Warum ich als Journalist hoffe, dass sich Facebook nochmal neu erfindet

Benja Zehr
7 min readMar 23, 2017

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tl;dr Die traditionellen Medien sind stark abhängig von Facebook und eine Alternative ist nicht in Sicht. Sie erhalten enorm viel Traffic von der Plattform. Indem Facebook den Algorithmus verändert, versucht es sich selbst zu retten, während den Medien vorerst nichts anderes übrig bleibt, als mitzuziehen.

Dieser Text ist die Verschriftlichung meines Inputs am 23. Social Media Snack in St.Gallen vom 23. März 2017.

Eines vorab: Diese Abhängigkeit kann und soll man kritisch sehen, doch darum geht es in diesem Text nicht. Facebook ist für die Medienhäuser die wichtigste Plattform. Dort erreichen sie ihr Publikum. Und dafür können sie dankbar sein.

Keine vergleichbare Plattform in Sicht

Keine andere Plattform ist für die Verbreitung von Journalismus so gut geeignet wie Facebook und wer als Journalist Facebook als Gegner sieht, hat das Internet nicht verstanden. (Das Leistungsschutzrecht lässt grüssen.)

  • Snapchat, das allen Sozialen Medien das fürchten gelehrt hat die letzten Jahre, ist zwar nicht komplett ungeeignet, aber doch sehr schwer mit Journalismus zu bespielen. Viele Funktionen, die für ein professionelles Erstellen und Auswerten von Inhalten nötig wären, werden ganz bewusst nicht eingeführt. Snapchat soll eine private Zone unter Freunden bleiben.
  • Instagram hat mit den «Stories» seine 1:1 Kopie von Snapchat recht erfolgreich auf Kurs gebracht. Mit einem Wisch gelangt man auf die Website des Story-Autors – ein grossartiges Feature für Medien. Snapchat hat sich bisher geweigert, dies einzuführen. Doch die meisten Instagram-User suchen in der App keine Nachrichten und sind wenig empfänglich.
  • Twitter möchte zwar nun ebenfalls einen Algorithmus einführen, droht aber damit seine eigene Fanbase zu verärgern und wird es wohl kaum schaffen, ein neues Publikum von relevanter Grösse dazu zu gewinnen.

Warum mir mein eigenes Verhalten Angst macht

Ich bin ein sehr intensiver Facebook-Nutzer. Doch in letzter Zeit verspürte ich viel weniger den Drang, das Handy zu zücken und mich durch meinen News Feed zu scrollen.

Und nicht nur das. Ich verspüre auch viel weniger Lust, mich anderen auf Facebook mitzuteilen. Aber wieso? Und ist dies nur ein subjektiver Eindruck oder lässt sich das mit Zahlen belegen?

Als Datenjournalist wollte ich es genauer wissen. Deshalb habe ich mir eine Kopie meiner Facebook-Daten heruntergeladen (So geht’s) und meine eigenen Posts analysiert:

Und tatsächlich. Habe ich in meinem Rekordjahr 2011 noch 459 Posts abgesetzt, waren es letztes Jahr noch 228. Weniger als die Hälfte.

Erstmal dachte ich mir nicht viel dabei. Meine berufliche Situation hat sich in dieser Zeit verändert und ich dachte, ich sei bestimmt ein Einzelfall. Doch dann stiess ich auf diesen Artikel und mir wurde einiges klar.

Ich nicht allein bin mit meinem Verhalten. In einer Langzeitbeobachtung stellt die Agentur Mavrck nämlich fest, dass Facebook User 2016 im Vergleich zum Vorjahr 30 Prozent weniger gepostet haben!

Bereits zwischen 2014 und 2015 war diese Zahl, die sogenannten «Original Broadcast Sharings», um 21 Prozent gesunken.

Und das ist etwas, was mir als Journalist Angst macht:

Wenn Facebook kein Ort mehr ist, wo man mit Freunden in Kontakt bleibt, sondern nur noch ein Ort wo Unternehmen um die eigene Aufmerksamkeit buhlen, geht man nicht mehr gerne hin.

Wir Medien möchten die Menschen aber gerne weiterhin dort erreichen.

Facebook hat ein Problem

Mavrck hat nach eigenen Angaben 25 Millionen Facebook Posts von Facebook-Usern (nicht Seiten) analysiert und Monat für Monat gemessen, wie viele Engagements (Likes, Reactions, Shares) ein Post erhält:

Gut sichtbar: Facebook hat das Problem erkannt und versucht, Gegensteuer zu geben. So hat es im April 2015 ein erstes Mal den Algorithmus verändert, um private Facebook-Posts gegenüber jenen von Seiten im News Feed zu priorisieren. Im Juni 2016 erfolgte ein zweiter, ähnlicher Eingriff in den Algorithmus. Konkret: Wenn man durch den Newsfeed scrollte, sah man plötzlich wieder mehr Ferienfotos von Freunden und weniger Videos von 9Gag & Co.

Dies hat dazu geführt, dass die Reaktionen pro persönlichem Post während den letzten Jahren stabil geblieben sind. Aber diese Analyse beschränkte sich auf Posts von Privatpersonen. Wie sieht das bei Medienhäusern aus, die bei diesen Algorithmus-Änderungen ja jeweils an Gewicht verloren?

Auswirkungen auf SRF News

Um das herauszufinden habe ich die Posts der letzten zwei Jahre von SRF News analysiert. Dabei habe ich mich auf die Anzahl «Impressions» (so oft ist der Post bei Usern in der Timeline aufgetaucht) pro gepostetem Link (keine Bilder, Videos etc.) konzentriert und für jede einzelne Woche einen Durchschnittswert (Median) berechnet:

Wenn man sich das so ansieht, hat man nicht das Gefühl, dass die Algorithmus-Änderungen eine besonders grosse Auswirkung auf die Reichweite von SRF News hatte. Seit April 2015 konnten wir die «Impressions» pro Post im Durchschnitt deutlich steigern.

Doch ein vollständigeres Bild der Wahrheit erhält man, wenn man diese Zahlen in Relation zur Anzahl Likes insgesamt setzt.

Während dieser Zeit hat sich nämlich die Anzahl Likes von SRF News fast verfünffacht. Und so wird einem klar: Die Algorithmus-Änderungen haben sehr wohl eine starke Auswirkung auf die Reichweite eines Medienhauses.

Wie reagieren?

Der News Feed Algorithmus ist der heilige Gral Facebooks. Dass Medien diesen zu ihren Gunsten beeinflussen, ist unrealistisch und angesichts der oben erwähnten Überlegungen vielleicht auch gar nicht erstrebenswert.

  • Szenario 1: Mehr Facebook
    Möchte ein Medienhaus weiter voll auf Facebook setzen und sich eine möglichst gute Stellung im News Feed der User erkämpfen führt kein Weg an gutem Community Development vorbei. Wenn ihr auf der Suche nach guten Beispielen in diesem Bereich seid, dann findet ihr die hier, hier und hier. Ich gehe davon aus, dass Facebook den «Gruppen» demnächst mehr Priorität geben wird, um solche Community-Aktivitäten zu stärken.

Anmerkung zu Szenario 1: Es ist kein Geheimnis, dass Facebook Videos und ganz besonders Live-Videos sehr hoch priorisiert im News Feed. Viele Medienhäuser haben sich also daran gemacht, fleissig Videos zu produzieren (SRF News inklusive).

Doch an dieser Stelle muss man sich fragen, wieso Facebook dies gemacht hat. Ist es weil die User Videos lieben und nicht genug davon kriegen können? Oder ist es, weil Facebook möchte, dass die User möglichst viel Zeit auf der Plattform verbringen und nicht auf Youtube etc. Wohl eher letzteres, sagt diese Untersuchung.

Medienhäuser sollten sich also gut überlegen, ob es wirklich Sinn macht, gewisse Inhalte zu produzieren oder ob man es nur des Algorithmus willens macht.

Szenario 2: Weniger Facebook
Sollte Facebook wirklich ein sinkendes Schiff sein – und eigentlich auch sonst – sind Medienhäuser gut beraten, sich nach Alternativen umzusehen. Diese existieren bereits (zum Teil schon ganz lange).

Ich bin mir nicht sicher, ob sich Bots in der News-Berichterstattung so rasch durchsetzen werden. Experimentieren lohnt sich aber auf jeden Fall.

Mehr Potential sehe ich in Slack. Tsüri macht’s vor wie man kleine Gruppen mit einem sehr spezifischen Interesse zusammenbringt. Die Technologie fördert gleichzeitig den Austausch unter den Usern und zwischen Usern und Medium.

Der Newsletter erlebt im Moment gerade seinen zweiten Frühling. So hat beispielsweise jeder Autor beim holländischen Correspondent einen persönlichen Newsletter, eine Art Tagebuch, in dem er Interessierte in die Recherche einbeziehen und über deren Verlauf auf dem Laufenden halten.

Unabhängig von alledem kann es auch eine Strategie sein, voll auf die totgesagte Homepage zu setzen, wie dies zum Beispiel die Zeit sehr erfolgreich macht.

Der Anfang vom Ende?

Versteht mich nicht falsch. Facebook wächst immer noch beeindruckend. Nach wie vor schafft es die Plattform, jeden Monat mehr aktive Nutzer an sich zu binden – auch in Europa. Ende 2016 waren dies 349 Millionen!

Ich rede davon, ob wir womöglich bald «Peak Facebook» erreichen. Oder um es auf der Hype-Kurve darzustellen, die auf viele technologische Entwicklungen so gut zutrifft:

Obwohl: Ob diese Kurve auch für Facebook genau so verlaufen wird? Meine Hand dafür ins Feuer legen würde ich nicht.

Dafür haben sie sich schon zu oft neu erfunden.

Update vom 24. Oktober 2017: In 6 Ländern () testet Facebook ein neues System. Die Inhalte von Seiten werden nur noch im Entdeck-Modus angezeigt. Im zentralen «News Feed» erscheinen nur noch Beiträge von Privaten. (Quelle)

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