Nicht im Pott. Aber ein Stück Arbeiter- und Industriegeschichte, wie es auch dort stehen könnte: Die Völklinger Hütte, heute als Weltkulturerbe musealisiert. Foto by Lokilech, CC-BY-SA-3.0, via Wikimedia Commons

Filmkritik: “Die Abfahrer” von 1978

Social Cultural Notes

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Zu abgefahren für einen „Kultfilm“: Adolf Winkelmanns Ruhrgebietsroadmovie

Unstimmigkeiten in der Geschichte, blasse oder flache Charaktere, schlabbrige Spannungsbögen, viel zu wenig Figuren, lieblos oder gar nicht eingeführte Orte und Zeiten der Story, kaum tiefer auf etwas eingehende Dialoge — naja, das geht eben oft nicht anders bei einem Unterhaltungsfilm. Man hatte ja nur eineinhalb Stunden für die Erzählung. Und zu grüblerisch oder zu skurril darf es auch nicht werden, weil wegen Quote.

So weit, so schlecht häufig gehörte Ausreden, warum beim Schauen von Komödien mit Lokalkolorit, Krimis oder Filmen mit gesellschaftspolitischem und diskursivem Anspruch ein ästhetisches und narratives Sättigungsgefühl so oft ausbleibt.

All dies lasse ich aber seit gestern nicht mehr gelten — seit ich den vierzig Jahre alten Streifen „Die Abfahrer“ von Adolf Winkelmann sah.

In eben jenen besagten eineinhalb Stunden wird hier so viel entfaltet, dass die Gesetze der Physik der Zeit, oder mindestens des Erzählens, auf irgendeine magische Art ausgetrickst und übertreten werden.

Was dieser Film nicht alles ist: Sozialdrama über den Niedergang — oder sollte man sagen: die Kaltstellung? — der Arbeiterschaft in der Großindustrie des Ruhrgebiets; liebevoll arrangiertes Panoptikum schrulliger Originale, wie sie nur der Pott hervorbringen kann; Milieuskizze aus der Welt der Proletarier und Subproletarier; eine vor Witz sprühende Komödie voller schräger Gags und Wendungen; romantisches Roadmovie über eine völlig vernunftfreie Spritztour vierer junger Menschen kreuz und quer durch die alte Republik; Diskursstück über Lage und Bewusstsein westdeutscher Proleten am Ende der siebziger Jahre, ja sogar über Wesen und Wert von Arbeit und Arbeitslosigkeit, über den Mut zum Protest gegen unfaire Bezahlung und dessen häufiges Scheitern, über fehlende Solidarität mit nichtdeutschen Kollegen.

Das Wurmloch zwischen den Welten dieses Films ist die Geschichte um die vier gesellschaftlich gestrandeten Atze, Lutz, Sulli und Svea. Während die drei Männer aus unterschiedlichen Gründen arbeitslos sind — Atze geriet durch sein Insistieren auf Lohnerhöhungen für sich und seine Kollegen auf die Abschussliste seiner Chefs, Lutz wurde durch eine neue Maschine ersetzt, Sulli wird als Griechen das Recht auf einen Job abgesprochen –, ist Svea nach Krach und Trennung von ihrem kleinlichen Freund etwas orientierungslos, fühlt sich unbehaust und mag nicht allein zu Hause sein.

Die drei Jungs hatten sich zunächst einigermaßen in einem Hinterhof der Arbeitersiedlung eingerichtet. Mit Würfelspiel, albernen Fingertricks (Sulli…) und Frotzeleien zwischen ihnen und ihrer — noch — arbeitenden Nachbarschaft vertreiben sie sich die Zeit.

Doch die scheinbar Ambitionslosen basteln nebenbei auch heimlich und — nun ja, mit kriminellen Mitteln — an einem Sportcabrioprojekt, dessen Teile sie einem unsympathischen Schrotthändler mit Tricks entwenden. Den fertigen Traumwagen wollen sie dann, wenn es so weit ist, stolz präsentieren und für viel Geld verticken, um für eine Weile keine Geldsorgen mehr zu haben.

Die Geschichte der „Abfahrer“ nimmt buchstäblich Fahrt auf, als die drei Abhänger sich über den vor ihrer Nase abgestellten Umzugs-LKW des nervösen Hermann ärgern. Dieser leicht recht aufgebrachte Zeitgenosse will zurück in seine norddeutsche Heimat, denn die Gerüchte der drohenden Hüttenschließung dräuen so schwer über der Arbeitersiedlung, dass er es gar nicht mehr aushält und sich schnell wegretten will, bevor es mit dem Viertel sein schlimmes Ende nehmen wird.

Doch dank defekter Bremse am LKW gerät der Auszugsversuch zu einer kleinen — metaphorisch aufzufassenden? — Farce, mit einer mit der Kraft der Verzweiflung schnell noch in den wegrollerndern Laster geworfenen Stehlampe. Doch es nützt nichts: Der LKW muss abgestellt, die Reparatur erst noch anberaumt werden.

Bei den drei „Abfahrern“ ist derweil die Stimmung am Boden. Atze erklärt Lutz, dass er nicht gewillt sei, mit ihm zum Fußballgucken in die Kneipe zu gehen — zu zudringlich und bar allen echten Verständnisses seien die dauernden und bohrenden Fragen der Nachbarn und Bekannten: Hasse getz Arbeit? Nä? Hasse denn was in Aussicht? Atze kann das nicht mehr aushalten. Lutz wiederum kann dieses nicht verstehen, wird ob des verpassten Fußballspiels immer saurer und verdrossener.

Da kommt Atze die Schnapsidee, man könne ja mal mit dem in ‘ihrem’ Hinterhof geparkten LKW eine kleine Spritztour machen — nur so einmal um den Block… (oder durch die Republik?)

„Die Abfahrer“ wurde vor 40 Jahren gedreht. Immer noch tragen die Leute im Pott schwer an den Fehlentscheidungen und der wirtschaftlichen Abwertung der letzten Jahrzehnte, für die der lächerliche Euphemismus vom „Strukturwandel“ ins propagandistische Spiel gebracht wurde.

Und immer noch sind da draußen die Atzes und Lutz’ und Sullis und Sveas unterwegs. Mit aufsässigem Witz und dem Wunsch nach mehr, häufig geboren aus den Launen von Momenten, zischen sie ein Bier, machen alberne Spiele — und basteln vielleicht heimlich an etwas.

Tipp für Leser_innen aus Bremen: „Die Abfahrer“ ist als DVD in der Bremer Stadtbibliothek ausleihbar.

Unpassend ist lediglich, dass irgendein Marketingmensch auf die zweifelhafte Idee gekommen ist, „Die Abfahrer“ auf der DVD-Hülle als ‘Kultfilm’ anzupreisen. Das hat dieser Streifen wirklich nicht verdient…

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