Lernt Eure Leser, Hörer und Zuschauer besser kennen!

Journalismus kann in vielerlei Hinsicht von aktivem Community-Management profitieren

Stanley Vitte
7 min readJun 28, 2014

Als Journalist und Community-Manager von lokalkompass.de beschäftige ich mich schon seit einiger Zeit mit der Frage, was Journalisten aus der Arbeit mit Communities im Allgemeinen und der Interaktion mit Lesern, Hörern, Zuschauern und Nutzern im Einzelnen lernen können.

Per Definition umfasst Community-Managament ”alle Methoden und Tätigkeiten rund um Konzeption, Aufbau, Leitung, Betrieb, Betreuung und Optimierung von virtuellen Gemeinschaften sowie deren Entsprechung außerhalb des virtuellen Raumes. Unterschieden wird dabei zwischen operativen, den direkten Kontakt mit den Mitgliedern betreffenden, und strategischen, den übergeordneten Rahmen betreffenden, Aufgaben und Fragestellungen.”

Warum sollten Journalisten sich damit befassen?

1. Journalismus ist ein Dienst an der Öffentlichkeit

Die erste Antwort ist so einfach wie essentiell: wer als Journalist seine Arbeit veröffentlicht und ernst genommen will, kommt heute kaum noch darum herum, sich öffentlichem Feedback zu stellen. Früher konnte man Leserbriefe oder Zuschaueranrufe beantworten oder ignorieren, aber nie erhielten sie dieselbe öffentliche Aufmerksamkeit wie der kritisierte journalitische Beitrag. Das hat sich maßgeblich geändert.

„Unsere Aufgabe ist es, das Leben der Menschen zu verbessern. Das ist der Gradmesser unseres Erfolgs. Wir müssen einer Gemeinschaft helfen, sich zu organisieren. Wir müssen den Menschen nicht etwas vorsetzen, wir müssen ihnen zuhören.“ Jeff Jarvis

Wirtschaftswoche-Chef Roland Tichy kritisierte bereits vor einigen Jahren, dass Helikopter-Journalismus, also das freundliche Herabwerfen von News-Häppchen ins Volk, in Zeiten des modernen Internets nicht mehr angemessen sei. Im Bestfall finden Kritik und Diskussion auf der eigenen Plattform statt, im Schlimmstfall überall anders im Netz.

Journalisten als Dienstleister der Öffentlichkeit stehen demnach vor der Herausforderung, den erweiterten Diskurs so effizient wie möglich zu erfassen und so konstruktiv wie möglich zu verarbeiten. Doch laut aktuellen Studien nutzt ein Gros der Journalisten in Deutschland selbst die eigenen Foren noch recht selten. Ich glaube, in punkto Interaktion und Vernetzung können wir Journalisten noch viel von Bloggern lernen, aber auch von Webvideo-Produzenten, denn deren Macher agieren per se als Teil einer Community, wie Videopunk Markus Hündgen mir im Interview erklärte: “Der Umgang ist natürlicher, die Medienproduktion prozesshafter, die Bindung zum Zuschauer entsprechend höher.”

2. Leserblattbindung heißt jetzt “User Engagement”

Ein guter Journalist sieht sich meiner Meinung nach nicht nur als Wächter über die Mächtigen, als vierte Gewalt des Staates, sondern auch als Otto Normalverbraucher, als jemand der weiß, was die Menschen in seiner Region gerade beschäftigt und welche Informationen er ihnen liefern sollte.

Insofern: wer zu Zeiten von Post, Fax und Telefon schon ein Ohr für sein Publikum hatte, wird die Möglichkeiten des Internets eventuell spielerisch umarmen. Wer eine Community aufbauen und pflegen will, muss das Rad nicht neu erfinden, sondern schlicht aus Sicht des Nutzers denken können, und was anfangs Arbeit macht, kann mittelfristig Arbeit sparen, vielleicht Inspiration oder gar exklusiven Input liefern. Die Smartphone-App Call a journalist des Online-Magazins Hamburg Mittendrin ist hierfür ein gutes Beispiel.

Jupp Becker aus Düsseldorf engagiert sich als BürgerReporter und organisiert in Düsseldorf eigenständig so genannte “Foto-Safaris” (Foto: Uwe Beckers / lokalkompass.de)

Liebe Kollegen, probiert es aus: Nutzt Eure Community als Recherche-Hilfe, fragt sie nach Ihren Meinungen oder persönlichen Erfahrungen, macht sie zu Laienkritikern, fragt gezielt nach Aufreger-Themen oder Foto-Beiträgen. Es lohnt sich!

Aus meiner Erfahrung als Lokalredakteur und Community-Manager von Lokalkompass kann ich sagen: Die meisten Laien wissen, dass sie die Arbeit der Profis nicht ersetzen können. Aber sie wissen den direkten Draht zu diesen Profis sehr zu schätzen und freuen sich über die Aufmerksamkeit und ihren eigenen medialen Raum. Auf diese Weise werden aus interessierten Leser engagierte Nutzer. Digital-Experte Konrad Lischka gab diesem Phänomen bereits einen neckischen Namen: User Generated Leidenschaft.

3. Durch Kooperationen mit Nutzern entstehen neue Inhalte

Ich bin der festen Überzeutung, dass user generated content den Journalismus bereichern kann, auch mit unique content oder Beträgen, die zu weiteren Recherchen einladen. Viele Redaktionen experimentieren bereits damit, Beiträge ihrer Leser zu sammeln und zu bündeln, von der Bild-Zeitung mit ihren Leserreportern oder dem Blognetzwerk zur WM über die WAZ mit ihrer Scoopshot-App oder der Whistleblower-Mailbox bis hin zu CNN mit iReport, um nur einige Beispiele zu nennen.

Besonders interessant wird es meines Erachtens vor allem dann, wenn man die Möglichkeiten der redaktionellen Auswertung in Betracht zieht: allein die Umfragen und Datenerhebungen der ZEIT zu Dispo-Zinsen oder die kartenbasierten Umfragen der Südddeutschen Zeitung lassen erahnen, wie groß das Interesse des Publikums an aktiver Teilhabe sein kann — und dass die Zusammenarbeit professioneller Journalisten und engagierter Nutzer noch viele Früchte tragen könnte. Was wohl New York Times und Washington Post vorhaben, die derzeit gemeinsam an einer Audience Engagement Platform arbeiten?

“Die Leser so ernst zu nehmen, dass wir ganze Erzählungen um ihre Anregungen und Beiträge herum stricken — das tun wir noch viel zu selten.” Stefan Plöchinger

“Je mehr wir echte Gesprächspartner auf Augenhöhe sind für unsere Leser, desto größer ist die Chance, dass wir mit unseren Angeboten Erfolg haben” Wolfgang Büchner

4. Analytics und Crowdsourcing eröffnen neue Möglichkeiten

Nie zuvor gab es für Journalisten bessere Möglichkeiten, die eigene/n Zielgruppe/n kennenzulernen. Das betrifft zum einen die Möglichkeiten der technischen Analyse, mit deren Hilfe man das Rezeptionsverhalten und somit die Wirkung der eigenen Arbeit besser verstehen sowie die Aufbereitung der redaktionellen Inhalte daran ausrichten kann.

Nach Suchmaschinenoptimierung (SEO) folgen nun offenar Audience Flow Optimierung (AFO) und bibliothekarisches Arbeiten (structured journalism).

Ich glaube, das ist keine schlechte Entwicklung, wenn man davon ausgeht, dass neben Klickraten künftig auch Verweildauern und Interaktionsraten als Währungen zur Geltung kommen (in den USA wird darüber schon seit einiger Zeit debattiert, in Deutschland hat die Diskussion gerade erst begonnen).

Mindestens genauso wichtig für die journalistische Arbeit bleibt allerdings, mit öffentlichem Feedback konstruktiv und produktiv umzugehen. Maike Haselmann, die bei Spiegel-Online das Social Media-Ressort mit aufbaute, erklärte gegenüber der Fachzeitschrift t3n, häufig finde man “Hinweise auf Ungereimtheiten und Fehler, deren Tilgung die Qualität des einzelnen Artikels und damit der ganzen Seite verbessert und ihr mehr Glaubwürdigkeit verleiht”.

Wenn dank Fortschritt der Technik thereotisch jeder Bürger aktuelles Geschehen per Twitter, Blog oder Stream sowohl jederzeit verfolgen als auch selbst mitgestalten kann, ist das grundsätzlich eine tolle Erweiterung für den allgemeinen Informationsfluss. Die Rolle und das Handwerk des Journalisten könnten angesichts dessen noch mehr als bisher darin bestehen, vorhandene Informationen zu verifizieren, erläutern und in Kontexte einzuordnen. Zum anderen kann der einzelne Journalist bei entsprechendem Profil schnell zur öffentlichen Vetrauensperson werden, dessen Interpretation und Meinung gefragter ist als je zuvor.

Gehört dem “kommentatorischen Journalismus” die Zukunft? Florian Mundt alias “LeFloid” gewann den Grimme Online Award 2014 in der Kategorie Information

(Dass bewegte Bilder, interaktive Hangouts und Social-TV im Journalismus ebenfalls an Relevanz gewinnen, möchte ich an dieser Stelle nur kurz erwähnen).

5. Willkommen im Trollhaus: Regeln, Rechte und Pflichten

Der sagenumwobene Troll hat viele Gesichter. (trollogist.com)

Zugegeben: In Internet wird nicht nur freundlich diskutiert. Der Ton ist mitunter rau, und viele Einsteiger schreckt das zunächst ab. Virtuelle Störenfriede gibt es in verschiedenen Kategorien, und sie tauchen selbst dann auf, wenn der redaktionelle Beitrag bewusst keinerlei Anlass zur Aufregung darstellt. Herzlich willkommen im Trollhaus namens Internet.

Die Betreiber öffentlicher Foren stehen vor grundsätzlichen Überlegungen: Kann man von Diskussionsteilnehmern reale Vor- und Nachnamen verlangen (und dadurch die Freiheit der Nutzer einchränken)? Alle “unangenehmen” Kommentare rigoros löschen (und sich infolge dessen stets Zensur vorwerfen lassen)? Kommentare erst nach redaktioneller Überprüfung frei schalten (und damit jegliche dynamische Diskussion im Keim ersticken)? Die Kommentarfunktion komplett abschalten (und damit den Forengedanken endgültig beerdigen)?

Um heikle Fragen der Haftung und Auseindersetzungen vor Gericht zu vermeiden, sollte man sich auf jeden Fall mit geltendem Recht auskennen und entsprechende Handlungsempfehlungen immer auf dem aktuellsten Stand halten. Außerdem unabdinglich:

Zwischen Recht und Recht liegt oft nur ein Fingerzeig… (RK Altmann / pixelio.de)

6. Community-Manager sind das Bindeglied

Machen wir uns nichts vor: die Geschichte vom Journalisten als “eierlegender Wollmilchsau” war schon immer ein Ammenmärchen. Die einen verfügen über mehr Talent als Reporter, Fotografen oder Blattmacher, die anderen sind eher Essayisten, Newsdesker oder Producer. Dementsprechend muss und kann auch kaum ein Journalist die gesamte Klaviatur des Social Media-Managements virtuos beherrschen. Aber er sollte die grundsätzlichen Funktionen kennen und im Zweifel wissen, wen er zu Details und Neuerungen fragen kann.

Deshalb glaube ich, dass Social Media-Experten mit ihren vielseitigen Aufgaben in Redaktionen einen zentralen Stellenwert haben sollten. In die Curricula der Journalistenausbildung gehört jedenfalls weit mehr als eine einmalige Twitter-Schulung oder das Einrichten einer Facebook-Fanpage!

Wäre es nicht schön, wenn Journalisten und ihr Publikum sich stets ergänzen? Wenn sämtliche Abteilungen Hand in Hand arbeiten? Und am Ende des Tages lägen sich alle glücklich in den Armen?… (S.Hofschläger / pixelio.de)

Netzkompetenz erhält man ohnehin nicht durch jugendliches Alter, sondern durch permanentes Training und Wissenstransfer im Redaktionsalltag. Die beruflichen Anforderungsprofile des Bundesverbands für Community-Management verdeutlichen die Bandbreite möglicher Qualifikationen und Tätigkeitsbereiche. In den USA entsteht derzeit der wohl erste Ausbildungslehrgang Community-Journalism.

PS: Selbstverständlich bin ich offen für Anmerlungen, Hinweise und Verbesserungsvorschläge — ich bin gespannt auf Euer Feedback!

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Stanley Vitte

freier Journalist, Autor und Community-Manager. In der Welt unterwegs, in Düsseldorf zuhaus. Netzwerker.