Was passiert mit Experten in AI-unterstützen Unternehmen?

Die Geister, die ich rief …
Veränderung von Führung und Organisationen in AI-unterstützten Arbeitswelten

Anja Wittenberger
8 min readJun 27, 2017

Wie so oft haben technische Möglichkeiten eine Reife erreicht, die nun sinnvoll nutzbare Anwendungsfälle zulässt, doch wir sind überhaupt nicht darauf vorbereitet, was das für Auswirkungen hat und wie wir uns all dem nähern wollen und können.

Mit dem Einsatz von künstlicher Intelligenz (AI) in der Arbeitswelt stehen wir noch am Anfang und doch ahnen wir, dass uns tiefgreifende Veränderungen in unseren Arbeitsweisen und der Art, wie Organisationen funktionieren, bevorstehen.

Erst physische und jetzt kognitive Fähigkeiten — der Mensch optimiert sich weg.

“Jetzt geht’s den Whitecollar-Arbeitern an den Kragen,” fand ich eine recht heftige Aussage, die ich beim Bitkom Arbeitskreis Artificial Intelligence am 21.06.2017 zwischen Kaffee und Keksen zu hören bekam.

Man kann den Einsatz von kognitiven Systemen natürlich als Angriff auf die Teppichetage und elitäre Wissensarbeiter sehen. Man kann diese Entwicklung aber auch einfach als das werten was sie ist: Ein evolutionärer Schritt, der uns nicht nur gesellschaftlich sondern besonders in unseren Arbeitswelten vor neue Herausforderungen stellt.

Letztlich sind Maschinen inzwischen in der Lage auf Basis vielfältiger Daten Fragen zu beantworten, Muster zu erkennen, Zusammenhänge zu verstehen und mittels Training und Feedback von Menschen zu lernen. Und sie können im Vergleich zu uns Daten um ein vielfaches schneller und genauer verarbeiten.

Mit diesem Artikel unternehme ich den Versuch konkrete Fragestellungen zu beleuchten und Anregungen zu geben, wie man sich dem Thema nähern kann.

Praxis: Der KnowledgeBotOE läuft mir den Rang ab

Ich selbst befinde mich gerade mitten in einem Experiment und spüre am eigenen Leib was es bedeutet mit AI zu kooperieren.

Wir arbeiten bei AviloX gemeinsam an unserer Organisation. Dazu treffen sich einmal im Monat alle AviloXer im Leipziger Coworkingspace Basislager. Da ich in meinem Team der Fachcrack für agile Prinzipien und kollegiale Führungsansätze bin, habe ich hier die Aufgabe übernommen, diesen Entwicklungsprozess voranzutreiben und fachlich zu beraten.

AviloX experimentiert mit OE-Ansätzen: agiler und kollegial geführter Unternehmen (Quelle: AviloX GmbH)

Ich fühle mich in der Expertenrolle sehr wohl. Ich erlebe Wirksamkeit und das motiviert mich.

Doch wichtiger ist es mir, dass wir als AviloX Chancen die wir bekommen, uneingeschränkt nutzen können. Ein Fachcrack als alleiniger “Held” macht uns dabei abhängig und unflexibel. Deshalb haben wir nach einer Lösung gesucht, die Fachexpertise so schnell wie möglich im Team zu verbreiten.

integrierter Chatbot in O365-Teams von Microsoft (Quelle: AviloX GmbH)

Wir trainieren jetzt in unserer digitalen Arbeitsumgebung einen textbasierten Chatbot, der Fachfragen zum Themenfeld (OE@AviloX und zu agil, kollegial, evolutionär integral, selbstorganisiert) beantworten kann. Und was soll ich sagen? Klar ist es eine schmerzliche Erfahrung, dass die Kollegen jetzt lieber den Bot fragen ;-).

Interessant ist, welche Evolution ich selbst gerade erlebe. Ich werde vom Experten zum Trainer und im Verlauf des Trainingsprozesses vertiefe ich meine Expertise, da ich mich mit vielfältigen Fragestellungen nochmal ganz neu auseinandersetze.
Und das Beste: Es verschafft mir Freiraum für andere Themen und allen AviloXern unbegrenzten Zugang zu unserem Wissen.

AI-gestützte Entscheidungsprozesse einführen

Angelehnt an das Praxisbeispiel von Deep Knowledge Venture, was die KI VITAL als Mitglied des Vorstands an Investmentempfehlungen beteiligt, schauen wir mal hinein ein ganz konkretes Szenario aus dem Alltag einer Führungskraft.

„Herr Müller, was sagen Sie dazu zukünftig in Ihrem Bereich AI-gestützte Entscheidungen zu treffen?“

Szene 1: Die Gewinn-Verlust-Rechnung

Natürlich ist Herr Müller von den Möglichkeiten total begeistert, dass er dann schneller genauere Entscheidung treffen kann. Doch er ahnt auch, dass diese tollen Möglichkeiten Auswirkungen haben werden, für die er Lösungen finden muss.

Szene 1: Die Gewinn-Verlust-Rechnung (Quelle: AviloX GmbH)

Und das ängstigt ihn, denn er ist für ein ganzes Team an Analysten und Experten verantwortlich, die dann ja vielleicht nicht mehr gebraucht werden.

Ganz so schwarz-weiss ist es nicht. Ich rate Herrn Müller gerade durch meine eigene Erfahrung, dass er den Trainingszeitraum mit seinem Team ganz bewusst nutzt. Es ist wichtig, diese intelligenten Maschinen anzuerkennen und in der Zusammenarbeit des Teams zu integrieren.

Die Menschen die am Training beteiligt sind, entwickeln ihre eigenen Fähigkeiten direkt weiter. Somit ist es möglich neue Einsatzfelder für sich zu finden und schrittweise zu erschließen.

Szene 2: Vertrauen und Diskurs

Ein anderes Thema ist, dass Herr Müller vielleicht doch mal anderer Meinung ist als die kluge Maschine. Doch darf er das rational richtige denn überhaupt in Frage stellen, weil sein Bauchgefühl ihm schon öfter den Weg gezeigt hat?

Szene 2: Vertrauen und Diskurs (Quelle: AviloX GmbH)

Bisher entscheidet er viele Dinge mit seinem Team, weil er dadurch auch prüfen kann was wirklich sinnvoll ist.
Apropos entscheiden … wer ist eigentlich fürs Entscheiden wichtig?

Ich zeige hier mal zwei Ansätze auf, wie mit dem Thema „Entscheidungen“ in Organisationen umgegangen werden kann:

Frederique Laloux hat Organisationen beobachtet, die er als integral evolutionäre Organisationen eingestuft hat. Diese nutzen bei Entscheidungen ein anderes Verfahren als die Entscheidungshierarchie. Entscheidungsfindung findet nicht an wenigen ausgewählten Stellen statt, sondern in mittels eines Beratungsprozesses und der anschließenden Verantwortungsübernahme. Jeder kann prinzipiell machtvoll handeln und Entscheidungen treffen. Jedoch muss vor der Entscheidung mindestens ein Vertreter, auf den die Entscheidung Auswirkungen haben wird, konsultiert werden. Sollte dem Entscheider ggf. benötigtes Expertenwissen fehlen, hat er zusätzlich die Pflicht sich mit einem Experten zu beraten.

Eine zweite Praktik nach dem Ansatz der kollegialen Führung (von Bernd Oestereich und Claudia Schröder) geht zweistufig vor. Im ersten Schritt bestimmt das Team kollegial, wer entscheiden soll. Dabei kann man sich bei der Auswahl daran orientieren, welchen Grad an Unvorhersagbarkeit der Auswirkungen und Vielfalt an Entscheidungsmöglichkeiten es gibt.

https://kollegiale-fuehrung.de/portfolio-item/fuehrungsfoki/

Sind die Auswirkungen einer Entscheidung nicht vorhersagbar und es gibt nur wenige Möglichkeiten, befinde ich mich in der Grafik oben links. Hier braucht es jemanden, der den Mut hat, zu entscheiden. Ein eher sicherheitsbedürftiger Mensch ist an der Stelle einfach ungeeignet.

Habe ich allerdings eine hohe Vielfalt an Möglichkeiten und sind Auswirkungen prinzipiell vorhersagbar, dann bin ich in der unteren rechten Ecke. Und genau an der Stelle geht es um Wissen. Hier hat die AI ihre Stärke und übertrifft uns Menschen gegebenenfalls. Daher sollte sie hier in den Entscheidungsprozess einbezogen werden, wenn es dem Team zielführend erscheint.

Was Organisationen lähmt ist, wenn niemand entscheidet oder Entscheidung mit Vorwänden aufgeschoben werden. Und sie wissen selbst, wie oft das vorkommt.

Szene 3: Menschen- und Maschinenführung

Herr Müller denkt darüber nach, dass es einen hohen Nutzen fürs Team und das Unternehmen geben wird, wenn sie diese AI einsetzen. Und schon stellt sich ihm eine wichtig und ganz und gar nicht triviale Frage: Wie bewerte ich die Kollegen im Team, wenn die AI so viel intelligenter und schneller ist?

Szene 3: Menschen- und Maschinenführung (Quelle: AviloX GmbH)

Und hier sind wir bei der individuellen Leistungsbewertung. Für mich persönlich ein Unding in einer Arbeitswelt, in der nur ein gut funktionierendes und vertrauensvoll zusammenarbeitendes Team Erfolg haben kann.

Gehen wir mal weg von der Leistungsbewertung hin zum menschlichen Miteinander.

Harari schreibt in seinem Buch “Homo Deus”, dass historisch betrachtet diejenigen Tiere sich durchsetzen, die am effektivsten kooperieren. Die Fähigkeit in großen Gruppen effektiv zu kooperieren, hat uns Menschen ermöglicht, uns evolutionär durchzusetzen. Sowohl im Tierreich als auch zwischen den Menschengruppen.

Eine Grundlage für effektive Kooperation ist die Wertschätzung des Anderen. Bewertung und Wertschätzung sind zwei völlig verschiedene Dinge. Und genau um Wertschätzung geht es, wenn wir die vielfältigen Stärken im Team nutzen möchten. Es ist für viele von uns selbstverständlich sich mit Respekt und Wertschätzung zu begegnen. Wir alle kennen jedoch auch Beispiele, wo die Praxis in Organisationen trotzdem anders aussieht.

Es ist wichtig den Menschen in seiner Ganzheit zu akzeptieren, die Stärken zu erkennen und zu fördern.

Herr Müller hat zudem in diesen bewegten und nicht vorhersagbaren Zeiten eine nicht ganz leichte Aufgabe zu lösen: Zuversicht ausstrahlen

Das ermöglicht ihm seine Kollegen auf diesem Weg gut mitzunehmen. Dabei ist es unausweichlich, Unsicherheiten zuzulassen und gemeinsam offen zu diskutieren. Nur so kann im Team und bei allen Kollegen Entwicklung stattfinden und eine vertrauensvolle Zusammenarbeit mit der AI möglich werden.

Hr. Müller: “Das finde ich eine gute Idee …”

Letzter Akt: eine Führungskraft mit Zuversicht & Klarheit (Quelle: AviloX GmbH)

Wie packen wir`s an?

Ein ganzes Vorgehensmodell auszupacken, finde ich jetzt etwas zu übertrieben. Doch die Geschichte von Herrn Müller zeigt, dass wir gemeinsame Antworten brauchen.

Deshalb hier ein paar Erfolgsfaktoren für die evolutionäre Entwicklung von Organisationen und Menschen im Arbeitskontext „zum mitnehmen“ ;-)

Erfolgsfaktoren für evolutionäre Entwicklung von Organisationen und arbeitendem Menschen (Quelle: AviloX GmbH)

Die Geister die ich rief, werde ich nun nicht mehr los. Es bleibt uns nix anderes übrig als mit Ihnen umzugehen und dabei ist es ein guter Anfang, sie zu entzaubern.

Lernen fördern

Da geht es zum Einen darum Kompetenzen zu entwickeln, überhaupt erstmal zu verstehen wie solche Technologien funktionieren, wie Datenströme fließen und was mit welchen Daten in welcher Form passiert. Um so ein Gefühl dafür zu bekommen, welche Auswirkung mein Handeln hat. Sei es eine unternehmerische Entscheidung zu treffen oder einfach nur ein Bild im Internet zu teilen. Oder auch um zu sehen, welche Möglichkeiten für die Ausgestaltung der Zusammenarbeit in Organisationen es durch solche künstlichen Intelligenzen gibt.

Es ist notwendig permanente Lernzyklen in den Arbeitsalltag zu integrieren und den Austausch über Abteilungen und Fachdisziplinen zu fördern.

Beginnen kannst Du mehr informellen Austausch sowohl in der Vernetzung online (z.B. Yammer, Slack) also auch in Veranstaltungen in Anwendung interaktiver Methoden (z.B. Open Space, World Café) zu ermöglichen. Lade einfach mal einen Experten ein, den alle mit ihren neugierigen Fragen löchern können. Nur durch Annäherung können wir Chancen und unsere neuen Entwicklungsfelder erkennen.

Technik sinnvoll und wirksam adaptieren

Nur weil etwas technisch möglich ist, muss es noch nicht sinnvoll geschweige denn nützlich sein.

Daher solltest Du mit deinen Kollegen nach ganz konkrete Anwendungsfälle Ausschau halten, die in der Praxis einen wirksamen Effekt auslösen. Dabei ist weniger oft mehr. Ein kleines Experiment, bei dem man auch mal scheitern darf, bringt erste Erfahrungen und man merkt schnell was praktisch überhaupt machbar ist.

Einfach mal ausprobieren, wie es sich anfühlt einem Chatbot etwas beizubringen und sich daran zu freuen, wie er schlauer wird.
Was keinen Sinn macht oder nicht funktioniert, kann man dann einfach wieder lassen. Scheitern dürfen verringert die Hürden zum loslegen. So wagt man das Fremde und Neue eher, da es nicht den Leistungsdruck gibt, die Lösung gleich als neuen Standard einführen zu müssen.

Diese wertvollen Lernerfahrungen ermöglichen eine schrittweise Entwicklung ganzheitlicher und wirksamer Lösungen.

Verantwortlich und Selbstwirksam sein

Und somit schließt sich der Kreis zu New Work wieder einmal.

Nur wenn wir sich jeder Einzelne von uns verantwortlich macht diese stattfindende Entwicklung mitzugestalten, werden neue Berufsbilder wachsen können und ein neues Verständnis für die Zusammenarbeit zwischen Menschen und Maschinen kann sich formen.

Wie seht Ihr das? Was sind Chancen in der Zusammenarbeit mit KI in eurer direkten Arbeitswelt? Wer hat schon Erfahrungen gemacht, die er hier mit uns teilen will? Freu ich auf Eure Beiträge :-)

PS: Danke Lydia für deine zeichnerische Unterstützung beim dem Artikel.

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Anja Wittenberger

Detektivin für wirksame Arbeit (Organisationsgestaltung) >>> mehr zu lesen auf LinkedIN (https://www.linkedin.com/in/anja-wittenberger/)