Den Koran verstehen: Historischer Kontext und moderne Interpretationen

Muhammed Bayraktar
14 min readSep 1, 2023

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Das heilige Buch des Islam, der Koran, ist seit jeher das Hauptzentrum religiöser Debatten und Interpretationen, um religiöse Deutungen und Zusammenhänge zu schaffen. Er gilt vielen als Wort Gottes und bildet die Grundlage des muslimischen Glaubens und Lebens, insbesondere in der heutigen Zeit, für diejenigen, die sich auf praktischer Ebene als praktizierende oder gläubige Muslime identifizieren.

Wie kann dieser Text (der Koran), der wahrscheinlich vor 1400 Jahren in Arabien entstanden ist, im heutigen Kontext richtig verstanden und interpretiert werden? Inwieweit beeinflussen Vorurteile und dogmatische Vorannahmen das Verständnis des heiligen Textes? In der Diskussion soll untersucht und kritisch hinterfragt werden, wie der Koran sowohl von traditionellen als auch von modernen Akteuren verstanden wird. Es wird aufgezeigt, wie wichtig es ist, dem Koran mit einer offenen und undogmatischen Haltung zu begegnen, um seine ursprüngliche Botschaft und Bedeutung zu erfassen. Nur durch ein solches Verständnis können der wahre Geist des Korans und seine Bedeutung für die moderne Welt erfasst werden.

Bei den theologischen Interpretationen, auf die wir uns hier beziehen, geht es darum, herauszufinden, was der Sprecher denkt und welche Absichten er verfolgt. Unter diesen Prämissen diskutieren wir, welcher Ansatz bei dieser Sinnsuche sinnvoll ist. Wir sind nicht an alternativen Ansätzen interessiert, die den Text dekontextualisieren, wie in postmodernen Lesarten, oder an Ansätzen mit einem alternativen Wahrheitsverständnis, das keine Korrespondenztheorie vertritt. Das sind Ansätze, die nur auf den Text gerichtet sind, die uns aber so weit vom Verständnis dieser Texte wegführen, dass sie uns nichts angehen.

Wir beginnen mit der Annahme, dass jede der folgenden Aussagen wahr und richtig ist:

(a) Muhammad hat als reale historische Person existiert.
(b) Er war in der Lage, erfolgreich mit seinen ersten Gesprächspartnern zu kommunizieren.
(c) Diese Kommunikation wurde vom Propheten Muhammad und seinen Zuhörern als göttliche Inspiration (Offenbarung) verstanden.
(d) Diese Eingebungen enthielten religiöse Anweisungen (Gebote) und Erzählungen für ihn und seine Zuhörer.
(e) Wir haben heute den Koran als eine Sammlung dieser inspirierten Aussprüche, die über einen Zeitraum von 23 Jahren rezitiert wurden und zuvor nicht in einem Buch gesammelt und zusammengestellt worden waren.

Ich akzeptiere die hier genannten Prämissen, weil die traditionelle Theologie auf ihnen beruht. Prämisse B kann bezweifelt werden, insbesondere angesichts der großen Kontroverse um die mekkanischen Verse. Prämisse C kann bezweifelt werden, weil wir sie nur im entstandenen Kanon selbst sehen können und es sich um Rückprojizierung handeln kann. Möglicherweise existiert ein solches Verständnis gar nicht. Prämisse D ist fraglich, weil nicht klar ist, welche Rolle und Funktion die Rezitation der Koranverse für die Gesellschaft hatte. Der Koran als Buch existierte nicht und daher war es nicht möglich, sich auf ihn zu beziehen. Dies gilt auch für die Zeit nach dem Ableben des Propheten. Prämisse E wird aktuell in der Islamwissenschaft diskutiert — handelt es sich um einen rein muhammedanischen Text, oder gibt es vor-muhammedische Inhalte und Texte und sogar nach-muhammedische Texte? Diese Frage ist bis heute nicht eindeutig geklärt.

Hier stellt sich die folgende Frage: Wie hat der Prophet als Sprecher, der erzählte, was ihm offenbart wurde, und wie haben seine Zuhörer, die dem Offenbarten zuhörten, diese Mitteilung (Offenbarung) verstanden? Unter den genannten Prämissen wäre es unvernünftig zu behaupten, dass der Prophet und die ersten Adressaten die Botschaft der Offenbarung, alle ihre möglichen Bedeutungen oder die “höheren Zwecke” und Implikationen, die aus dieser Botschaft zu verstehen sind, nicht verstanden haben.

Beispiele für solche höheren Zwecke, die von den ersten Gesprächspartnern angeblich nicht verstanden wurden, sind einige moderne Interpretationen. Zum Beispiel die Idee, dass der Koran ursprünglich die Abschaffung der Sklaverei beabsichtigte, aber seine Zuhörer dies nicht verstanden, und offenbar auch der Sprecher (der Prophet) selbst nicht. Dennoch hielten die Menschen jener Zeit, und damit die Adressaten der Offenbarung, Sklaven, produzierten Sklaven und verkauften Sklaven für den Rest ihres Lebens. Ein weiteres Beispiel: Der Sprecher war eigentlich gegen das Schlagen von Frauen und meinte nicht einmal, dass Frauen geschlagen werden sollten. Doch aus irgendeinem Grund steht das nirgendwo im Text, der ausdrücklich zum Schlagen auffordert. Die modernen Interpreten, die die Bedeutung der Aufforderung zum Schlagen im Text ebenfalls verdrehen, versuchen, die Situation mit Worten wie “Schlagen wird hier eigentlich nicht erwähnt, dieses Wort bedeutet etwas anderes” noch unklarer zu machen. Akzeptieren wir diese Verzerrung und nehmen wir an, dass der Text das Schlagen nicht ausdrücklich erwähnt, müssten wir dann sagen, dass der Prophet, der der Sprecher war, selbst nicht dem gehorchte, was ihm offenbart wurde, und den Menschen um ihn herum erlaubte, ihre Frauen zu schlagen? Oder sollen wir sagen, dass seine Zuhörer, die nicht auf den Propheten hörten, dasselbe taten? Ganz abgesehen davon, dass all diese Interpretationen falsch sind, ist es offensichtlich, dass sie im Widerspruch zu den historischen Tatsachen und der soziologischen Struktur der damaligen Zeit stehen.

Eine weitere Behauptung, die den oben genannten modernen Behauptungen ähnelt, sich aber von ihnen dadurch unterscheidet, dass sie pseudowissenschaftlich ist, ist die Behauptung, dass der Koran die Evolutionstheorie bestätigt oder Aussagen verwendet, die die Evolution bestätigen. Doch irgendwie waren der Prophet, der Sprecher und seine frühen Zuhörer fest davon überzeugt, dass der Mensch aus Lehm oder Ton erschaffen wurde und dass Adam und Eva im Paradies geboren wurden. Nirgendwo erwähnten sie eine alternative wissenschaftliche Sichtweise oder irgendwelche Interpretationen oder Daten, die uns eindeutig dazu zwingen würden, dies der Evolution zuzuschreiben. Das trifft auch zum Beispiel auf die Idee zu, der Koran vertrete eine moderne Kosmologie, wo eindeutig ersichtlich ist, dass er eine nahöstliche-antike Kosmologie vertritt.

Ähnlich verhält es sich mit der Auffassung, dass der Prophet niemals einen anthropomorphen Gott gemeint haben kann, obwohl die Sprache des Korans eindeutig anthropomorph ist. Oder diejenigen, die Koranverse neu interpretieren, weil sie sich in ihren logischen Schlussfolgerungen widersprechen, oder diejenigen, die auf den Koran Dinge wie Moraltheorien projizieren, die der Koran nicht vollständig liefert, und die den Koran nicht für sich selbst sprechen lassen. Solche Beispiele ließen sich zahllos aufzählen, aber die Grundlogik ist dieselbe. Solche Herangehensweisen an diesen Text stellen letztlich die Kommunikationsfähigkeit des Propheten in Frage und damit, wenn man göttliche Inspiration annimmt, sogar Gott selbst. Der vernünftigste Ansatz, den Koran so objektiv wie möglich zu verstehen, ist daher der Versuch, ihn aus der Perspektive des ursprünglichen Zuhörers und Sprechers zu verstehen.

Zu den ersten Gesprächspartnern, denen der Prophet die Koranverse vortrug, gehörten sowohl Gläubige als auch Ungläubige. In den Augen der ersten Adressaten war die Bedeutung dieser Verse sowohl für Gläubige als auch für Ungläubige gleichermaßen verständlich. Aus diesem Grund finden wir im Koran viele Verse, in denen ein Gespräch oder vielmehr eine Debatte zwischen dem Propheten und seinen Gegnern stattfindet. Wenn seine Gegner diese Verse nicht verstanden hätten, wäre es nicht möglich gewesen, diese Diskussion in Gang zu bringen. Um den Koran wirklich zu verstehen, muss man also nicht irgendwelche dogmatischen Voraussetzungen mitbringen oder die Annahme akzeptieren, dass der Text von Gott selbst stammt. Daher muss der Koran eine gleichwertige Bedeutung für den neutralen Leser haben, oder für den Leser, der, auch wenn er gläubig ist, nicht von der dogmatischen Seite des Themas betroffen ist, und nicht anders verstanden wird als der Gläubige.

Jeder andere Versuch, diesen Text zu verstehen, ist lediglich eine parteiische Lesart, eine Projektion späterer Konzepte, Philosophien, theologischer Annahmen und Ideen, die weit von der ursprünglichen Bedeutung des Korans entfernt sind. Dies gilt für die traditionelle Theologie jeder Schule ebenso wie für moderne Lesarten wie die feministische Lesart, die wissenschaftliche Wunderforschung, die Lesart als staatliches Gesetz, als Rechtstext und dergleichen. Das heißt, selbst traditionelle Disziplinen wie die Lehre von den Normen (fiqh usw.) und die spekulative Theologie (kalam usw.) sind in Wirklichkeit Projektionen, die sich vom ursprünglichen Sinn entfernen.

Daher entfernt sich jede Auslegung, die sich vom Propheten und den ursprünglichen Adressaten des Textes entfernt, automatisch von der ursprünglichen Bedeutung des Textes. Es handelt sich also nicht mehr um eine objektive und rationale Verstehensleistung, sondern um eine voreingenommene und typische Interpretation und Deutung, wie sie hier diskutiert wird. Dies liegt daran, dass die später entstandenen klassischen und modernen Interpretationen und die auf ihrer Grundlage gebildeten Konzepte, Ziele und Erwartungen für die ersten Adressaten nicht verständlich waren. Die Bedeutung war nicht in der Gedankenwelt des Sprechers gegeben, der die Sätze aussprach. Welche Gedankenwelt uns gegeben ist, erkennen wir erst durch die Handlungen der Gesprächspartner und des Sprechers. Aber jedes Mal, wenn wir versuchen, uns von ihnen zu entfernen, können wir ihre Gedanken nicht mehr sehen, sie nicht mehr verstehen und sie nicht mehr hinterfragen. Das heißt, wir haben keinen Zugang mehr zu ihren Gedanken. Wenn wir aber Zugang zu diesen Gedanken haben wollen, haben wir Zugang zum Kontext der Spätantike, zum Kontext Arabiens, zum Kontext des Textes (Intertextualität) und zum Kontext seines eigenen Textbündels (Intratextualität). Wir müssen also so vorgehen, dass wir diese Aspekte in unserem Bemühen um Verständnis betonen. Andernfalls bleibt die ursprüngliche Gedankenwelt für uns nur unverständlich. Die Handlungen der Zuhörer und des Sprechers machen uns deutlich, dass sie nicht mit diesen nachträglich abgeleiteten Begriffen ausgestattet worden sind.

Ein mögliches Gegenargument könnte sein, dass der Sprecher des Textes alles weiß (jede mögliche Interpretation). Oder es wird behauptet, dass der Sprecher des Textes in seinen Worten und Gedanken unfehlbar sein muss. Es könnte also argumentiert werden, dass moderne Konzepte, spätere Philosophien und das, was Menschen heute als Wahrheit anerkennen, in diesem Text zu finden sind, oder dass dieser Text zumindest diesen Erkenntnissen nicht widerspricht.

Dieses Argument ist genau die dogmatische Voraussetzung, die hier kritisiert wird, und in diesem Fall ist es sogar selbstwidersprüchlich. Denn wenn der Sprecher des Textes allwissend und unfehlbar in seinen Gedanken und Worten ist, dann ist jeder Folgetext sinnlos und unnötig. Andererseits ist die Frage der Allwissenheit oder Irrtumslosigkeit in der Tat eine Angelegenheit, die in der muslimischen Geistesgeschichte im Hinblick auf ihre Existenz, Bedeutung und Definition diskutiert und erst später in der Theologie entwickelt wurde. Dem Text solche späteren Annahmen aufzuzwingen, ist kein vernünftiger Weg, ihn zu verstehen. Für einen unvoreingenommenen Leser ist es schwierig, von einem allwissenden Sprecher auszugehen, wenn der Text intertextuelle und intratextuell verstandene Aussagen enthält, die darauf hinweisen, dass der Sprecher nicht in der Lage ist, seinen eigenen Wissenshorizont zu überschreiten. Kein Text und keine Ansprache, selbst wenn sie göttlich inspiriert ist, kann etwas anderes bedeuten als das, was der ursprüngliche Adressat damit gemeint hat. Es wäre lächerlich zu behaupten, dass der Prophet, der Sprecher, alle möglichen Interpretationen des Korans, die später abgeleitet wurden, vorausgesehen hat oder dass der Koran dies sogar zulässt. Selbst wenn man eine solche Ansicht akzeptieren würde, wäre die einzige wirklich logische Schlussfolgerung, zu der wir in Bezug auf den Text gelangen könnten, eine agnostische Haltung ihm gegenüber einzunehmen.

Zweifellos liest jeder Leser auf der Grundlage bestimmter Prinzipien. Diese Prinzipien sind vor dem Text gegeben. Sie sind nicht dem Text entnommen. Eine völlig freie objektive Lektüre eines Textes gibt es nicht. Das gilt auch für die vernünftige Lektüre, die ich hier vorschlage. Aber es geht hier um ein nicht-dogmatisches Verständnis des Textes. Eine völlig objektive Lektüre, frei von allen Begriffen, mit leerem Geist, gibt es nicht. Denn der Verstand denkt in Begriffen. Das ist also schon aufgrund der Natur des Menschen unmöglich.

Leider lesen alle dogmatischen Interpreten des Korans, ob traditionell oder modernistisch, den Text durch ihre eigene glaubensorientierte, kulturelle und zeitliche Brille. Sie ignorieren die Intertextualität, den kulturellen Kontext sowie die Konzepte und Überzeugungen des Sprechers. Sie konzentrieren sich nur vordergründig auf den Text und verwenden akrobatische Sprachanalysen und dialektische Wendungen, um vorgefasste Ziele zu erreichen. Leider versuchen sie jedoch nicht, den Text auf nicht-dogmatische Weise zu verstehen, und lassen den Text nicht für sich selbst sprechen, um wirklich zu verstehen, was der Text einmal gesagt haben könnte.

Jeder, der die Bücher oder Artikel der vielen Gelehrten und Autoren gelesen hat, die versucht haben, über das Verständnis der Offenbarung zu schreiben, wird eindeutig mit dieser Tatsache konfrontiert. Sie sind voll und ganz ihren dogmatischen Vorurteilen, ihren philosophischen oder mystischen Positionen und ihren alten Weltanschauungen verpflichtet. Ein kritisches Bewusstsein für diese Voraussetzungen ist bei den meisten von ihnen nicht vorhanden. Dies gilt für die Mehrheit der Gelehrten aller Gruppen, ob Sunniten, Schiiten oder andere Gruppen. Die überwiegende Mehrheit von ihnen hat sich nicht um ein undogmatisches Verständnis bemüht, sondern versucht wiederum, den Text auf der Grundlage ihrer eigenen Vorannahmen zu interpretieren. Diese Texte sind daher nur begrenzt und sehr einseitig hilfreich, um herauszufinden, was “im Kopf des Sprechers” oder im Verständnis der Adressaten gemeint war. Solche Texte sollten natürlich gelesen werden. Bei der Lektüre dieser Texte sollte man sich jedoch darüber im Klaren sein, dass es absurd wäre, zu behaupten, dass der Koran allein durch die Lektüre dieser Texte verstanden werden kann, und man sollte es vermeiden, ein dogmatisches Verständnis abzuleiten.

Wir möchten dies noch einmal betonen, damit es nicht gegen uns verwendet wird: Jede Herangehensweise an das Verstehen eines Textes basiert auf Vorannahmen. Dies ist auch der hier diskutierte Ansatz. Auch die von uns vertretene Auslegung beruht auf Voraussetzungen. In unserer Diskussion beziehen wir uns auf ein Verständnis einer Theorie der Korrespondenz des Wissens, da dies die Annahme der traditionellen Theologie ist. Eine weitere Annahme ist, dass der fragliche Text von einer Person im Arabien des 7. Jahrhunderts verfasst wurde. Wir gehen auch davon aus, dass diese Person sinnvolle Worte formuliert hat, die von ihren Zuhörern verstanden werden konnten.

Wir nehmen jedoch nicht vorweg, woher der Text stammt, ob er göttlichen oder menschlichen Ursprungs ist. Der Text kann aufgrund seiner Geschichte und seines Umfelds behaupten, göttlichen Ursprungs zu sein. Aber um diese Behauptung zu prüfen, müssen wir in der Lage sein, den Text unvoreingenommen zu analysieren, und zwar in dem Sinne, in dem der Sprecher und seine Zuhörer ihn wahrscheinlich verstanden haben; nicht in dem Sinne, in dem der Theologe oder Kommentator X ihn verstanden wissen will. Man könnte natürlich einen anderen Ansatz wählen, um eine rekonstruierte Theologie anzunehmen. Oder man könnte überhaupt keine Korrespondenztheorie der Wahrheit annehmen und den Text rein literarisch oder im Sinne des Existentialismus oder Jungianismus interpretieren. Auch dann kann man sagen, dass der Text nicht die Absicht hat, die konsensuale Wirklichkeit darzustellen oder rechtliche, überzeitliche Normen aufzustellen. Wenn wir also lernen, wie der Text von seinen ersten Adressaten verstanden wurde, führt uns das nicht zu Dogmatismus oder Radikalismus. Ein solches Verständnis führt uns nicht zu einer salafistischen oder wahhabitischen Sichtweise. Im Gegenteil: Wenn wir verstehen, was diese Bedeutung ist, verstehen wir, an wen, in welchem Umfang und wie der Text gerichtet ist. Daher können wir besser verstehen, was in dem Text überzeitlich ist und was nicht, oder ob er eine überzeitliche Dimension hat oder nicht. Auf diese Weise können wir realistische, alternative oder literarische Zugänge zum Text entwickeln, die nicht starr an seine ursprünglichen Adressaten gebunden sind, die keine Gegenseitigkeit beinhalten.

Aber wenn wir uns für den alternativen Ansatz entscheiden und diese kühne Wahl treffen, haben wir uns bereits von fast allen Schulen und Annahmen der traditionellen Theologen entfernt. Damit haben wir einen Schritt getan, der hier wünschenswert ist und eines der Hauptziele dieser Diskussion erfüllen wird.

Kehren wir nun zum eigentlichen Thema zurück. Vorgefasste theologische Annahmen in den Text einzulesen, bedeutet also, dem Text sozusagen Gewalt anzutun. Das wohl bekannteste Werkzeug der Gewalt in den muslimischen Disziplinen aber auch in der traditionellen Bibelexegese von Juden und Christen ist die Uminterpretation (ta’wil). So nennen wir die Auslegung einer Passage, die von ihrem wörtlichen Wortlaut abweicht, weil sie einer zuvor akzeptierten theologischen Position widerspricht. Hier wird der Text verdreht und verbogen, indem nach möglichen Bedeutungen aus dem Sprachlichen gesucht wird.

Das alternative, nicht-dogmatische Verständnis kann jedoch andere Wege beschreiten, um die Bedeutung des Textes zu analysieren:

(a) Analyse der Überlieferungen (Hadith oder Athar) im Hinblick auf Abstammung, Kontext und Ereignisse (die aufgrund der Transformation ihres Inhalts im Laufe der Geschichte oft problematisch sind),
(b) Konsultation von Experten aus späteren Generationen (wie bereits erwähnt, haben diese oft ihre eigenen Interpretationen und Vorurteile),
(c) das Studium historisch belegter Ereignisse und Gegebenheiten, des räumlichen und kulturellen Kontexts des Sprechers, seines möglichen Wissensstandes usw., insbesondere das Studium der für uns erhaltenen Handlungen und Praktiken,
(d) Die textinterne Bedeutungsanalyse (z. B. die Analyse von Begriffen, Bedeutungszusammenhängen, Verwendungsmustern usw. im Koran zur Analyse der Bedeutung) ist hilfreich.

Nur die letzten beiden (d. h. c und d) sind aufgrund der genannten Probleme sinnvoll.

Da der Prophet der Religionsstifter ist und in der überwiegenden Mehrheit der muslimischen Denkschulen den Höhepunkt des religiösen Verständnisses darstellt, und da die Gefährten die ersten Gesprächspartner waren, muss die Bedeutung in ihrem Verständnis Vorrang haben. Schließlich handelt es sich hier nicht um einen beliebigen Text, sondern um einen Text, von dem wir annehmen, dass er für die Religionsgemeinschaft und ihren Gründer historisch von besonderer Bedeutung ist. Da es sich hier um einen Gründungstext handelt, ist es äußerst wichtig, dass wir ihm mehr Aufmerksamkeit schenken. Aber selbst wenn es sich um einen beliebigen Text handeln würde, hat jeder Text bestimmte Mindestvoraussetzungen für das Verständnis. Es ist nicht vernünftig, aus einem Text erzwungene Interpretationen abzuleiten, selbst wenn dieser Text nicht göttlich ist. Umberto Ecos “Zwischen Autor und Text: Interpretation und Überinterpretation” kann zu diesem Thema gelesen werden.

Deshalb ist es wichtig, die ursprüngliche Bedeutung des Textes zu finden. Wenn also im Koran steht, dass wir alles aus Wasser erschaffen haben, fragen wir uns, was der Sprecher mit Wasser, mit Schöpfung gemeint hat. Was hat er sich bei diesen Worten gedacht und welche Gedanken möchte er gehabt haben? Was war es in der Welt, in der er lebte, das ihn zu einer solchen Aussage veranlasste? Es wäre falsch anzunehmen, dass der Redner und die ersten Gesprächspartner hier die Evolutionstheorie meinten, wie es einige Ausleger tun. Jeder andere Ansatz würde den Text völlig einer Überprüfung entziehen. Dieser Vorwurf trifft auch die traditionelle Wissenschaft. Die Interpretation (ta’wil) ist ein Schutz für den Text. Wenn aber, wie einige Theologen behaupten, der Text alles sagen kann und jede wörtliche Bedeutung außertextlichen Beweisen weichen muss, verliert der Text seine Aussagekraft. Wir können seinen “Wahrheitsgehalt” nicht mehr messen. Mit anderen Worten, wir sind jetzt in der Lage, eine agnostische Haltung gegenüber dem Text einzunehmen. In dieser Hinsicht ist die unnötige Verfolgung der Interpretation in der Tat ein Verrat an der wahren Bedeutung des Textes und diskreditiert ihn.

Angenommen, der Text sagt zum Beispiel: “Die Erde ist flach”, dann versteht jeder diese Aussage. Wir können das analysieren. Wir können die Frage stellen, warum der Sprecher diese Aussage gemacht hat. Wir können prüfen, ob um den Sprecher herum eine solche Kosmologie gegeben ist. Wir können die Passage in ihrem allgemeinen Textzusammenhang und in ihrem säkularen Kontext analysieren. Wenn aber ein gewiefter Theologe des 21. Jahrhunderts daherkommt und dogmatisch glaubt, dass der Redner hier ein ewiger, allwissender, unfehlbarer Redner ist und dass dies kosmologische Genauigkeit voraussetzt, wird er uns erklären wollen, dass das Wort “flach” hier nicht im Widerspruch zu dem Wort “rund” steht. “Flach” ist in der Tat “rund”, und “rund” war in der Tat immer die Bedeutung des Textes im Sinne des Sprechers. Dann beginnt er mit Erläuterungen, was wo und wie übersetzt werden kann. Er geht auf Erklärungen ein, z. B. welche Vokabeln in einem Text vorkommen. Schließlich wird der Text nur noch das sagen, was der Theologe sagen will. Die Erde ist rund und dreht sich um die Sonne. Die Evolutionstheorie wird im Koran beschrieben. Der Feminismus wird bereits im Koran gefordert. Die Demokratie wird als Staatsform angegeben. Die Formel für die Lichtgeschwindigkeit ist bereits eingraviert. Alles, was im Universum geschieht, steht dort geschrieben. Wir können jede wissenschaftliche Entdeckung im Koran nachlesen. Mit diesem Ansatz werden uns alle nützlichen Werkzeuge genommen, die für eine realistische Analyse und Untersuchung des Textes erforderlich sind, und wenn man genau hinschaut, bringt ein solcher Ansatz den Verfechter in eine lächerliche Position.

Die modernistische Exegese, die Suche nach Demokratie und ähnlichen modernen Werten im Koran, die philosophische Exegese, die feministische Exegese und dergleichen sind allesamt fruchtlose Unternehmungen. Sie stehen auf demselben absurden Boden wie der Versuch, wissenschaftliche Erkenntnisse aus dem Koran zu gewinnen. Die Forderung nach historisch korrekten Geschichten, wissenschaftlich korrekter Erschaffung des Menschen oder einer Beschreibung des Kosmos überfordert den Text. Der Text enthält keine wissenschaftsgeschichtlichen, rechtlichen, moralischen und/oder universalethischen Anweisungen oder Richtlinien. Auch erhebt der Text keinen solchen Anspruch. Es ist daher unnötig, Textstellen umzudeuten, die beispielsweise ein kosmologisches Bild aus dem siebten Jahrhundert oder ein Verständnis der Rolle der Frau aus dem siebten Jahrhundert wiedergeben. Es ist auch nicht sinnvoll zu versuchen, aus diesem Werk moralische Werte für das 21. Jahrhundert zu nehmen. Jeder Versuch, etwas anderes zu tun, ist nichts anderes als Selbstbetrug und schlimmstenfalls Betrug anderer.

Schlüsselbegriffe: Koran, Islam, Prophet, Bedeutung, Offenbarung, Inspiration, Interpretation

Literaturhinweise:
Shabestari, Die prophetische Lesart der Welt, in: Modern Approaches to Islam, 2010.

Camileri S., Varlik S., Philosophical Hermeneutics and Islamic Thought, 2023.

Van Ess J., Theology and Society IV, 1997.

Spinoza, Theological-Political Treatise. Berlin 1870.

Umberto Eco, “Between Author and Text: Interpretation and Overinterpretation”.

Soroush, A., “Evolution and Devolution of Theology”.

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Muhammed Bayraktar

Scholar of Islamic Theology & former rigorous meditative Sufi. Advocate of postmodern theology , dismantling "traditional religion".