600er Brevet ab Twisteden — Auf ein Croissant nach Frankreich (doch es kam alles ganz anders)
Ich bin ein Hund, ein Jagdhund um genau zu sein. Anders kann ich mir mein Verhalten nicht erklären. Mit zittrigen Pfoten schreibe ich diese Worte. Vielleicht fange ich, nein, nicht den Ball, sondern ganz von vorne an. Es begab sich der 18. Mai 2018, mit einem gar zu wunderbaren Bedingungen anstehenden 600er Brevet. Die Vorhersage versprach regenfrei mit tagsüber 20 Grad, in der Nacht um die 5 Grad.
Ungefähr 60 Randonneure fanden sich für den Start um 20:00 in Twisteden bei Kevelaer ein. Ich war bester Laune und freute mich sehr darauf, dass es bald los ging. Mein Rad war geputzt, ich hatte nichts zuhause vergessen und (Überraschung!) diesmal nicht Zuviel eingepackt. Zur Erinnerung: bei einem 600er letztes Jahr hatte ich geschätzte 5 kg Reiskuchen dabei, von welchem ich während der Fahrt nichts wissen wollte, da keinen Appetit.
Pünktlich um 20:00 fiel für die erste von zwei Gruppen der Startschuss, in welche ich mich eingereiht hatte. Um der Veranstaltung noch zusätzlich Spannung zu geben, nutzte ich den Brevet um ein paar neue Materialien zu testen. Eine neue Bib-Shorts von Everve machte bereits morgens auf dem kurzen Weg zur Arbeit einen super Eindruck. Das sollte sich übrigens für die Distanz des Brevet bestätigen. Als weiteres neues Material hatte ich den Frontscheinwerfer Lupine SL A 7 montiert. Kurz vorweg: auch der Scheinwerfer hat mich nicht enttäuscht. Super hell mit stvzo-Zulassung, nur die Akkulaufzeit ist knapp bemessen mit 8 Stunden. Aber zurück auf die Straße bzw. zum trampeln. Und das Trampeln war die ersten Kilometer schwierig, weil es kaum notwendig war. Ein paar wackere Recken fuhren im Wind und hatten kein Interesse daran, die Position zu wechseln. Wir folgten ihnen und den leeren Radwegen durch die Niederlande. Und das war Stress. Die Radwege waren geschätzt 2 m breit und da wir konsequent in Zweierreihe fuhren, wurde es öfter als mir lieb war eng.
Das Elend hatte nach 70 km mit Erreichen der belgischen Grenze ein Ende: in Belgien gibt es keine Radwege. Mir fiel zumindest keiner auf. Und das war auch kein Problem, da die PKWs in Belgien maximal Abstand hielten, im Vergleich zu NL und DE ein riesiger Sicherheitsgewinn. Wenn mal ein PKW aus der Reihe tanzte und mit nichtexistenten Abstand überholte, war es entweder jemand aus NL oder DE.
Die Radwege waren also weg und vor mir die unberührte großzügig asphaltierte Natur. Ich hatte gute Beine, da bis zu diesem Zeitpunkt kaum Kraft notwendig war. Und ich hatte richtig Lust vorne zu fahren, was ich dann auch tat. Endlich Belastung und Geschwindigkeit; eine berauschende Kombi. Ab Kilometer 90 wurde es langsam aber sicher anstrengend: Es galt die ersten Höhenmeter zu sammeln. Mein Problem war nun, dass meine Mittstreiter eingeschlossen meiner Wenigkeit kein Interesse daran hatten, trotz der nun auftretenden Höhenmeter das Tempo zu senken.
Ich komme zurück auf den Anfangs erwähnten Jagdtrieb. Mittlerweile war es Nacht, was dank der Lupine-Lampe kein Problem war. Meine Beute, die Straße vor mir, war also bestens ausgeleuchtet und ich hatte nach wie vor null Interesse daran, das Tempo rauszunehmen. Was für eine bezaubernde Taktik, wenn man an ein frühzeitiges Ableben der eigenen Ausdauer interessiert ist. Bis auf zwei Mitfahrer hatten wir mittlerweile alle anderen abgeschüttelt. Dann endlich ein Zeichen, in Form eines leisen Zischens: Mein Hinterrad war platt. Der belgische Rollsplitt war zu scharf für den italienischen Mantel. Ich ließ mich langsam zurückfallen, in der Hoffnung, das die beiden verbliebenen Mitfahrer von mir ablassen würden. Aber “leider” handelte es sich um die typischen viel zu netten Randonneure, welche sofort umdrehten, als sie mein Fehlen bemerkten und mir beim Loch flicken assistierten. Im Kopf stellte ich mich noch während des Flickens auf weitere 20 km full speed ahead ein, zumindest bis zur Kontrolle bei km 150. Spätestens dann würde ich das Tempo rausnehmen.
Und so kam es dann auch zum Glück. Nach langem Zureden konnte ich sie davon überzeugen, alleine weiterzufahren. Ich hatte mittlerweile bereits mehr als eine Handvoll Körner gelassen, noch dazu war ich total durchgeschwitzt. Wie sich herausstellen sollte, war das eine äußerst unangenehme Kombination. Die belgische Nacht zeigte mir die kalte Schulter und überraschte mit Temperaturen um den Nullpunkt. Ich hatte zwar eine Windjacke dabei, welche aber viel zu dünn war. Noch dazu hatte besagte Jacke eine unangenehme Eigenschaft: sie war quasi garnicht atmungsaktiv. Um es kurz zu machen, was tatsächlich in den folgenden Stunden passierte: Mir war sehr sehr sehr kalt. Also so kalt, das ich mit den Zähnen klapperte. Ich freute mich auf jeden auch noch so kurzen Anstieg, da sie sich dank des fehlenden Fahrtwindes zum Aufwärmen eigneten. Ich hasste jede Abfahrt, da sie sich dank des Fahrtwindes zum kompletten Auskühlen eigneten.
In solchen Situationen hat man das Gefühl auf der Stelle zu fahren. Es will einfach nicht voran gehen. Die Uhr läuft gefühlt rückwärts. Mittlerweile hatte sich die Gruppe gestreckt. Ich hatte die Nacht für mich alleine. Welch ein Glück. Wobei Unterhaltungen dank meines Klappergebisses sicher interessant geworden wären. Nicht das sich noch ein Mitfahrers von mir provoziert gefühlt hätte und es zu einer handfesten Rangelei gekommen wäre.
Als die ersten Sonnenstrahlen morgens durch den Wald fielen, machte ich drei Kreuze. Endlich Wärme (es sollte noch geschlagene drei Stunden dauern, bis es tatsächlich wärmer wurde). Da ich die letzten Stunden nichts getrunken hatte, war ich zusätzlich komplett dehydriert. Ich hatte es also mit drei Problemen zutun: zu viele Körner verspielt, Kälte und Wassermangel. Ich fühlte mich offiziell Scheisse. Wie war das noch mit dem Trinkwasser und Friedhöfen? Wenn kein Schild ála “Kein Trinkwasser” vorhanden war, handelte es sich um Trinkwasser. Welch ein Satz und welch eine Logik.
Ich plünderte den ersten sich aus dem Nebel am Morgen schälenden Friedhof. Nach drei 0,7 l Flaschen bestem Friedhofswasser, schlug die Stimmungsnadel wieder, wenn auch nur zart, in Richtung “Kick it”. Ich ließ ab von diesem modrigen Ort und wandte mich wieder der Streckenführung zu.
Und jene Streckenführung hatte es in sich. Von km 90 bis 400 galt es insgesamt 4500 hm zu überwinden. Dabei wurden ganz kleine Brötchen gebacken. Das hieß, meistens ging es nicht mehr als 50 hm einen Hügel hoch, anschließend runter in ein kleines Tal mit ein paar schnuckeligen Häusern. Die Übung wiederholen wir ca. 90 mal, am besten kombiniert mit zeitweise starken Winden, für ein optimales Intervalltraining. Mein Trainer wäre stolz auf mich gewesen (wenn es einen geben würde).
Die nächste Kontrolle war in Charleville bei km 287, womit ich Frankreich erreicht hätte. Ich war noch nie in Frankreich. Da ich mein französisches Vokabular bestehend aus “Bonjour” und “Merci” kurz vorher aufgefrischt hatte, machte ich mir keine weiteren Gedanken. Etwas Sorge bereitete mir allerdings mein Auflieger. Soweit mir bekannt war, sind Auflieger bei Veranstaltungen wie Paris-Brest-Paris nicht erlaubt. Ob sich das generell auf den gesamten Straßenverkehr bezog, war mir nicht ganz klar. Ich beschloss meinen Aufenthalt in Frankreich so kurz wie möglich zu halten.
In Charleville gab es eine Verpflegung der besonderen Art: Croissants. Und jene sind mit nichts vergleichbar, was man in DE unter dem Begriff “Croissant” versteht. Im nächsten Croissant-Fachgeschäft orderte ich mit einer Kombination aus “Bonjour” und “Merci” einen Sack Croissants. Passend zum Essen traf ich Thomas T. und seinen Schwager, welche es sich direkt an einer stark befahrenen Kreuzung auf den Boden gemütlich gemacht hatten. Nach ein paar Minuten waren die Croissants nicht mehr als eine schöne Erinnerung.
Weiter ging es zur nächsten Kontrolle ins 100 km entfernte Bastogne. Nach 20 km wieder in Belgien fiel mir nochmal auf, wie sehr ich den Autoverkehr hier mag. Jene hielten wenn möglich den maximalen Abstand zu mir, besser ging es nicht. Was ich nicht mehr mochte waren die nach wie vor vorhandenen Steigungen. Die 4500 hm waren gut zur Hälfte erreicht. Ich befand mich also weiter im Klettermodus. Das war so müsig. Meine Beine waren leer. Zeit für etwas Abwechslung: Stefan S. aus Duisburg, welchen ich über Strava kenne, war mit einem Freund in Bastogne zum Radeln. So ein Zufall und ideal für ein fachspezifisches Pläuschchen. Wir trafen uns in einem Café in Bastogne, wo ich mir einen Stempel für meine Brevet-Karte und ein paar 0,2 l Cola bestellte. Die nächsten 20 km führten über eine zum Radweg ausgebaute Bahntrasse. Die beiden begleiteten mich auf der Trasse. Die Zeit verging so wie im Flug.
Mittlerweile hatte ich die 400 km überschritten. Zeit für ein Resümee der Everve Bibshorts, da mir jene erst jetzt wieder auffiel. Ich hatte bis km 400 keine Sitzbeschwerden, was ein enormer Fortschritt war. Sonst konnte es schon mal passieren, dass mein Hintern schon nach 80 km “on fire” war. Irgendetwas scheinen die Jungs und Mädels von Everve also richtig zu machen. Chapeau.
Mit der nächsten Kontrolle bei km 509 sollte die Kletterei dann auch endlich ein Ende haben. Diesmal war die Kontrolle fest vorgegeben: eine Total-Tankstelle in Eschweiler. Übrigens hat sich mein Wahoo Elemnt Bolt 10 km vorher verabschiedet. Das Display war eingefroren und das Gerät reagierte nicht mehr auf Eingaben. Da ich ansonsten sehr zufrieden mit dem Bolt bin, verzeihe ich ihn den Ausrutscher nach fast 500 km. Nach langen Drücken der Ein-/Austaste startete er sich neu. Allerdings fand er danach die Sensoren nicht mehr (Shimano DI2 und Herzfrequenzgurt). Merkwürdig.
An der besagten Total-Tankstelle trank ich mehrere Fertig-Kakao und aß ein Stück Gouda. Der Kakao funktioniert bei mir immer. Ich spürte, wie die Kraft in den Beinen zurück kam. In der Tankstelle war ich in bester Gesellschaft von drei weiteren Randonneuren. Wie waren einstimmig der Meinung, dass es jetzt reichte mit dem Klettern und dem Wind. Aber das hatten wir ja auch jetzt hinter uns. Im Grunde ging es jetzt nur noch 100 km bergab bis ins Ziel.
Ungefähr 5 km nach der Tankstelle sank meine Motivation in den Keller als ich feststellte, das mein elektronisches Schaltwerk nicht mehr schalten wollte. Das Rad war erst zwei Monate alt und ich hatte bereits ein paar Probleme mit dem Akku der DI2. Deswegen war die Sache für mich klar: Der Akku war leer und damit kein Schalten mehr möglich. Der eingelegte Gang war optimal für 20%-ige Steigungen, aber sonst nicht zu gebrauchen. Den Brevet jetzt und hier zu beenden fiel mir erstaunlich leicht. Mein Jagdtrieb am Anfang, die Nacht in Belgien und die Höhenmeter hatten mir doch erheblich zugesetzt. Obwohl ich nach dem Kakao wieder Kraft in den Beinen hatte und eigentlich noch hätte weiterfahren können. Was ich auch bis zum Schluss getan hätte, davon bin ich überzeugt.
Aber das war nicht mehr möglich dank des Akku. Der nächste Bahnhof mit einer Direktverbindung nach Essen war nur 7 km entfernt. Der Bahnhof war dank des eingelegten Ganges erst nach 45 Minuten erreicht. Es war 22:50 und ich hatte noch 10 Minuten bis der Zug kam. Da der eine Ticketautomat bereits von anderen Fahrgästen belagert wurde, entschied ich mich mal etwas neues auszuprobieren: Die Tickets über die neue Website der Ruhrbahn kaufen. Ein Ticket für mich und eins für mein Rad im Gesamtwert von 25 EUR war schnell gekauft und per Paypal bezahlt. Nach Abschluss des Kaufs kam der Knaller: Die Tickets sind nur ausgedruckt gültig. Zum Glück hatte ich meinen 3 kg schweren Laserdrucker dabei, ansonsten wäre ich jetzt echt aufgeschmissen gewesen und hätte einen riesen Hals gehabt…. Zwei Minuten bevor der Zug kam, war der Ticketautomat frei und ich durfte mir nochmal Tickets kaufen. Hurra! Haken hinter, egal.
Das war es dann. Ich werde also noch einen 600er dieses Jahr fahren müssen. Ich freu mich schon. :)
Übrigens hatte ich eine Woche später festgestellt, das der Akku noch Energie hatte. Es war nur ein Kabel locker.