Diagnostisches Testen in der Medizin

Broder Poschkamp
8 min readFeb 14, 2022

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Es gab keine Zeit, in der diagnostische Tests einen so großen Anteil an unserem Alltag hatten, wie heute. Gerade die Selbsttests auf das Virus SARS-CoV-2 erzeugen eine große Kontroverse und deren Aussagekraft wird oft in Frage gestellt. Das Missverständnis kann zu mangelnden Vertrauen in die Tests selbst und die Medizin allgemein führen [1]. Dieser Artikel liefert einen Überblick über Begriffe wie „falsch-positiv“, „Sensitivität“, „Spezifität“ oder „Positiver Prädiktiver Wert“ und soll zu einem Grundverständnis über diagnostische Tests beitragen. An einem Beispiel soll erarbeitet werden, wie die Kennzahlen eines Diagnostikums ermittelt werden. Anschließend soll die Anwendung und Interpretation des Tests besprochen werden. Dieser Text wendet sich auch an Personen, die wenig bis kein Vorwissen haben.

Entwicklung und Überprüfung des diagnostischen Tests

Das Unternehmen „HIV-Check“ hat einen neuen Test zur Untersuchung auf das humane Immundefizienz-Virus (HIV) hergestellt. Es soll überprüft werden, ob und wie gut sich dieser Test eignet, eine Infektion mit diesem Virus festzustellen. Das Unternehmen beauftragt ein Forscherteam, welches den Test mit Probanden überprüfen soll.

Das Forschungsteam erstellt zwei unterschiedliche Gruppen, die untersucht werden sollen (Die Gruppen werden auch Kohorten genannt). Es werden 100 HIV-infizierte Personen und 100 nicht infizierte Personen ausgewählt. Die Auswahl erfolgt über vorher bestehende Testverfahren, das heißt, es wurden vorher mit dem Standardtestverfahren die bestehenden Infektionen nachgewiesen. Daneben können auch klinische Merkmale, wie Symptome der Personen, die Infektion bekräftigen und zur Auswahl der Personen beitragen.

Die HIV-infizierten Personen werden in diesem Zusammenhang HIV-positiv genannt. Das „positiv“ bezieht sich in diesem Fall auf das Testergebnis, welches die Infektion nachgewiesen hat. Es waren also Viren vorhanden (positiv), im Gegensatz dazu, dass keine Viren vorhanden waren (negativ).

Von den 100 infizierten (HIV-positiven) Personen, werden 98 Personen mit dem neuen Testverfahren von „HIV-Check“ als HIV-infiziert erkannt. Es wurden 98% der HIV-infizierten Personen richtig diagnostiziert, was als Zahl geschrieben 0,98 entspricht. Der Anteil der richtig-diagnostizierten an den erkrankten Personen wird Sensitivität genannt und entspricht in diesem Fall 0,98.

Von den 100 nicht-infizierten (HIV-negativen) Personen, werden 99 Personen mit dem neuen Testverfahren von „HIV-Check“ als nicht-infiziert erkannt. Es wurden 99% der nicht HIV-infizierten Personen richtig diagnostiziert, was als Zahl geschrieben 0,99 entspricht. Der Anteil der richtig-diagnostizierten an den nicht-erkrankten Personen, wird Spezifität genannt und entspricht in diesem Fall 0,99 (Abbildung 1).

Abbildung 1: Das Unternehmen „HIV-Check“ erprobt seinen neu entwickelten Test und ermittelt dabei an insgesamt 200 Personen die Sensitivität und Spezifität. Von 100 HIV-Infizierten wurden 98 als positiv identifiziert (Häkchen) und von 100 nicht HIV-Infizierten wurden 99 als negativ identifiziert (Kreuz).

Bis hier hin wurde beschrieben, wie ein diagnostischer Test überprüft wird und welche Kennzahlen ein diagnostischer Test aufweist. Wichtig ist, zu betonen, dass sich die Sensitivität auf den richtigen Anteil der Infizierten („krank“) und die Spezifität auf den richtigen Anteil der Nicht-Infizierten („gesund“) bezieht. Durch diese Studie konnte die Wirksamkeit des Tests bestätigt werden.

Anwendung des Tests

Es ist so weit, der Test von „HIV-Check“ wird angewandt. In diesem Fall wird der Test zur Untersuchung der Allgemeinbevölkerung verwendet. Wir nehmen an, dass in der Bevölkerung 1.000 von 100.000 Menschen mit HIV infiziert sind. Die Krankheitshäufigkeit in einer Bevölkerungsgruppe wird Prävalenz genannt und meistens auf 100.000 Menschen bezogen. Bei der Betrachtung von Prävalenzen ist es wichtig, auf den genannten Zeitraum zu achten, zu welcher die Prävalenz angegeben wird. In unserem Fall liegt eine Prävalenz von 1.000 vor.

Von 1.000 HIV-infizierten Personen werden bei einer Sensitivität von 0,98 genau 980 Personen korrekt als HIV-infiziert identifiziert (Richtig-Positiv, engl. true-positive, TP). Die übrigen 20 HIV-infizierten Personen werden vom Test fälschlicherweise als nicht HIV-infiziert erkannt (Falsch-Negativ. engl. false-negative, FN). Noch einmal die Erinnerung, das „positiv“ und „negativ“ bezieht sich auf den Ausgang des Tests.

Von 99.000 nicht HIV-infizierten Personen werden bei einer Spezifität von 0,99, genau 98.010 korrekt als nicht HIV-infiziert identifiziert (Richtig-Negativ, engl. true-negative, TN). Die übrigen 990 nicht HIV-infizierten Personen werden vom Test fälschlicherweise als HIV-infiziert erkannt (Falsch-Positiv, engl. false-positive, FP) (Abbildung 2).

Abbildung 2: Der Test von „HIV-Check“ wird angewandt. Dabei stellt sich aufgrund der Verteilung von HIV-infizierten und nicht HIV-infizierten eine hohe Anzahl an Falsch-Positiven dar.

Für den Untersucher, der die Tests durchgeführt hat, stellt sich folgendes Bild dar: Es liegen 1.970 positive und 98.030 negative Testergebnisse vor.

Zunächst soll der Fall untersucht werden, dass die Tests durchgeführt wurden, um festzustellen, ob eine Person nicht HIV-infiziert ist. Der Anteil der nicht-infizierten Personen (Richtig-Negativ) an allen negativ getesteten Personen wird „Negativer Vorhersagewert“ oder „Negativer Prädiktiver Wert“ (NPW) genannt. Es gibt die Wahrscheinlichkeit an, gesund („nicht HIV-infiziert“) zu sein, wenn das Testergebnis negativ ist. Das ist in diesem Fall:

NPW = TN / (TN + FN) = 98.010 / (98.010 + 20) = 0,999.

Von allen Personen mit negativem Testergebnis sind also 99,9% nicht HIV-infiziert.

Nun wird der Fall untersucht, dass die Tests durchgeführt wurden, um festzustellen, ob eine Person HIV-infiziert ist. Der Anteil der tatsächlich infizierten Personen (Richtig-Positiven) an allen positiv getesteten Personen, wird „Positiver Vorhersagewert“ oder „Positiver Prädiktiver Wert“ (PPW) genannt. Es gibt die Wahrscheinlichkeit an, krank („HIV-infiziert“) zu sein, wenn das Testergebnis positiv ist. Das ist in diesem Fall:

PPW = TP / (TP + FP) = 980 / (980 + 990) = 0,497.

Von allen Personen mit positiven Testergebnis sind also 49,7% tatsächlich HIV-infiziert. Aus einem einzelnen positiven Testergebnis ergibt sich die Konsequenz, die Positiv-Getesteten weiter zu untersuchen, um die Diagnose zu sichern.

Es gibt noch eine weitere Möglichkeit, die Ergebnisse darzustellen, und zwar in Form einer Vierfeldertafel (Abbildung 3).

Abbildung 3: In der Vierfeldertafel wird der Gesundheitszustand und das Testergebnis in Tabellenform miteinander in Relation gesetzt. Im Englischen wird diese Form der Darstellung häufig auch confusion matrix genannt und bezieht sich dabei nicht nur auf medizinisch-diagnostisches Testen.

Abhängigkeiten des diagnostischen Tests und Informationsgewinn

Aus der Berechnung des positiven und negativen prädiktiven Wertes geht hervor, dass die Interpretation der Testergebnisse stark von der Krankheitshäufigkeit in der Bevölkerung abhängen. Somit ergibt sich für denselben Test eine unterschiedliche Aussagekraft für unterschiedliche Bevölkerungsgruppen.

Der Test von „HIV-Check“ wurde in verschiedenen Ländern durchgeführt, die eine unterschiedliche Prävalenz von HIV-Infizierten aufweisen. Dabei wird die Änderung des Positiven Prädiktiven Wertes und die Änderung des Negativen Prädiktiven Wertes betrachtet (Abbildung 4).

Abbildung 4: Es wurde der Test von „HIV-Check“ an unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen mit unterschiedlichen Prävalenzen durchgeführt. Dabei steigt die Wahrscheinlichkeit, tatsächlich erkrankt zu sein, bei einem positiven Testergebnis (PPW) mit steigender Prävalenz an. Im Gegensatz dazu sinkt die die Wahrscheinlichkeit bei einem negativen Testergebnis tatsächlich gesund zu sein (NPW).

Die Prävalenz ändert die Interpretation des Testergebnisses dramatisch. Die Wahrscheinlichkeit bei einem positiven Testergebnis tatsächlich HIV-infiziert zu sein, ist bei einer Prävalenz von 10.000 um 0,419 höher als bei einer Prävalenz von 1.000.

Neben dem Vergleich von Wahrscheinlichkeiten bei unterschiedlichen Prävalenzen, kann ein Vergleich der Wahrscheinlichkeit von vor dem Test und nach dem Test vorgenommen werden. Dafür wird die Prävalenz der HIV-Infizierten als die Grundwahrscheinlichkeit betrachtet, vor dem Test an HIV-infiziert zu sein. Diese Wahrscheinlichkeit wird Vortestwahrscheinlichkeit (P) genannt. Der Rest der Personen, die nicht HIV-infiziert sind, beschreibt die Wahrscheinlichkeit nicht HIV-Infiziert zu sein (1-P). Als Beispiel ist die Vortestwahrscheinlichkeit einer Prävalenz von 1.000 auf 100.000 Personen 0,01.

Aus der Vortestwahrscheinlichkeit, den positiven und negativen prädiktiven Werten, lässt sich der Informationsgewinn (I) eines Testes berechnen. Der Informationsgewinn ist Differenz aus dem negativen bzw. positiven prädiktiven Wert und der Vortestwahrscheinlichkeit. Man kann es als die Wahrscheinlichkeit für einen Fall betrachten, die man durch den Test „dazugewinnt“.

Im Folgenden werden die Vortestwahrscheinlichkeit und der Informationsgewinn zu dem obigen Beispiel hinzugefügt. Es wird zwischen dem Fall HIV-infiziert zu sein und nicht HIV-infiziert zu sein unterschieden. Dazu wird der mittlere Informationsgewinn für HIV-infizierte und nicht HIV-infizierte betrachtet (Abbildung 5).

Abbildung 5: Es wurde der Informationsgewinn durch einen Test für HIV-infizierte (oben) und nicht HIV-infizierte Personen (unten) bei unterschiedlichen Prävalenzen dargestellt. Es wurde daraus der mittlere Informationsgewinn pro Test ermittelt, der als Beschreibung für die Sinnhaftigkeit eines einzelnen Tests interpretiert werden kann.

Aus der Betrachtung des Informationsgewinns fallen mehrere wichtige Punkte auf.

Der Informationsgewinn für positiv-getestete Personen ist deutlich höher als für negativ-getestete Personen. Der mittlere Informationsgewinn steigt ebenfalls bei den betrachteten Prävalenzen an.

Einfach ausgedrückt bedeutet das: Die Testung wahrscheinlich negativer Personen erbringt wenig Informationsgewinn. Dadurch ist es notwendig die Personengruppen zu identifizieren, die eine erhöhte Prävalenz aufweisen.

Zusammenfassung

Es wurde beschrieben, wie ein diagnostischer Test entsteht und wie man die wichtigsten Qualitätskriterien eines Tests beschreibt. Daneben wurden Probleme bei dem Testen von großen Bevölkerungsgruppen angesprochen und dargelegt, dass derselbe Test bei unterschiedlichen Prävalenzen eine unterschiedliche Aussagekraft besitzt.

Im medizinischen Kontext wird im Allgemeinen ein Test nur durchgeführt, wenn ein Verdacht auf eine Krankheit oder einen medizinischen Zustand besteht und das positive Testergebnis zu einer Konsequenz führt. Es macht keinen Sinn einen diagnostischen Test durchzuführen, wenn sich daraus keine Konsequenz ergeben soll.

Zur Interpretation des Testergebnisses (positiv, negativ) müssen viele Einflüsse berücksichtigt werden. Dazu gehören Faktoren, die den Test selbst betreffen, wie zum Beispiel die Lagerung, die Testmethode, wirtschaftliche Interessen und der Referenzbereich des Tests. Es ist wichtig den Test im Kontext der Krankheitsgeschichte zu stellen. Es müssen andere Krankheiten ebenso in Betracht gezogen und es können mehrere Tests notwendig werden. Die fachliche Bedeutung des Testergebnisses mit den medizinischen Konsequenzen, wie Prozeduren oder Operationen, können eine Rolle spielen, um das Testergebnis noch weiter zu validieren, bevor diese durchgeführt werden. Am wichtigsten sind jedoch die menschlichen Konsequenzen, wie die Lebensqualität und der Patientenwunsch, welche immer berücksichtigt werden müssen. Insgesamt ist das medizinisch-diagnostische Testen eine anspruchsvolle Aufgabe, bedarf großes fachliches Wissen und umfangreiche Erfahrung, um valide Aussagen und Entscheidungen treffen zu können.

Take Home Medizinisches Testen:

  • Die Sensitivität bezieht sich auf das Erkennen von Erkrankten.
  • Die Spezifität bezieht sich auf das Erkennen von Gesunden.
  • Die Interpretation eines Tests hängt sehr stark von der Gruppe ab, die Untersucht wird
  • Derselbe Test ist bei einigen Personen sinnvoller als an anderen Personen (Stichwort: Informationsgewinn).
  • Ein positives Testergebnis bedeutet nicht sofort, dass ich auch erkrankt bin. Dies kann nur in einem Gesamtkontext betrachtet und sollte durch eine Fachperson beurteilt werden.

Anmerkung

Alle Zahlen und Namen in diesem Test sind frei erfunden und dienen lediglich der Darlegung des Inhalts. Für die Illustration des Themas wurde eine Krankheit als Beispiel gewählt. Es hätte jedoch jede andere Erkrankung sein können.

In diesem Artikel wurden viele wichtige Themen angesprochen, ohne viele Berechnung durchzuführen. Die Vereinfachungen wurden zur Verständlichkeit des Textes durchgeführt. Es sollte dem Leser bewusst sein, dass dieser Überblick nur einen Bruchteil der wirklichen Komplexität des diagnostischen Testens wiedergibt.

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References

[1] Chou W-YS, Gaysynsky A, Vanderpool RC (2021). The COVID-19 Misinfodemic: Moving Beyond Fact-Checking. HealthEducBehav, 48:9–13

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