht nehmen können!

Und wenn Sie dies lesen und politisch tätig sind, appelliere ich an Sie: Lassen Sie sich nicht von Angst leiten! Machen Sie sich klar, dass Sie mit einer Forderung nach mehr Vorratsdatenspeicherung und anderen die Freiheit und Gleichheit der Menschen einschränkenden Maßnahmen genau das tun, wofür diese Terroranschläge standen! Seien Sie mutig, gehen Sie neue Wege! Machen Sie sich in Ihrer Fraktion, Ihrer Partei, Ihrem Ministerium dafür stark, die Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit unter den Menschen der Welt zu stärken und somit das beste Gegenmittel zu schaffen, das es gegen diesen Terrorismus gibt! Ich danke Ihnen!

Marco Zehe

Barrierefreiheit, Mozillianer, das offene Web, mag gute Musik und gutes Essen, blind, verheiratet mit der besten Ehefrau vonne Welt. Threema-ID: Fragt mich