Der erste Professor für Cellular Agriculture im Interview

CellAg Deutschland
9 min readSep 28, 2022

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Prof. Dr. Marius Henkel studierte Biosystemtechnik an der Universität Magdeburg und promovierte dann am Institut für Bio- und Lebensmitteltechnik des KIT zum Thema modellbasierte Optimierung eines Bioprozesses zur Herstellung von Biotensiden. Nach der Promotion wechselte er als PostDoc ins Fachgebiet Bioverfahrenstechnik der Universität Hohenheim und war dort mehrere Jahre als leitender Wissenschaftler beschäftigt. Mit der Übernahme des neuen eingerichteten Lehrstuhls der TU München Anfang September 2022 ist Marius Henkel der erste Professor spezifisch für zelluläre Landwirtschaft in Deutschland und auch weltweit.

Das Interview führten Jana Moritz und Constantin Hauser von CellAg Deutschland e.V.

Ein Foto von einem lächelnden Prof. Dr. Marius Henkel vor grauem Hintergrund
Foto: D. Schwab (Fotostudio Schwab)

Ab welchem Zeitpunkt hast du angefangen, dich mit CellAg zu befassen und was hat dich an dem Thema so interessiert?

In in meiner Zeit in Hohenheim hatten wir ein Projekt zur Herstellung eines menschliches Gerüst-Proteins zusammen mit Partnern von der Uni Ulm. Unser Part war die biotechnologische Herstellung des Proteins. Zwar sind bakterielle Produktionsverfahren für rekombinante Proteine im Allgemeinen schon gut etabliert, in diesem Fall verhielt es sich aber anders, weil Säugetier-Proteine [wie z.B. menschliche Gerüst-Proteine] bestimmte Eigenschaften haben, die sich nicht so gut mit dem etablierten System vertragen. Die Proteine werden zum Beispiel schneller abgebaut und sind nicht so stabil. Auch sind sie in Hinsicht auf die ausgebildeten Strukturen, teilweise unverträglich mit den Bakterien, in denen sie natürlicherweise nicht vorkommen würden.

Säugetier-Proteine in Bakterien herzustellen ist somit eine besondere Herausforderung. Aber genau diese Säugetier-Proteine sind es, die uns in der CellAg interessieren, denn sie geben unseren Lebensmitteln die Eigenschaften, die wir besonders mögen und an die wir gewöhnt sind. Beispielsweise ist das Casein in der Kuhmilch ein ganz besonderes Protein: Es ist zur Gelbildung fähig, was wir für die Herstellung von Käse nutzen, und besitzt eine besondere Metall-Affinität, die für den Calciumgehalt von Milch verantwortlich ist.

Aber genau diese speziellen Eigenschaften sind das, was die bakterielle Herstellung so schwierig macht, weil sie in natürlichen Bakterien nicht in dieser Art vorkommen. Für einen effizienten Herstellungsprozess muss grundsätzlich der genetische Code, die DNA, zunächst umgeschrieben werden, sodass das Bakterium die genetische Information der Kuh überhaupt versteht. Darauf folgt typischerweise ein komplexer Ablauf zur Optimierung des Herstellungsprozesses im Bioreaktor. Diese Vorgänge sind für “Standard-Proteine” seit zwei Jahrzehnten etabliert, für die Säugetier-Proteine ist das aber eine ganz andere Herausforderung. Das erfordert ein Umdenken.

Für pharmazeutisch genutzte Säugetier-Proteine sind diese Optimierungsdurchläufe an einzelnen Beispielen etabliert. Aber im Gegensatz zur CellAg kann die Pharmaindustrie ihre therapeutischen Proteine für viel Geld verkaufen. Ihre Prozesse dürfen daher auch etwas ineffizienter und etwas teurer sein, um im Zweifel früher oder dominanter am Markt zu sein. Aber wenn wir jetzt mit Säuger-Proteinen die Menschen ernähren wollen, müssen wir günstig und sehr effizient sein. Dafür sind sehr spezifische Fragestellungen zu bearbeiten, die es in dieser Art bisher nicht gab.

Wie kam es denn dazu, dass du dann Professor für CellAg werden wolltest? Hast du einfach reagiert, als die Stelle ausgeschrieben wurde, oder war das schon immer der Plan?

Ich hatte da von Anfang an — von dem Tag als ich die Ausschreibung sah und über den gesamten Bewerbungsprozess — ein sehr gutes Gefühl. Mir persönlich liegt das Thema besonders am Herzen: Ich war schon immer der, der auf Lebensmittelverpackungen gelesen hat, was da drin ist und sich gefragt hat, wie man die Eigenschaften der Produkte so hin bekommt. Was dazukommt, ist, dass ich persönlich sehr gerne Fleisch esse. Das haben wir mittlerweile sehr reduziert, aber wir leben nicht vegetarisch oder vegan. Generell versuchen wir aber in meiner Familie im Alltag nachhaltiger zu denken. Und da merkt man an vielen Stellen, dass es einem nicht so leicht gemacht wird. Hier kann ich persönlich wirklich etwas beitragen. Neben der Attraktivität des Standorts und dem Hintergrundwissen, das ich im Bereich der Precision Fermentation mitbringe, war dieser Gedanke, etwas zur Nachhaltigkeit beitragen zu können, der Hauptgrund, warum ich mich tatsächlich beworben habe.

Mit meinem Hintergrund in der industriellen Biotechnologie bin ich ja eigentlich nicht der klassische Kandidat für diese spezielle Position. Man hätte sich ja eher eine Person vorgestellt, die schon viel Zellkultur, 3D-Struktur oder Organ-Druck gemacht hat. Aber wahrscheinlich bin ich genau der, den man braucht, denn industrielle Biotechnologen wie ich sind seit Jahren auf hocheffiziente Prozesse getrimmt. Die Optimierung auf molekulare Ebene bis hin zum Finetuning der Prozessführung sind Kernthemen dieser Arbeiten. Wenig Substratverbrauch, viel Outcome, viel Produkt, hohe Effizienz. Das ist das, was uns umtreibt. Das ist, glaube ich, genau der Grund, jemanden mit dieser “Denke” zu holen, jemanden, der diese Effizienz im Hintergrund hat und einen anderen Blick auf die Herausforderungen der CellAg hat.

Mit dem Titel “Professur für zelluläre Landwirtschaft” ist dein Lehrstuhl ja erstmal sehr weit definiert. Was für eine Art Professur ist das eigentlich genau? Welchen Forschungsbeitrag werdet ihr zur zellulären Landwirtschaft leisten?

Zelluläre Landwirtschaft als Begriff wird immer ein bisschen unterschiedlich aufgegriffen. Ich verstehe darunter, dass man allgemein die tierischen landwirtschaftlichen Produkte ersetzt mit biotechnologischen Methoden. Das beinhaltet für mich neben kultiviertem Fleisch ganz klar auch alles, was man als Präzisions-Fermentation zusammenfasst. Einzelne Protein-Prozesse, strukturgebende Proteine oder sogar teilsynthetische Moleküle und Ansätze. Das ist die Richtung, aus der ich als industrieller Biotechnologe natürlich auch herkomme.

CellAg stellt für mich so etwas wie eine Skala dar: Am unteren Ende steht ein einfaches Protein, das Biomasse liefert und dann weiterverarbeitet wird. Man kann aber auch dem Protein schon strukturbildende Eigenschaften geben, sodass es selbst-assemblierend mit anderen Proteinen größere Strukturen ausbildet, also ohne oder mit weniger weiteren Verfahren zum Produkt wird. Wenn wir diese Skala über weiter Zwischenstufen hochgehen, kommen wir irgendwann zu komplexen Produkten wie echtem, wachsenden Muskelgewebe. Die gesamte Bandbreite dieser Skala ist für mich zelluläre Landwirtschaft.

Im Hinblick auf die Forschung ist die zelluläre Landwirtschaft eine Schnittstelle verschiedener Disziplinen, u.A. Biologie, Ingenieurwissenschaften und Lebensmitteltechnologie. Genau an dieser Schnittstelle wollen wir auftreten und hocheffiziente Technologien bereitstellen. Im Hinblick auf die Technologie und die Skills, die wir mitbringen, werden neue Verfahren fürs Bio-Scaffolding ein erster Fokus für uns sein. Die Herausforderung ist folgende: Im wachsenden Gewebe ist der Stoffübergang mit zunehmender Größe ein Problem. Im Tier würden sich Adern bilden, um die Nährstoffe gleichmäßig zu verteilen. Das können wir mit den heutigen Technologien in kultivierten Geweben nur eingeschränkt nachbilden, daher setzt uns der Stoffübergang Grenzen bei der Größe des kultivierten Gewebes. Und da wollen wir durch geeignetes Scaffolding und Betriebsweisen neue Technologien bereitstellen, um diese Probleme zu bewältigen. Dafür haben wir unterschiedliche Werkzeuge: Wir erstellen beispielsweise klassische mathematisch-physikalische Modelle, mit denen wir berechnen können, wie weit die Nährstoffe in das Gewebe eindringen können, also wo die Grenze unseres Gewebewachstums liegt. Das verknüpfen wir nun mit künstlicher Intelligenz. Damit kann man eine Vorhersage der optimierten Bedingungen machen und so versuchen, die Grenze des Wachstums zu verschieben. Wir werden also moderne Verfahren für Optimierungsprobleme nutzen und diese auf der gesamten Skala der CellAg anwenden.

Die Frage nach der thematischen Ausrichtung des Lehrstuhl ist im Moment allerdings immer noch im Wandel. Die Planung hatte natürlich begonnen bevor ich die Gegebenheiten hier vor Ort im Detail kannte. Ursprünglich war die Idee, dass wir zunächst auf Ebene der Proteine und Proteinbruchstücke starten und gleichzeitig den 3D-Druck mit Bio-Inks und das Bioscaffolding bearbeiten. Nachdem wir an der TUM einige Herausforderungen zu Räumen, Equipment und Finanzierung lösen konnten, hat sich die Situation geändert. Das bedeutet für uns, dass wir direkt ab Tag 1 auch in der Zellkultur aktiv werden können. Der finanzielle und personelle Einsatz dafür wird allerdings eine zusätzliche Belastung der Ressourcen des Lehrstuhls darstellen. Bisher war Forschung im Bereich der Zellkultur vor allem eine Sache der Pharmaindustrie und auch akademische Lehrstühle in diesem Bereich haben bisher meist den Fokus auf medizinische Anwendungen gelegt. Durch die zunehmende Forschung im Bereich Cultured Meat hat sich das inzwischen etwas verschoben. Wir beginnen nun zunehmend auch aus der Lebensmittel-Perspektive auf die Zellkultur zu blicken. Das bedeutet aber auch, dass wir eine Verschiebung erleben, von medizinischer Zellkultur, die auf sehr teure Produkte und kleinste Mengen ausgerichtet ist, hin zur Lebensmittel-Zellkultur, die unter ganz anderen finanziellen Rahmenbedingungen funktionieren muss. Für diese kostenintensive Forschung muss man natürlich besonders im akademischen Bereich ein gutes Konzept haben. Ich halte das aber trotzdem für ein sehr gutes Investment. Wir werden dadurch die Möglichkeit haben, die gesamte Bandbreite der CellAg hier unter einem Dach zu vereinen.

Wie groß wird dein Lehrstuhl denn zu Beginn werden? Wie viele Menschen fangen jetzt mit dir an?

Aktuell sind schon ein PostDoc, zwei Technische Assistent*innen, eine Stipendiatin von New Harvest und eine Sekretärin mit mir vor Ort. Im Februar oder März wird dann eine weitere PostDoc zu uns stoßen und eine Doktorand*innen-Stelle wird gerade besetzt. Wir beginnen also mit sieben Personen, was für eine Start-Gruppengröße schon sehr gut ist. Im kommenden Jahr werden wir mehr Projektanträge stellen, für die wir auch schon konkrete Ideen haben. Ich gehe davon aus, dass wir dann auch einige Doktorand*innen ergänzen können.

Wie sehen eure Pläne für das erste halbe Jahr aus? Welchen Projekten werdet ihr euch neben dem Aufbau des Equipments und der Einrichtung der Räumlichkeiten als erstes widmen?

Zunächst werden wir mit dem bereits angesprochenen Projekt zur künstlichen Intelligenz, die wir für die Optimierung von Bioscaffolds einsetzen wollen, beginnen. Dieses Projekt ist schon sehr nah an der Umsetzung. Man muss hier natürlich bedenken, dass die Labore zu großen Teilen noch leer sind. Wir kämpfen bei der Beschaffung von Equipment zum Teil mit sehr langen Lieferzeiten. Deswegen müssen wir überlegen, wo genau eine Priorisierung bzw. Fokussierung [der Projekte] aktuell Sinn ergibt. Der Fokus wird im ersten halben Jahr darauf liegen, Grundlagentechnologien bereitzustellen, mit denen wir dann im weiteren Verlauf an den interessanteren Fragen forschen können. Beispielsweise sind die 3D-Drucker für unsere Bioscaffolds momentan lieferbar. Zusammen mit bei uns selbstgebauten Lösungen zur Millifluidik und modularen Perfusionsbioreaktoren können wir damit eine Plattform aufbauen, mithilfe derer unsere New-Harvest-Stipendiatin an ihrer Forschung zur Zell-Zell- und Zell-Matrix-Interaktionen arbeiten kann. Diese Plattform wird auch für die Zukunft eine wichtige Basistechnologie für uns darstellen.

Wenn wir den Blick weiten, wo siehst du persönlich die größten Herausforderungen im Bereich der CellAg, unabhängig von deiner eigenen Forschung?

Ich denke, dass die gesellschaftlichen und sozialen Aspekte der zellulären Landwirtschaft so wichtig sind wie noch bei keiner anderen Technologie zuvor. Viele Menschen begegnen unserem Vorhaben mit großem Unverständnis, zum Teil auch mit Ablehnung. Wir müssen diese Bedenken wahrnehmen und die gesellschaftliche Debatte dazu begleiten. Die Frage „Wie tickt unsere Gesellschaft?“ wird eine der zentralen Forschungsfragen im Bereich der CellAg sein. Wir müssen untersuchen, was wir tun können, damit die zelluläre Landwirtschaft auch in der Gesellschaft ankommt. Dazu kommen natürlich die technischen Herausforderungen. Ich bin zuversichtlich, dass wir davon einige in naher Zukunft lösen können, wenn auch nicht alle. Die Produktionskosten zu senken erfordert einen neuen Blickwinkel auf Proteinproduktion und Zellkultur und ein Umdenken aller beteiligten Disziplinen. Eine weitere Herausforderung wird der Transfer von der Forschung in die (industrielle) Anwendung sein. Diesem versuchen wir an der TUM gezielt mit Angeboten zur Förderung des Technologietransfers und Konzepten für Erfindungen oder beispielsweise Ausgründungen zu begegnen.

Du hast gerade die Kommunikation mit der Gesellschaft angesprochen. Hier mit den zukünftigen Konsument:innen in den Dialog zu treten, über die Technologie aufzuklären und Ängste zu nehmen sind auch aus unserer Perspektive zentrale Aufgaben aller Stakeholder im Bereich CellAg. Ist das etwas, was die beteiligten Wissenschaftler*innen zusätzlich zu ihrer Forschung leisten können, vielleicht auch müssen? Oder muss diese Arbeit aus einer ganz anderen Richtung kommen?

Schwierige Frage. Man kann und sollte das natürlich unterstützen, aber ich glaube, dass wir Profis dafür brauchen werden. Ich denke, dass im Fall der CellAg die Wissenschaftskommunikation an einem absoluten Punkt angekommen ist. So schwierig war es noch nie, höchstens vielleicht zur Zeit der ersten Gentechnik-Debatten. Wir brauchen Experten, die sich detailliert mit der Frage nach der Kommunikation und mit den Auswirkungen auf die Gesellschaft auseinandersetzen. Dabei ist es wichtig, dass auch wir als Wissenschaftler mit Informationen und Erfahrungen beitragen.

Kannst du dir vor diesem Hintergrund vorstellen, in der Zukunft in deinem Lehrplan auch sozialwissenschaftliche Aspekte einzubringen?

Ich würde mich sehr freuen, wenn wir das in der Zukunft umsetzen können. Wir planen, auch in naher Zukunft schon eine Spezialisierung zum Thema CellAg hier in Weihenstephan anbieten zu können. Das wird mit einigen Vorlesungen, Praktika und Seminaren beginnen. Zum Beispiel starte ich jetzt ein Praktikum „Precision Fermentation“. Ich würde mich sehr freuen, wenn wir in Zukunft jemanden gewinnen könnten, der sozialwissenschaftliche Aspekte vertreten kann. In meinen bisherigen Vorlesungen spreche ich die Thematik zumindest immer mit ein paar Folien an und versuche mit den Studierenden dabei ins Gespräch zu kommen. Das Schöne dabei ist, dass jeder zu dem Thema eine Meinung hat. Häufig gibt es auch Ablehnung und Kritik, logisch, aber es ist immer eine gute Basis da, um ins Gespräch zu kommen. Jeder hat einen Zugang zu diesem Thema, das macht Diskussionen über CellAg so besonders spannend.

Vielen Dank für das Gespräch!

Für mehr Infos: linktr.ee/cellagermany

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