Die Integration der Anderen

Ich habe ein Problem damit, wie wir über Integration sprechen.
Aber ich finde meine Integration ganz interessant.

Christian Bojidar Müller
6 min readJun 19, 2016
2016

Mein Name ist Christian Müller.
Ich war also seit Anbeginn der Zeit in Deutschland. Über Generationen hinweg habe ich Trends überlebt, habe Fürsten, Kanzler, Nazis, Sozialisten, Russen, Franzosen und Amerikaner kommen und gehen sehen. Ich habe die ganze Welt bereist, man findet mich in fast allen Ländern dieser Erde. Wenn nicht in einer Bank, so zumindest in irgendeinem Hotelzimmer, auf irgendeiner Etage.
Doch nirgendwo bin ich so beliebt wie in meiner Heimat, Deutschland. Dort bin ich viele: Ich bin Deutschland, ich bin Anonymous, ich muss mir nicht mal einen blöden Nickname für Facebook überlegen um nicht für jeden sofort auffindbar zu sein.

1985 dann plötzlich der Anfang vom Ende. Mein Vater heiratet eine Bulgarin.
Dennoch gab es auf den ersten Blick wenig, was meine Wurzeln verriert, bis auf einen Zweitnamen: Bojidar. „Gottes Geschenk“, nach meinem Großvater.
So schmeichelhaft er war, so unangenehm war dieser Name mir im Alltag und ich ließ ihn bei jeder Gelegenheit verschwinden.

So konnte es relativ easy weitergehen.
Niemand stellte meine deutsche Identität in Frage.
Ich hatte zwar “seltsame” Verwandte und kam grundsätzlich immer später aus den Ferien zurück, aber mir war immer klar, dass ich ein Rückkehrer bin.
Da sich die Vielfalt meiner Generation schon damals abzeichnete, switchte ich nach Belieben meine Identität. Je nach Clique war ich Deutscher oder Bulgare. Integration war für mich auf allen Kanälen ein Kinderspiel.

Bis zum Wechsel auf das Gymnasium.
Denn der Großteil meiner Mitschüler kam aus den umliegenden Dörfern.
Als eines von zwei Stadtkindern fiel mir die Integration denkbar schwer, denn es mangelte schon an den langen Busfahrten mit den Klassenkameraden. Auch der Volleyball-Verein, aus dem sich alle schon kannten und zu einem „Team“ zusammengerauft hatten, interessierte mich nicht wirklich um ehrlich zu sein. Ich hatte Kinos, Parks, Mediamarkt und Comicläden und musste mich bis Dato selten in irgendwelchen Konglomeraten organisieren, um mit meinen Freunden Freizeit zu verbringen.

Schon nach einer Woche war klar, dass ich hier Außenseiter bleiben werde.

Nicht weil ich bulgarische Wurzeln habe.
Nicht weil ich dumm war.
Nicht weil ich unfreundlich war.
Sondern aus dem einfachen Grund, dass ich von bestimmten sozialen Ritualen praktisch ausgeschlossen war (Busfahren), und mich mit anderen (dem Volleyball-Verein) nicht identifizieren konnte, beziehungsweise, sie nicht als maßgebend für soziale Integration ansah. Und außerdem: Sollen die doch einfach Nachmittags mal mit in den Park kommen, statt sofort in die Halle oder in den Bus.

Worauf ich damit hinaus will ist, dass der Mikrokosmos “Integration” enorm komplex und wie alles in der Welt von Umweltfaktoren abhängig ist.

Der Fehler beginnt damit, dass Integration in unserer Gesellschaft immer das Problem des “Anderen“ ist. Damit vermeiden wir die Empathie, die wir benötigen, um die Bedingungen für eine erfolgreiche Integration zu schaffen, von der wir als Gesamtgesellschaft profitieren.

Dabei ist jeder von uns permanent damit beschäftigt sich zu integrieren oder zu abstrahieren: Jedes mal, wenn wir in ein neues soziales Geflecht eintreten, stehen wir vor der Entscheidung uns den vorgefertigten Regeln anzupassen oder sie aufgrund unserer Überzeugung abzulehnen.
Gerade die Berufswelt ist ein einziger Integrations-Spießrutenlauf.
Lache ich über jeden Witz, den mein Vorgesetzter macht um meiner Karriere willen mit, oder zeige ich es offen, wenn mir ein „nicht böse gemeinter Witz“ zu rassistisch, sexistisch oder ganz einfach zu plump ist. Riskiere ich, um meiner Integrität willen, als der humorlose Kollege durch das soziale Geflecht zu fallen?

In Hollywood-Filmen ziehen wir die letztere Haltung immer vor, weil sie den Konflikt hervorruft, ohne den der Film keine Spannung hätte. In der Realität aber vermeiden wir Konflikte, denn Spannungen halten wir jenseits der Fiktion ungern aus. Unser ur-menschlicher sozialer Trieb, möglichst vielen zu gefallen, also viele Verbündete zu sammeln, hat über Jahrtausende hinweg unser Überleben als verhältnismäßig schwache Spezies gesichert und ließ sich nie so deutlich ablesen wie heute in den sozialen Netzwerken: Follower= Einfluss.

Diese “undercover Integrations-Momente”, in denen wir in kürzester Zeit Entscheidungen treffen müssen, die unser soziales Fortbestehen bestimmen, erleben wir also alle. Auch den Stress, die Frustration, den Preis der Überwindung und auch die Folgen die daraus entstehen können- die Therapie- Sprechstunden sind voll davon und kennen kein Herkunftsland.

Warum mangelt es uns also an der Empathie, wenn wir über Integration von Einwandernden sprechen?

„Wo kommst du her?“
Da meine Identität aufgrund meines Äußeren und meines Namens von niemand anderem als mir infrage gestellt werden kann, bin ich in einer sehr privilegierten Situation. Im Zweifelsfall könnte ich inmitten eines wütenden Nazi-Mobs immer den rechten Arm heben und Inkognito raus spazieren.

Was aber, wenn ich vom Tage meiner Geburt an bei jeder Begegnung gefragt werde, wo ich herkomme, und ich diese Frage nach meiner Identität scheinbar nur mit Informationsschnippseln meiner Eltern und Großeltern zufriedenstellend beantworten kann?

Mit der Zeit löst diese Frage in der Regel einen Andorra- Effekt aus, ein Phänomen aus der Sozialpsychologie, welches besagt, dass Individuen sich an die Beurteilung ihrer Umwelt anpassen.
Die Frage impliziert also dem gefragten Kind, dass seine Umgebung aus bestimmten Gründen an seiner Identität zweifelt, es sogar als „Fremd“ wahrnimmt. Oft resultiert bereits daraus die Flucht in eine fiktive Heimat, die aus Erinnerungen und Erzählungen der Eltern und Großeltern besteht und eine Abkehr vom tatsächlichen sozialen Umfeld, was den Communities oft vorgeworfen wird.

Natürlich wirkt die Frage nach den Wurzeln auf den ersten Blick nicht wie ein rassistischer Akt. Sie ist aber ein Beispiel für einen dieser kleinen, unbeachteten Nährböden, auf denen Integration auf emotionaler Ebene blüht oder scheitert. Nicht jedes Einwanderer-Kind hat den sozialen Background, der einem das Selbstbewusstsein eines deutschen Akademiker-Kindes verleiht, um mit solchen Umwelteindrücken konstruktiv umzugehen. Auch ich muss dieses Selbstbewusstsein bis heute kontinuierlich trainieren.

Die deutsche Gesellschaft erlebt dieses Phänomen derzeit in abgewandelter Form am eigenen Leib. Viele Bürger aus dem Mittelstand fielen 2014 aus allen Wolken, als sie sich plötzlich mitten in einer bundesweiten Rassismus-Debatte wiederfanden, in der Öffentlichkeit gar mit Nazis verglichen wurden, und irgendwie aufpassen mussten, was sie wie sagen: Willkommen in der Schublade! Deutschland hat nun sein ganz eigenes N-Wort, mit dem sich Links und Rechts beleidigen, empören, und gegenseitig Anzeigen können. Es ist auch wieder en vogue sich über schlechte Deutschkenntnisse zu amüsieren. Gerade die neuen Bundesländer kriegen nun besonders hart die Ressentiments einer Masse wegen der Handlungen einer Minderheit zu spüren. Statt aber gegen die Pauschalisierung und den schlechten Ruf anzukämpfen und sachlich zu bleiben, scheint es derzeit in die andere Richtung zu laufen: Man fühlt sich beleidigt, unterdrückt, und beginnt sich in der zugewiesenen Outlaw-Rolle zu gefallen und sie stärker zu vertreten, als vorher: „Dann bin ich halt Rassist!“- So einfach war das?
So einfach ist das. An Deutschen Hauptschulen passiert das in ähnlicher Form täglich, mit wechselnden Labeln: Dann bin ich halt Ausländer.
Dann bin ich halt dumm. Dann bin ich halt kriminell. In dieser Situation, sollten wir uns über die Integration von Geflüchteten genau so viel Sorgen machen, wie um die der überreizten Bestandsbevölkerung. Wenn wir es nicht schaffen, Menschen, die unsere Sprache von Geburt an sprechen zu integrieren, wie soll es mit Neuankömmlingen funktionieren?

Wir dürfen in diesen „aufpolitisierten” Zeiten eines nicht vergessen:
Alle Menschen haben eine eigene, komplexe Perspektive auf die Welt aus der heraus sie handeln. Wir müssen in jedem Fall lernen, uns in diese Perspektiven hinein zu versetzen. Nicht aus Nächstenliebe-ohnehin ein sprunghafter Begriff, wie der Deutsche Herbst 2015 zeigte- sondern aus reinem Pragmatismus. Das ist Integration. Die Auseinandersetzung mit einer vermeintlich fremden Identität hilft uns, unsere eigene zu verstehen und unbegründete Ängste zu verlieren. Denn nach all diesen Jahren der Integration im Familienleben, auf dem Spielplatz, in der Schule, auf Parties, an der Uni, im Beruf, in einer neuen Stadt… ist die eigene Identität ohnehin nur noch eine Reflektion der Wahrnehmungen meiner Umwelt. Daher tragen wir eine Verantwortung für einander und die Bilder die wir gegenseitig in öffentlichen Diskursen von einander zeichnen, denn diese haben mehr Einfluss auf unsere Entwicklung, als unsere Herkunft. Menschen sind emotionale Wesen. Diese Tatsache müssen wir akzeptieren, und weniger Statistiken lesen, sondern die Situationen in unserer Biografie suchen, die uns helfen zu verstehen wie sich unser Gegenüber fühlt. Dann können wir anfangen über eine neue, kollektive Integration zu sprechen.

In meiner Klasse blieb ich Außenseiter, bis meine Noten so schlecht wurden, dass ich wiederholen musste. Meine Integrationsversuche sind so lange gescheitert, bis ich kein Interesse mehr daran hatte, einer Gemeinschaft anzugehören. Ich hatte meine Freunde in Internetforen gefunden.

Nach den Sommerferien betrat ich die neue Klasse ganz in schwarz, mit Plateau- Schuhen, Stachelkette, Pentagramm und fettigen, halblangen Haaren (was damals Skandalös war). Auf meine Frage hin, ob das die 9c sei, schaute mich eine Mitschülerin von ihrem Platz aus mit erschrockenen Augen an und sagte: „Jepp. Neben mir is noch frei, setz dich.“

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