Love-Stories

Andrea Jall
8 min readAug 14, 2017

--

Eine Erzählung in vier Akten über meine, deine, unsere Liebe zu Geschichten.

ICH liebe Geschichten.

Diese Liebe möchte ich gerne zu Beginn dieses Posts mit einer kurzen Bildergeschichte —aufgenommen in meinem Keller — näher erläutern. Was siehst Du?

Stimmt! Ein Regal mit Büchern, Kartons und einem verschlossenen Schrank. Was siehst Du, nachdem ich das Türchen geöffnet habe?

Ja, jetzt ist es ein Regal mit Büchern, Kartons, einem ferngesteuerten Truck sowie drei Koffern. Worauf ich hinaus will?

Darauf:

Drei Kinder-Koffer. Für Dich. Für mich ist es viel mehr als das, was wir sehen. Für mich befindet sich in diesen drei Koffern meine Kindheit. Verpackt und gehütet wie ein Schatz. Wir öffnen die Koffer und entdecken darin: Alte Hörspielkassetten. Über hundert Geschichten — meine Kindheit, meine Geschichte!

Tausende Meter Band und noch mehr Minuten Spannung, Abenteuer und Lachen. Geschichten von und für Freundschaften, zum träumen und nachdenken. Lieder zum lauthals mitsingen und Sachgeschichten zum daraus lernen. Drei Koffer voll gepackt mit unzählig vielen Erinnerungen und unbeschreiblichen Momenten.

Was für Kinder heute ihr Handy ist, waren für mich meine Kassetten und mein Walkman. Den hatte ich mir von meinem allerersten gesparten Geld gekauft (für 50 DM). Überall waren meine Heldinnen und Helden dabei: In den Familien-Urlaub bin ich mit Bibi Blocksberg gefahren und zu meiner coolen Freundin mit Knight Rider im Gepäck. Disneys’ „König der Löwen“ und „Pocahontas“ konnte ich komplett auswendig mitsprechen (und lauthals mitsingen). An ein Einschlafen ohne Geschichte, war absolut nicht zu denken. Niemals. Weder für mich, noch für meine beiden Schwestern — mit denen ich mich beim Kassette-umdrehen immer abgewechselt habe.

Womit wir beim nächsten Punkt angelangt sind:

WIR lieben Geschichten.

Und das ganz offensichtlich schon immer. Jonathan Gottschall, Autor von The Storytelling Animal, sagt:

“We are, as a species, addicted to story. Even when the body goes to sleep, the mind stays up all night, telling itself stories.” Storytelling ist seiner Meinung nach in unsere DNA geschrieben (“Storytelling is what makes us human.,” 2014).

Die Besten darin, wunderschöne Geschichten für Jung & Alt zu erzählen, sind die Leute bei Pixar. Sie jedoch behaupten: „We are all Storytellers!“ und erklären das dadurch:

„Humans have been telling stories since we could speak, probably before. We tell stories around the campfire, we write plays, we write novels, short stories. We make movies, we take photographs, tweet to each other, the list goes on. The power of story is that it has an ability to connect with people on an emotional level.“ (Pixar in einer Box à The Art of Storytelling, 2017)

Pixar schafft es mit seinen Geschichten jeden zu erreichen, zu berühren, zu bewegen, zum Lachen zu bringen, zum Weinen. Weniger mit Technologie, als vielmehr mit großartigen Geschichten, die überall auf dem Planeten funktionieren, unabhängig von Kultur, Lebensalter oder sozialem Status. (Pyczak, 2017)

Der Erfolg gibt Pixar Recht: Wir alle lieben die Geschichten von Wall-E, Nemo und Co.

Warum aber ist das so?

Bei der Suche nach dem Grund für dieses warum, kommt man an dem Amerikaner Joseph Campbell nicht vorbei. Er studierte weltweit Menschen, Kulturen und ihre Mythen, um Gemeinsamkeiten zu identifizieren. Seine Ergebnisse schrieb er in dem Buch „The Hero with a Thousand Faces“ nieder — denn genau darin liegt seiner Meinung nach das Erfolgsrezept guter Geschichten: Ein Hauptcharakter wird von seiner Gemeinschaft vertrieben, er macht sich auf den Weg, auf dem er verschiedene Hindernisse überwinden muss. Schließlich kehrt er mit veränderten Perspektiven zu seinem Volk zurück.

So einfach soll das sein? Ja, je länger ich darüber nachdenke, desto mehr trifft dieser Aufbau tatsächlich auf viele meiner Lieblingsfilme zu: Der Zauberer von Oz. Die unendliche Geschichte. Interstellar. Überall findet die Heldenreise statt.

Ok, zurück zu der Frage nach dem Warum.

Patrick Moreau begründet „Warum Geschichten das effektivste Mittel menschlicher Kommunikation sind“ durch folgende 3 Theorien:

1. Geschichten transportieren uns in eine andere Welt. (Narrative Transportation)
Geschichten hören, lesen oder sehen ist wie reisen. Wenn man sich wirklich darauf einlässt, verlässt man dabei nicht nur physisch, sondern auch psychisch seine gewohnte Umgebung und kann sich selber dadurch neu erfinden. Neue Seiten an sich selbst entdecken. Das gleiche schaffen Geschichten: Je intensiver man Geschichten erlebt, umso weniger nimmt man von seinem Umfeld wahr und umso mehr verändert sich die eigene Sicht auf Dinge. Dabei ist es egal, ob die Geschichte wahr oder erfunden ist.

2. Geschichten haben eine unglaubliche Fähigkeit die Zuschauer emotional zu bewegen. (Emotional Gravity)
Zur Ausführung dieser zweiten Theorie wird es kurz wissenschaftlich: Vor einiger Zeit nämlich entdeckten italienische Wissenschaftler während sie Gehirnstudien mit einem Affen durchführten, das Spiegelneuron. Diese spezielle Gehirnzelle wird aktiviert, wenn man jemanden dabei beobachtet, wie er/sie etwas macht und wir das so empfinden, als würden wir dies gerade selber tun. Heißt für das Storytelling: Wenn Geschichten eine sehr emotionale Hauptfigur haben, ist die Wahrscheinlichkeit höher, dass der Zuschauer dessen Emotionen selber fühlt und sich seine Sicht auf Dinge nachhaltig verändert.

3. Geschichten machen uns zu Augenzeugen. (2+2 statt 4)
Geschichten geben uns für eine gewisse Zeit Einblicke in das Leben von jemand anderem. Wir werden zum Zeugen seiner Welt und bekommen die Gelegenheit, unsere eigenen Gedanken über seine Handlungen zu machen und individuelle Schlüsse zu ziehen. Andrew Stanton, Storyteller bei Pixar, legt uns deshalb die 2+2 statt 4 Regel ans Herz: „Make the audience put things together. Don’t give them four, give them two plus two.“ Niemand möchte gesagt bekommen, was er zu denken, zu tun und zu fühlen hat, deshalb sollte man nie die ganze Palette an Lösungen bieten und viel Raum für eigene Interpretationen lassen.

Moreau kommt zu dem Ergebnis, dass Geschichten beispiellos in ihrer Fähigkeit sind, Menschen zusammen zu bringen, ihr Herz und ihre Seele zu erreichen.

Das haben auch Unternehmen erkannt.

MARKEN lieben Geschichten.

Die Zauberworte heißen Content Marketing und Storytelling. Wobei das eine ja auch irgendwie das andere ist. Für die Recherche zu diesem Post habe ich in meiner Fachliteratur gestöbert und bin dabei auf folgende Definition gestoßen: Laut cmf (Content Marketing Forum) ist Storytelling „das Vorantreiben strategischer Geschäftsziele mit redaktionellen Inhalten“. Und Seth Godin, Autor von „All Marketers are Liars“, sagt:

„Das Größte, was eine Marke tun kann, ist eine starke Story zu erzählen“.

Wo er Recht hat, hat er Recht. Zwei aktuelle Beispiele, die gerade viral große Aufmerksamkeit erfahren und sich lustigerweise in ihrer Idee stark ähneln — nichtsdestotrotz aber beide gut gemacht sind: Zum einen der Spot „The Lunchbox“ von Kitchen Leo Burnett Norway für ein Jugendamt und zum anderen von Jung von Matt Alster der Spot „Leos Geheimnis“ für SOS-Kinderdorf Deutschland. In beiden Videos ist ein kleiner Junge in der Hauptrolle: Bei „The Lunchbox“ bekommt der Bub die Pausendose von seinen Mitschülern aufgefüllt und bei „Leos Geheimnis“ schenkt der Junge seine Brotzeit an ein kleines, armes Mädchen. Definitiv zwei stark gemachte Videos mit einer emotionalen Geschichte und toller Musik untermalt.

Leos Geheimnis — von Jung von Matt Alster
The Lunchbox — von Kitchen Leo Burnett

Im Allgemeinen ist die Herangehensweise von Storytelling als Werbemittel zwar — bis auf dieses Beispiel — oft unterschiedlich, aber die Intention ist immer die selbe: Es soll eine emotionale Bindung zur Marke hergestellt und ihre Verknüpfung mit bestimmten Werten erreicht werden (z.B. Coca-Cola mit Happiness). Mithilfe guter Stories wollen Marken sich von ihrem Wettbewerb abheben, ein klares Profil gewinnen und Begehrlichkeiten wecken. Im Idealfall gipfelt diese Markenfaszination in einer Markenidentifikation, die dank Digitalisierung und Social Media zu Engagement und Interaktion führt (Scheffler, 2016).

Heißt im Klartext: Wenn uns der Spot „Leos Geheimnis“ zu Tränen rührt und wir deshalb eine Spende an SOS-Kinderdorf richten, dann sollen wir bitteschön auch auf Instagram und Facebook darüber berichten, so dass auch alle unsere Freunde (bzw. Follower) davon erfahren, sie ein schlechtes Gewissen überkommt und sie anschließend auch eine Spende an SOS-Kinderdorf richten, dann darüber tweeten und… So lautet zumindest der simple Plan der Marketer und so (oder so ähnlich) funktioniert Marketing eben heutzutage.

Fakt ist, dass gutes Storytelling ein Unternehmen menschlicher macht und es den Mitarbeitern erlaubt, eine Beziehung zu ihren Stakeholdern aufzubauen (Eichmeier & Eck, 2014). Laut einer Adobe-Studie, die bereits vor vier Jahren veröffentlicht wurde, wird für rund 73% der Deutschen Werbung erst interessant, wenn die Story, die zum Produkt erzählt wird, originell ist. Da vier Jahre im Digitalen Marketing ja quasi ein halbes Jahrhundert sind, ist anzunehmen, dass die Zahl heute noch höher ist. Statt platten, leeren Werbeversprechen und gephotoshoppten „Getty-Werbegesichtern“ möchten die Menschen heute von Werbung unterhalten werden und echte Menschen in der Hauptrolle sehen (Löffler, 2014).

Und warum jetzt die Bildergeschichte am Anfang?

Weil sie genau das widerspiegelt, was ich mit diesem Blogpost sagen möchte: Geschichten gibt es überall. Wenn man jedoch nur das Offensichtliche erzählt, bleiben diese Geschichten ganz sicher immer leer und langweilig. Stattdessen gilt es, mit weit geöffneten Augen und Ohren durchs Leben zu marschieren. Und meistens muss man ein, zwei Stufen weiter (oder wie in meinem Fall in den Keller) gehen. Hinter das Offensichtliche blicken. (Schrank-)Türen öffnen. Abwarten. Momente auf sich wirken lassen. Vielleicht von vorn beginnen und weitersuchen. Aber irgendwann entdeckt man die Idee. Und auch wenn sie zunächst noch so klein und unbedeutend erscheint, können aus ihr wunderschöne Geschichten entstehen. So wie meine drei Koffer und ihr wertvoller Inhalt.

PS: Während des Schreibens habe ich mich gefragt, wann ich aufgehört habe, Hörbücher zu hören. Ich sollte unbedingt wieder damit beginnen. Ein bisschen Platz ist in den Koffern ja noch 😉 …

PPS: Meine Lieblings-Wiederentdeckung im TKKG-Koffer ist die Kassette „Sigi’s 90 Erzähl-Minuten“ auf der meine damals 6-jährige Schwester 90 Minuten lang ihre eigenen Geschichten erzählt 😂 … Storytelling at its best!

Dieser Blogpost entstand im Fach „Crossmediales Storytelling“ bei Hubert Weitzer im Studium Content-Strategie/Content Strategy #COS16.

Literaturverzeichnis:

Storytelling is what makes us human. (2014, February 12). [Blog]. Retrieved June 15, 2017, from http://blog.storyandheart.com/blog/2014/2/12/storytelling-is-what-makes-ushuman#.WUL1-cnnpE4

Pixar in einer Box -> The Art of Storytelling. (2017, January 23). [Khan Acadamy]. Retrieved from https://de.khanacademy.org/partner-content/pixar/storytelling/we-are-allstorytellers/v/storytelling-introb

Pyczak, T. (2017, February 20). Storytelling bei Pixar — Ein Tutorial [Blog]. Retrieved from https://www.strategisches-storytelling.de/storytelling-bei-pixar-ein-tutorial/

Moreau, P. (2016). The Story of Story.

Scheffler, H. (2016). STORY. Content-Marketing und Storytelling — nur ein Hype? absatzwirtschaft, (12/2016). Retrieved from http://www.fachmedien.de/absatzwirtschaftausgabe-12–2016

Markus, W. (2017, June 14). Jung von Matt produziert Pausenbrot-Dublette. Retrieved June 18, 2017, from https://www.wuv.de/agenturen/jung_von_matt_produziert_pausenbrot_dublette

Eck, K., & Eichmeier, D. (2014). Die Content-Revolution im Unternehmen. Freiburg im Breisgau: Haufe-Lexware. Retrieved from http://www.amazon.de/Die-Content-Revolution-Unternehmen-Perspektiven-Content-Marketing/dp/3648056174

Löffler, M. (2014). Think Content! : Grundlagen und Strategien für erfolgreiches Content — Marketing (1st ed.). Galileo Press.

--

--

Andrea Jall

art director & photographer & content strategy student ♡ graphic design & architecture ♡ travelling & homecoming