Louis-Antoine-Léon de Saint-Just

Der Todesengel der französischen Revolution

Christina Geiselhart
6 min readAug 18, 2017

Warum heute ein Roman über Saint-Just und die Revolution? Brauchen wir diesen Roman? Hat er Aktualität. Versuch einer Antwort:

Vieles von dem was in den Jahren 1789 bis 1794 geschah finden wir heute wieder: Hohe Staatsverschuldung, Wirtschaftskrisen, Unzufriedenheit in der Bevölkerung, unfähige Minister, korrupte Staatsmänner, die sich bereichern. Zerstrittenheit der Parteien. Und in manchen Rednern der heutigen Parteien meinen wir Mitglieder des Konvents von 1792 zu hören. Besonders in Frankreich. Eine französische Zeitung vergleicht den „politischen Mord“ François Fillon’s mit der Verurteilung Dantons und Desmoulins’ und Jean-Luc Melanchon sympathisiert mit Robespierre.

Das Online-Journal l’Humanité.fr erwähnt die Aktualität von Saint-Just’s Denken und seinen unerschütterlichen Einsatz für Gerechtigkeit. Heute fordert man keine Köpfe mehr. Dennoch fallen welche. Und bewaffnete Minderheiten terrorisieren die Menschen auf der ganzen Welt. Das Volk kann heute seine Staatsoberhäupter wählen, doch kaum sind sie an der Macht, wenden sich viele Menschen von ihnen ab. Warum? Weil Regierungen nicht in der Lage zu sein scheinen, das Volk zufrieden zu stellen. Woran könnte das liegen?

Im Frankreich vor der Revolution 1789 ist es das System des Absolutismus. Es herrscht eine erschreckende Ungleichheit. Der Adel besitzt gemeinsam mit dem Klerus fast alle Güter und Reichtümer des Landes. Ab 1787 zeichnen sich die ersten schweren Krisen der Monarchie ab. Nachdem König Louis XVI die drei Stände einberufen lässt, gerät sie ins Wanken. Mit dem Sturm auf die Bastille beginnt ihr Sturz. Im Zweiten Jahrtausend nun gerät der Kapitalismus in Wanken. Wie im Absolutismus herrscht auch hier eine erschreckend ungleiche Verteilung der Reichtümer. 20% der Menschen besitzen soviel wie die restlichen 80% zusammen. Das sind Parallelen, die ein Buch über die Französische Revolution heute durchaus rechtfertigen. Warum aber ist der Protagonist dieses Buches Louis-Antoine de Saint-Just und nicht Robespierre oder Danton, die viel bekannter sind? Das muss erläutert werden:

Die Französische Revolution war nicht nur Krise, sie war Umbruch. Um ihm gerecht zu werden und eine moderne Gesellschaft auf der Basis von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit aller Menschen zu errichten brauchte es mehr, als nur eine neue Ordnung aufzustellen. Da reichte es nicht aus, das Staatsoberhaupt vom Thron zu stürzen, denn Louis XVI wollte noch im Gefängnis König sein. Das alte Prinzip hätte sich also auch hinter Gefängnismauern verewigt. Es brauchte eine Erschütterung dieses Prinzips. Der mythische Körper des Königs musste entzaubert werden, der König entheiligt. In der Rede zum Tode des Königs finden wir diese andere wichtige Parallele zu unserer Zeit. Der junge Saint-Just erkennt, dass es nicht darum geht, die Person des Königs zu töten, sondern das Prinzip, das ihn verewigt. In seiner Rede zum Tode Louis XVI stützt sich Saint-Just auf den „Gesellschaftsvertrag“ von Jean-Jacques Rousseau. Darin wird die Legitimität der Macht untersucht. Und diese Untersuchung setzt voraus, dass die überlieferte Legitimität eben nicht göttlichen Ursprungs ist und damit auch nicht unumstößlich. Nach den Prinzipien des „Contrat Social“ von Rousseau ist also die Macht des Königs nicht legitim. Saint-Just formuliert in seiner Rede aber nicht nur die Macht des Königs, die auf Gottesgnadentum und seiner Unverletzlichkeit beruht. Er geht sogar weiter und nennt den König einen Usurpator. Er usurpiert die Souveränität des Volkes. Er ist Rebell gegen das Volk. „ … die Monarchie ist das Verbrechen … Niemand kann schuldlos herrschen!“, verkündet Saint-Just (wobei er nicht ahnt, dass er schon für sich selbst spricht). Der König ist schuldig, er kann allerdings auch nicht als Bürger gerichtet werden, da er kein Bürger ist. Er steht außerhalb der Gesellschaft und damit außerhalb des Gesellschaftsvertrags, in dem die Bürger miteinander verbunden und durch das Gesetz geregelt sind. „Ludwig, ein Fremdling unter uns!“ Auch hier finden wir eine Parallele zu unserer Zeit: Heute gibt es Menschen, die dank ihres unermesslichen Reichtums, wie Könige oder Zaren außerhalb des Gesellschaftsvertrag stehen und Wirtschaft sowie Politik beeinflussen oder sogar bestimmen.

Saint-Justs Begründungen zum Urteil des Nichtbürgers König Louis XVI erschüttern die Grundfesten der Monarchie und stellen damit einen Wendepunkt unserer modernen Geschichte dar.

Danton behauptet: Wir wollen den König nicht verurteilen. Wir wollen ihn töten.“

Saint-Just hält dagegen: „Das Prinzip bestimmen, kraft dessen der Angeklagte vielleicht sterben wird, heißt das Prinzip bestimmen, von dem die Gesellschaft lebt, die das Urteil fällt.“

Um das geht es auch heute. Heute stehen wir ebenfalls an einem Wendepunkt. Es ist der Wendepunkt des Kapitalismus. Er steckt in einer entscheidenden Krise. Wie damit umgehen? So wie Saint-Just damals die Erkenntnisse des Philosophen Jean-Jacques Rousseau zu Hilfe nahm, um das Urteil über den König zu begründen, so helfen uns heute die Analysen, Auseinandersetzungen und Abhandlungen, die Finanzkrise zu verstehen. Wie aber bewältigen wir sie? Saint-Just hat der Monarchie mit seinen Begründungen den entscheidenden Stoß versetzt und das Terrain für eine neue Gesellschaft geebnet, aber er und seine Regierung waren nicht fähig, auf den Trümmern der Monarchie das zu errichten, von dem er träumte: eine versöhnte Menschheit, eine Republik der Verzeihung, eine Rechtsprechung, die den Angeklagten nicht als schuldig befindet, sondern als schwach.

Louis-Antoine de Saint-Just. Einerseits inspirierte er die Menschenrechtserklärung, setzte sich für Gerechtigkeit für all und gegen die Todesstrafe ein, andererseits geht er als „Todesengel“ in die Geschichte ein, wird als herzlos und kalt beschreiben. Wer ist dieser junge Mann, der mit fünfundzwanzig Jahren durch seine ungewöhnlichen Reden, seine Begabung und seine Entschlossenheit auffiel?

Wer ist dieser bis heute wenig bekannte Revolutionär, den Albert Camus eine großartige Gestalt nennt, der das Prinzip der Tyranneien des 20. Jahrhunderts verkündet, von dem der Philosoph Jules Michelet behauptet, Frankreich würde sich nie über den Verlust einer solchen Hoffnung hinwegtrösten und von dem die französische Autorin Dénise Béatrix Centore-Bineau sagt: „Wenn das Beil des Thermidor die aufsteigende Linie seiner Begabung nicht zerschlagen hätte, dann hätte Saint-Just seinem Land und der Menschheit eine soziale und politische Grundlage hinterlassen.“ Andere verurteilen ihn als Monster, als kalten Ankläger, als das arroganteste Mitglied des Konvents und lassen ihm nichts weiter als seine Überheblichkeit und „seinen Dünkel, der über jedes Maß hinausging.“ Ein zwiespältiger Mensch, ein vielschichtiger Mensch? Ein sensibler, intelligenter Mensch? Oder ein Phrasendrescher, ein künstlicher Schöngeist, ein Lügner und Marktschreier wie der französische Historiker und Philosoph Hippolyte Taine behauptet?

Bernard Vinot schreibt: „Die Gestalt von Saint-Just ist so vielfältig, dass ein jeder seine Wahrheit in ihr finden kann.“

Der Roman „Eine Idee vom Glück“ versucht dieser Vielfalt gerecht zu werden und hinter der Härte den verletzten jungen Mann aufscheinen zu lassen. „Er wurde Tiger bevor er Mensch werden konnte.“

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Auszug aus dem Roman „Eine Idee vom Glück“ von Christina Geiselhart:

Und wieder nahm die Nacht kein Ende. Im Schein des Feuers begrub man die Toten. Antoine saß im Garten des Hauptquartiers auf einem Stein, den Hut neben sich auf dem Boden und blickte über das Feld, auf dem die Lebenden wie Schatten tanzten. Vor seinen Augen, die von durchwachten Nächten und dem trüben Wein, in den er sein Brot tunkte, verschleiert waren, dehnte sich das Feld düster bis zu Horizont. Eine der traurigen Wahrheiten seines Lebens, offenbarte sich seinem verhärteten Herzen. Das Blut tausender junger Männer tränkte die Erde, der Hass überlebender Girondisten, Dantonisten, Hébertisten und Cordeliers erwartete ihn in Paris. Weit in der Ferne jedoch, zitterten die Geburtswehen eines neuen Tages. Dort, wo Himmel und Erde sich berührten, brach Licht hervor. Ein hoffnungsvolles Winken war es, ein Kuss vielleicht, der ihn aus dem kalten Alptraum der ständigen Bedrohung erwecken sollte. Ich habe Männer angegriffen, die unantastbar schienen. Ich allein habe es gewagt. Ich habe diese gefährliche Aufgabe erfüllt, habe den großen Danton, die große Illusion entlarvt. Wer hätte es gewagt außer mir, der ich alle Schwächen hinter mir gelassen habe.

Und plötzlich hörte er den Klang eines Flageolets. Er rieb sich die Augen und meinte, unter den tanzenden Schatten einen Flötenspieler zu erkennen. Eine durchsichtige Gestalt, leicht wie eine Feder, schwebte über den Gräbern und spielte eine Melodie, die ihm in die Kindheit klang. Er gab sich ihr hin. Und alles spülte hoch, was in die Kindheit schien. Er hatte Mühe, die Tränen zurückzuhalten. ‚Es gibt ein Glück’, dachte er wehmütig, ‚man muss es wie feinstes Glas über Abgründe und zerklüftete Felsenriffe tragen.’

«Bürger Kommandant, wollen Sie sich nicht aufs Feldbett werfen? Dort schläft es sich besser.»

Saint-Just war eingenickt. Erschrocken sprang er hoch. Im Nu hatte er sich wieder im Griff und Strenge beherrschte seinen Körper. Doch die Erkenntnis dieses wundersamen Augenblicks ließ sich nicht abschütteln: Sein Leben war Traum und Alptraum zugleich, deshalb gelang es ihm nicht, zu leben.

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Christina Geiselhart

Buchautorin von historischen Romanen. Sie beschäftigt sich mit den Großen der Vergangenheit. Aktuell: Französische Revolution www.christinageiselhart.de