Wissenschaftsleugnung ist kein (Aus)Weg

Muhammed Bayraktar
6 min readOct 15, 2023

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In meinem vorherigen Essay behandelte ich, wieso die aktuelle Forschung absolute Wahrheitsansprüche muslimischer Theologie untergräbt — vielleicht gar gravierender untergräbt, als die jüdische und christliche Theologie.

Leugnung der Wissenschaft und ihrer Evidenzen

Ein alternativer Weg, den ich nicht behandelt habe, ist die Ablehnung der Aussagekraft der Forschung oder ganz allgemein eine Verleugnung der Wissenschaft. Wir könnten die wissenschaftlichen Erkenntnisse verleugnen und uns gegen ihre Erkenntnis stellen. Wir könnten auch den Weg gehen und sagen, Satan habe alle Spuren seiner eigenen Existenz und der Existenz der Propheten, des Monotheismus und dergleichen ausgelöscht.

Nicht wenige fundamentalistische Strömungen im Christentum und Judentum tun dies schon. Beispielsweise die Kreationisten, die an eine Junge Erde glauben, die nur 6000 Jahre alt sei. Dinosaurierknochen werden als Erfindungen des Satans abgetan, die er mit viel Mühe in die Erde verbuddelte.

Eine ähnliche Position nehmen auch Muslime ein, wenn es um die Evolutionstheorie geht. Die Evolutionstheorie steht in sehr klarem und eindeutigem Widerspruch zu Adam und Eva, dennoch glauben viele Muslime an Adam und Eva, weil sie die Wissenschaft, ihre Schlussfolgerungen und Methoden nicht akzeptieren. Es kann auch sein, dass sie die Hoffnung haben, dass eines Tages die Wissenschaft sehr wohl Adam und Eva bestätigen wird, auch wenn sie diese schon explizit ablehnt.

Wenn wir uns aber gegen die Wissenschaft, die Geschichte und Forschung wenden, stehen wir vor einem Problem. Dieses Problem ist, dass wir nur noch die traditionellen Erzählungen des rabbinischen Judentums und der kirchlichen Christen haben. Die Fundamentalisten dieser Religionen sehen ihre eigenen traditionellen Erzählungen als historisch an. Da es nun keine außerreligiösen Methoden mehr gibt, um den Wahrheitsgehalt der jeweiligen Traditionen zu überprüfen, ist es nur noch ein reiner Dogmenstreit.

Reine Traditionsgläubigkeit führt zu unvereinbaren Widersprüchen

Das rabbinische Judentum ist überzeugt, ihre Schriften seien gleichermaßen vielfach bezeugt und massenweise überliefert, wie es die Muslime vom Koran und anderen Punkten behaupten. Diese Tradition wird auf schriftlicher Ebene und insbesondere auf mündlicher Ebene fortgeführt. Rabbinische Juden behaupten eine Überlieferungskette zurück zu Moses. Moses habe ihnen mitunter klar gesagt, niemand dürfe jemals das Gesetz aufheben, wie z.B. den Sabbat — wer das tue, sei als Scharlatan erkennbar. Dann haben wir all die Informationen über David und Salomon, die den Informationen widersprechen, die Muslime über sie behaupten.

Das Christentum ist der Überzeugung, dass ihre Lehren auf Jesus Christus selbst zurückgeht. Orthodoxes Christentum hat etwas ähnliches wie eine Überlieferungskette — die zwölf Jünger Jesus haben nämlich die Priester selbst geweiht. Wir haben Schriften von diesen geweihten Kirchenvätern, sowie Schriften der nächsten und/oder übernächsten Generation dieser geweihten Priester. Die Weihe war ein Zeichen, dass jemand die Lehre korrekt verstanden habe. Diese Person durfte die Religion fortführen und andere weihen.

Damit kommen wir aber zu dem Problem, dass die Lehren des rabbinischen Judentums und Christentums den Erzählungen in den Texten des Islams eindeutig widersprechen. Nicht nur, dass es widerspricht — es werden Geschichten erzählt, welche diese vorherigen Religionen nicht anerkennen, als erfundene Überlieferungen (mawdu’at) abstempeln und wir heute wissen, dass sie in von Kirchenvätern abgelehnten Apokryphen, in Kompendien von erfundenen Anekdoten und Geschichten existieren — also solchen, die von der Gelehrsamkeit dieser Religionen als falsche Inhalte klassifiziert sind. Manchmal erwähnen muslimische Texte Dinge als Offenbarung Gottes, die in den Exegesewerken der Israeliten stehen und nicht in den behaupteten “Offenbarungstexten”.

Ein neuer Prophet

Ich will hier ein Gedankenexperiment führen, um diese Angelegenheit für muslimische Leser zu verdeutlichen:

Wir nehmen an, dass eine ungebildete und des Lesens und Schreibens unkundige Person aus Indien behauptet, letzter Prophet für die gesamte Menschheit zu sein. Sie behauptet, Muslime hätten ihren Propheten und ihre Texte falsch verstanden. Der Koran sei schon immer falsch interpretiert worden. Diese Texte würden eigentlich sein Kommen prophezeien.

Muslimische Geistliche wären rein aufgrund ihres Glaubens verschlossen, eine solche Behauptung überhaupt glauben zu können. Es kann nämlich nach dem Propheten Muhammad keine weiteren Propheten geben. Wir nehmen aber an, seriöse muslimische Forscher machen sich darauf an, den Wahrheitsgehalt dieser Person überprüfen zu wollen.

Bei Analyse merken sie, dass dieser Inder Überlieferungen vom Propheten Muhammad und den vorherigen Propheten benutzt, die in irgendwelchen Sammlungen von gefälschten Hadithen vorkommen, oder in dubiosen Tafsir-Büchern. Oder der Inder behauptet, Gott habe den Muslimen X offenbart, aber die muslimischen Gelehrten finden bei der Analyse, dass X die Worte des al-Ghazali in seinem Werk sind und der Inder dachte, dies seien offenbarte Worte.

Welcher muslimische Geistlicher würde dieser Person glauben? Ich denke nicht, dass wirklich ein muslimischer Geistlicher einer solchen Person glauben würde.

Tauschen wir jetzt den Inder in diesem Gedankenexperiment mit dem Propheten Muhammad aus und die muslimischen Geistlichen mit jüdischen und christlichen Geistlichen, erkennen wir das Problem. Die “Wissenschaften” der vorherigen Religionen kommen zu dem eindeutigen Schluss, dass der Islam nicht korrekt sein kann — aus den exakt gleichen Gründen, wie oben angeführt.

Die Unvernunft und das Ende der konventionellen Theologie

Muslime behaupten sehr gerne, da wo der Koran den Juden und Christen entspreche, sei er eine Bestätigung und der Prophet hätte dies doch niemals wissen können, denn er hatte ja kein gelehrtes Wissen — und somit sei diese Bestätigung ein “Wunder”. Doch wenn der Koran diesen Lehren widerspricht, sei er eine Korrektur der Falschheit der Juden und Christen.

Der Koran bestätigt die Bibel? Ein Wunder! Der Koran widerspricht oder ignoriert die Geschichten der Bibel? Göttliche Korrektur! Ob er der Bibel widerspricht oder nicht, der Koran sei also immer wahr. Dass der Koran wahr ist, ist somit eine Tautologie. Wahrheit ist so definiert, dass das wahr ist, was auch immer im Koran steht.

Diese Idee ist aber nichts anderes als eine Beleidigung der Vernunft. Es ist wieder ein Versuch, den Koran vor einer kritischen Analyse zu schützen und ihn aufgrund dogmatischer Verhaftung scheinbar unwiderlegbar zu machen. Diese Art von Versuche habe ich schon in meinen früheren Essays kritisiert.

Wie könnte unter diesen Umständen dann ein Nachweis der Göttlichkeit und Absolutheit des Islams geschehen? Wunderbehauptungen helfen uns nicht, denn auch Religionen nach dem Islam haben Propheten, die Wunder haben sollen. Irgendwelche vermeintlich rational begründete Dogmen können das auch nicht. Somit gelangt man in letzter Instanz in eine Sackgasse. Der eigene Glaube an Islam wird zum reinen Dogma — und kann nicht mehr Gültigkeit behaupten als der Glaube an das rabbinische Judentum und Christentum.

Das heißt, auch der Weg der Ablehnung der Wissenschaft hilft uns nicht. Wir gelangen damit in eine Sackgasse. Die Annahme der Forschung führt uns in letzter Konsequenz dazu, den Koran als menschliche Rede zu begreifen. Der Sprecher mag in diesem Fall subjektiv göttlich inspiriert sein, aber mehr nicht. Oder wir nehmen die traditionellen Narrativen an, was bedeutet, dass Jesus selbst seine Sohnschaft, seine Wiedergeburt und seinen Tod für die Sünden lehrte, das Neue Testament und die Bücher des AT nicht verändert sind und alle diese von Gott stammen sollen.

Natürlich gibt es auch Theologien dazwischen, nämlich solche, die keine Korrespondenztheorie der Wahrheit vertreten und sagen, diese Heiligen Schriften sprechen über Wahrheiten jenseits des Erkennbaren. Sie sind nicht interessiert an historischen Fakten oder Normen usw., sondern sie sind voller Symbolik und Bilder. Diese Lesung ist die einzige Alternative, die mir zu diesem Zeitpunkt ersichtlich ist. Sie wird den positivistisch denkenden Theologen, den Systemtheologen, die nur Systeme wahren wollen und nicht über den Tellerrand blicken können, nicht genügen — und leider wird sie auch viele Gläubige nicht befriedigen. Sie wurden nämlich seit langer Zeit mit einem fundamentalistischen Religionsverständnis erzogen. Sie sind unschuldig. Schuld sind die identitären muslimischen Systemtheologen, die versagten, seriöse alternative Theologien zu begründen. In diesen alternativen Theologien werden gewiss die Grenzen zwischen literarischen Werken und den Heiligen Schriften verwischen, aber Spiritualität und wahre, seriöse, nicht-legalistische, ethische und ehrliche Moral, eine lebensbejahende Haltung fern vom Nihilismus der aktuellen Theologie, kann sprießen und leben. Das ist was wir brauchen. Das Suchen nach Gott kann nicht enden. Die Menschen werden immer ein Bedürfnis danach haben — aber muslimische Theologen bieten nur ein kurzes Feuer, einen Energieschub, der nur bei den wenigsten das gesamte Leben andauert.

Wenn der Sprecher des Korans subjektiv spricht und inspiriert spricht, bedeutet das noch lange nicht das Ende der Religion oder des Daseins als Muslim. Es ist aber definitiv das Ende aller ,Wissenschaften’, die auf Basis einer Überzeitlichkeit, Universalität und Absolutheit aufgebaut sind. In letzter Instanz also stehen wir hier an einem Grab. Auf dem Grabstein steht eingraviert: hier liegen Scharia, Kalam und Fiqh. Beten wir also gemeinsam das Totengebet und ziehen weiter — und suchen wir nun bessere Möglichkeiten für eine alternative Theologie.

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Muhammed Bayraktar

Scholar of Islamic Theology & former rigorous meditative Sufi. Advocate of postmodern theology , dismantling "traditional religion".