Vom Wissen des Staates
Notizen zum Thema Überwachungsstaat
Ich möchte diesen Text beginnen mit einer kleinen Geschichte des Fingerabdrucks. Vor der Verbreitung des Fingerabdrucks wurden die Menschen, um sie sicher wieder erkennen zu können, beschrieben. Es wurden besondere Merkmale festgehalten wie Narben, Muttermale etc. Aus den Reihen der Polizei wurde die Vermassung der Glieder vorgeschlagen. Ein erstes Aufflackern der Bio-Metrie im eigentlichen Sinne — allerdings waren die Messungen in der Praxis zu ungenau, um effektiv benutzt werden zu können. Mit ihrem Aufkommen diente bald auch die Fotografie zur Identifikation.
Vom Unbekannten zum Bekannten
Doch überall (ausser bei der Vermassung der Glieder) stellte sich das Problem der systematischen Suche. Zwar konnte die Identität einer Person mit einem behaupteten, bereits erfassten Profil über den Namen rasch geprüft und bestätigt oder verworfen werden. Aber die Identifikation einer unbekannten oder die Identität nicht preis geben wollenden Person war sehr aufwändig.
Die Lösung dieses Problems bildete die Entdeckung des Fingerabdrucks. Dieser war nicht nur, wie die Gesamtsumme biologischer Merkmale, jeder Person einmalig zuzuordnen, sondern er war insbesondere in einen einfachen Code überführbar, was die Menge bereits erfasster Fingerabdrücke durchsuchbar machte und rasche Treffer mit bereits aufgenommenen Abdrücken ermöglichte. So konnte das Problem der «Zuordnung wider Willen» gelöst werden. Allerdings blieb es für Verbrecher relativ einfach, Fingerabdrücke beispielsweise durch den Gebrauch von Handschuhen an einem Tatort zu vermeiden. Auch kann der Fingerabdruck einer anderen Person imitiert werden. Vorgemacht hat dies der Chaos Computer Club, der den Fingerabdruck des deutschen Bundesinnenministers Wolfgang Schäuble im Rahmen einer Kampagne als Folien-Abdruck verbreitete.
Identität als Algorithmus
Neu werden auch andere biometrische Verfahren eingesetzt, DNA Datenbanken und Iris-Erkennung, aber auch automatische Gesichtserkennung. All diesen aktuellen Verfahren ist eines gemeinsam. Mit ihrer Anwendung wird die Frage der Identität zu einer Frage des Computeralgorithmus. Die neusten Verfahren sind nämlich der direkten sinnlichen Wahrnehmung entzogen, während noch der Fingerabdruck im Prinzip «von Hand» codiert werden konnte.
Über die Zeit gleich geblieben ist allerdings seit der frühen Neuzeit mit dem Aufkommen der Personenkarteien, dass die Polizei alle ihr zur Verfügung stehenden und ihrem «Bereich» zugewiesenen Erkennungsmassnahmen auch tatsächlich nutzt. So waren Mitte 2008 bereits über 100‘000 Spuren in der gesamtschweizerischen DNA-Datenbank erfasst und deren Zahl nimmt rasch zu. Die Entnahme eine DNA-Probe gehört also bald zum Standart einer erkennungsdienstlichen Behandlung.
Das wäre eine Untersuchung für sich wert: wie, in welchen Fällen und — historisch — seit wann wird überhaupt eine erkennungsdienstliche Behandlung vorgenommen? Von wem wird sie vorgenommen? Nur von der Polizei? Und an wem nimmt man eine solche Behandlung vor? Wozu? Stoff für eine ausgedehnte Forschung!
Exkurs I: Die Geschichte der Zirkulation
Seit dem Mittelalter war die Kontrolle der Zirkulation beschränkt auf die Güter. Zölle wurden erhoben. Es ging dabei nicht vorab nur um die Zölle auf Geld oder Reichtümer, sondern, wie Foucault in seiner Vorlesung zum Liberalismus ausführt, im Wesentlichen um die Kontrolle der Nahrung.
Heute kennen wir die freie Zirkulation der Güter und Dienstleistungen. An Stelle der Güterkontrolle ist die Kontrolle der Zirkulation der Menschen getreten. Dies kannte man vormals allenfalls als eine Kontrolle der Zirkulation der Massen.
Kleinräumig wurde einzig der Zugang zu den Städten kontrolliert. Dabei ging es um die Abwehr von Wanderungsströmen. Fremde wie gefährliche Elemente wurden interniert, seien es nun Narrenzüge — Geisteskranke — , Pestkranke oder umherziehende Gruppen von Bettlern. Heute dagegen werden nicht mehr Grenzen, seien es nun Stadtgrenzen oder Landesgrenzen, kontrolliert, sondern es wird innerhalb der Freihandelszonen eine individualisierte Kontrolle der Präsenz aller Menschen und der von ihnen belebten Räume angestrebt.
Exkurs II: Das Fremde als Seuche
Interessant wäre es auch, mit einem geschulten Blick die Geschichte des Fremden als Seuche nachzuzeichnen. Ich bin überzeugt, dass strukturelle Parallelen in der historischen Entwicklung der Pest- und Krankheitsbekämpfung und der Entwicklung hin von der reinen Fremdenabwehr zur heutigen Integrationspolitik aufgezeigt werden könnten. Hier wie dort stellt sich die praktische Frage, ob es eine kritische Masse des/der «Fremden» gibt, wie die Durchmischung kontrolliert werden kann, und ob — das wäre dann der Umschlag in die Moderne — statt der reinen Isolation und Abwehr auch eine Nützlichmachung des Fremden gedacht werden kann: So wie die Impfung durch einzelne, wegen ihrer Menge und teilweise auch durch ihre Vorbehandlung nicht tödliche Krankheitserreger die Abwehrkräfte des Wirteorganismus stärkt, so könnte im liberalen Kalkül analog der kontrollierte Einlass von Fremden, die dadurch entstehende Konkurrenz mit Billiglöhnen und auch sonst prekäreren Arbeitsbedingungen im Effekt eine Nationalökonomie stärken und gewissermassen resistenter machen im globalisierten Kampf der Wirtschaftsräume.
Die Verwaltung der Identität
Nun gilt es allerdings den Blick wieder zu fokussieren auf die eingangs aufgeworfenen Fragen der Erfassung und Verwaltung der Identität. Es geht dabei nicht (nur) um eine Frage der Verwaltung der Fremden, sondern auch der eigenen EinwohnerInnen und BürgerInnen. Erst die Identifizierung der Einzelnen ermöglicht auch die Singularisierung des Einzelnen im Angesicht der staatlichen Gewalt.
Diese Macht der Vereinzelung verhindert allerdings keineswegs eine kollektive Behandlung. Im Gegenteil: ihre typische Operation ist die individuelle dichotomische Zordnung zu gut/schlecht, gefährlich/ungefährlich, produktiv/unproduktiv etc. Selbst der «rechtsfreie Raum» der Vogelfreien, der Gesellschaft nicht länger Zugehörigen (cf. Agamben, Homo sacer), ist ein juridisch konstruierter und administrativ genau kontrollierter Raum. Exemplarisch eingeschrieben wird diese individuelle Zugehörigkeit zum «état de non-droit» durch die eintätowierte KZ-Nummer — wobei diese Ausgrenzung aus den normalen Räumen der Rechtsstaatlichkeit gleichzeitig bedeutet, dass der gleiche Unrechtsstaat, der die kollektive Vernichtung in den Lagern betreibt, die individuelle Unrechtsbehandlung weiterhin unter Strafe stellt. In dem Sinne haben wir es tatsächlich mit einem effektiven Kainsmal zu tun, das einen Menschen von seinem Lebensgrund und aus der Gesellschaft ausschliesst und gleichzeitig dessen Tötung verbietet, nur um die Rache ganz dem Herr-Gott vorzubehalten.
Die Idee, heute alle Menschen mit RFID Chip auszustatten, ist im Vergleich zur eintätowierten Nummer dagegen gleichzeitig moderner und ein praktischer Rückschritt. Die Markierung wird unsichtbar, die Lektüre der ID ist nur mit technischen Hilfsmitteln möglich, die Kodifizierung wird arbiträr. Die eintätowierte Lagernummer dagegen ist für sich ein in den Körper eingeschriebenes, von Auge sichtbares Siegel.
Der Modus der präventiven Zuordnung
Der Modus der modern-technischen Identifizierung ist denn allerdings auch ein anderer. Es ist ein präventiver.
Der Jude, der Schwule/die Lesbe, die ZigeunerInnen in den Lagern waren und blieben «was sie sind». Ihr «Blut», ihre «Rasse», ihre Gene werden als minderwertig begriffen. Und selbst wenn es ihnen gelingen sollte, dies unter den Kleidern der Zivilisation zu verstecken, so ist ihre Zugehörigkeit, sind sie erst auf das nackte Leben reduziert, bleibend sichtbar. Das Wissen über den Einzelnen wird als in ihm drin, in seiner «Natur» (die für ihn festgesetzt wird) angenommen und die Nummer nur als äusseres Zeichen davon eingeschrieben.
Die im präventiven Modus gegebene Anlage ist gänzlich anders. Das Wissen der Prävention ist dem Menschen äusserlich, und jeder Einzelne kann ein potentieller Täter sein. In der Sprache des Terrors und der Terrorbekämpfung gesprochen: Für den «Staatsschutz» ist jedeR wenn nicht ein Schläfer so mindestens ein potentieller Schläfer. Gefährlich sind also nicht die Bekannten, sondern die Unbekannten. Und gefunden werden können diese nicht über eine immer genauere Examination der natürlichen Merkmale.
Der Staatsschutz und das Landkartenproblem
Wie allerdings können die Unbekannten gefunden, erkannt werden? Und wie kann das Wissen über sie maximiert werden? An Stelle der genetischen Klassifizierung tritt hier die Beobachtung ihres tatsächlichen Verhaltens. Somit stellt sich bei der Kartographie der Individuen das Landkartenproblem.
Und vor diesem Hintergrund ist klar, dass der Staatsschutz unter zwei antagonistischen Grundproblemen gleichermassen leidet:
1) man kann nie genug wissen 2) es wird immer schwieriger, aus dem Informationsrauschen das Wichtige herauszuhören. Darauf reagieren die «Staatsschützer» mit zwei parallelen Anstrengungen.
Zum ersten dient eine Theorie der Ansteckung als Rechtfertigung für umfassende sogenannte Vorfeldermittlungen. Das heisst, dass von Verdächtigen ausgehend ein ganzes Beziehungsfeld als möglicherweise mit «angesteckt» erfasst wird.
Zum zweiten werden Mechanismen der Kartografierung ganzer Felder entworfen. Wenn biometrische Daten zur Identifikation verbreitet und ihre Auslesung und Zuordnung nur durch informationstechnologische Hilfsmittel möglich sind, ist damit zugleich die Grundlage gelegt für ein umfassendes Monitoring der individuellen Bewegungen. Die gute alte Rasterfahndung wirkt schon fast wohltuend altmodisch verglichen mit dem Potential, das geoinformatische Auswertungsmittel künftig bei der Verknüpfung von Datenbeständen biometrisch gesicherter Zugangskontrollen mit geografischen Koordinaten und Bewegungsprofilen (beispielsweise durch Handy-Ortung) erschliessen könnten.
Anerkennung als potentielle Aberkennung
Allerdings setzt der moderne Staat bereits heute, auch wenn diese Möglichkeiten noch nicht umfassen genutzt werden, ein spezielles Zeichen, wenn er — meist mit der Begründung, die Sicherheit gegen Bedrohungen des Terrorismus gewährleisten zu müssen — die erkennungsdienstliche Behandlung zur Bedingung der Möglichkeit seines Zeugnisses zur Staatsbürgerschaft macht, wie dies mit der zwangsweisen Ausgabe eines biometrischen Passes geschieht. In einer solchen Situation anerkennt der Staat im Grunde seine eigenen Bürger (nur) qua potentiell Kriminelle oder — präziser formuliert — potentiell durch ihn individuell Kriminalisierte/Kriminalisierbare. Der Einschluss in die Rechts-Gemeinschaft erfolgt also nur nach der Garantie der individuell vorhandenen Handhabe des Ausschlusses aus der Gesellschaft. Wir kennen diese Funktion bisher exemplarisch im Bereich des Asylrechts, wo die Schweiz den Zugang zu einem ordentlichen Asylverfahren grundsätzlich an das Vorhandensein gültiger Reisepapiere, mithin an die Rückschaffungsmöglichkeit koppelt.
Generalverdacht — Anerkennung der Kontingenz
Die dadurch zum Ausdruck gebrachte Haltung des Generalverdachts allerdings ist ideengeschichtlich weit moderner als die reine Theorie der erblichen Abstammung des Bösen oder deren Neufassung in Termini der Krankheit/Ansteckung.
Es ist eine Haltung, die im äussersten schliesslich anerkennt, dass das Leben und Handeln des Menschen kontingent ist. Insofern scheint paradoxerweise gerade im Generalverdacht der Staatsmacht der Glanz einer modernen, bedingungslos gedachten Entscheidungsfreiheit des Individuums auf.
Der ganze Essay “Vom Wissen des Staates” als PDF
Originally published at www.balthasar-glaettli.ch on November 7, 2009.