Du allein, du allein bist mein Lebenssinn

David Baumgartner
12 min readJun 19, 2015

Drei Freunde, eine Leidenschaft. Raphael, Gernot und Michael lieben den Fußball. Sie sitzen seit ihrer Geburt im Rollstuhl. Trotzdem begleiten sie Woche für Woche den SK Sturm Graz. Sie feiern, fiebern und leiden mit dem Verein.

von David Baumgartner
Fotos: Susanne Hassler / Kleine Zeitung, David Baumgartner

Vor dem Spiel

13.600 Auto-Kilometer sind gefahren. Der Motor des großen, weiß schimmernden Mazdas verstummt in einer Parklücke, wenige Gehminuten vom Stadion entfernt. Michael öffnet die Autotür, sein Bruder Christian klappt den Rollstuhl auf. Die Speichen der Rollstuhl-Räder sind mit einer schwarz-weißen Abdeckung versehen. „SK Sturm Graz“ und „Seit 1909“ steht dort in großen Lettern. Christian hebt Michael auf seinen Rollstuhl, sperrt das Auto ab und schiebt seinen Bruder zum Vorplatz des Liebenauer Stadions.

13.600 Kilometer in einer Saison. Michael trägt eine schwarze Weste. Auf dem linken Ärmel ist ein weißes Sturm-Logo abgedruckt. „Da sind sie“, ruft er und richtet seinen Zeigefinger auf eine Menschenmenge. Er sieht Gernot, der kräftig an seinen Rollstuhlrädern dreht und sich nähert. Christoph, Gernots Begleitperson, geht nebenher. Sie tragen ebenfalls schwarz, Christoph hat einen Sturm-Schal um seinen Unterarm gebunden. Sie begrüßen Michael mit einem Handschlag. „Normale Menschen essen um diese Zeit noch“, rechtfertigt Gernot seine Verspätung, während Raphael, der dritte Rolli-Fahrer, dazustößt.

Die Rolli-Crew. Vorne: Rollstuhlfahrer Michael, Raphael und Gernot. Hinten: Begleiter Christian und Christoph. © David Baumgartner

Gernot und Raphael lernten einander im Kindesalter in einer Spielgemeinschaft für Rollstuhlkinder kennen. „Später haben wir uns aus den Augen verloren“, sagt Gernot, „erst vor fünf Jahren haben wir uns wieder im Stadion getroffen“. Im Liebenauer Rollstuhlsektor kreuzten sich auch die Wege mit Michael. Weil sich die drei immer wieder im Stadion begegneten, hoben sie im Frühjahr 2013 die „Black & White Rolli Crew“ aus der Taufe, eine inoffizielle Fanvereinigung. „Wir gründeten spontan eine Facebook-Seite. Wir waren überrascht, wie gut sie ankommt“, blickt Raphael zurück. Sturm Graz listet die Rolli-Crew zwar unter den Fanklubs auf, offiziell sind sie aber keiner. „Fangemeinschaft, nicht Fanklub“, betont Christian, der Bruder von Michael, immer wieder. Er und Christoph komplettieren die fünfköpfige Crew als Begleitpersonen. In Deutschland sind Vereinigungen behinderter Fans Gang und Gäbe. Die Black & White Rolli-Crew ist die erste ihrer Art im Österreichischen Fußball.

13.600 Kilometer legten Michael und sein Bruder Christian zwischen Juni 2014 und Mai 2015 zurück, um den SK Sturm zu verfolgen. Michael lebt für diesen Verein. Diese Phrase wird von Fans gerne missbraucht. Doch er lebt ihn wirklich. Sturm Graz auf dem Sweater, Sturm Graz auf dem Rollstuhl. Zuhause, an den vier Wänden seines kleinen Zimmers, ist beinahe jeder Quadratzentimeter mit seinem Lieblingsverein bedeckt. Große Fahnen, kleine Fahnen, ein Gemälde mit dem Sturm-Logo und Erinnerungsfotos. Hinter einem Glasrahmen bewahrt er sorgsam zwei Tickets besonderer Auswärtsfahrten auf. 2009 spielte Sturm gegen Panathinaikos Athen, 2010 gegen Juventus Turin. Michael war dabei. Für das Juventus-Spiel quälte er sich sogar mit einer mehr als achtstündigen Busfahrt. Nimmt man Michael Sturm Graz weg, würde etwas in seinem Leben fehlen. Etwas Großes.

Michael, 32 Jahre. © David Baumgartner

„Er ist ein Kämpfer“, sagt Christian wenige Tage vor dem Spiel über seinen Bruder. Seit seiner Geburt, bei der sein Gehirn zu wenig Sauerstoff erhielt, sitzt Michael im Rollstuhl. Ein Unterschenkel musste ihm auch amputiert werden. Im Kindesalter machte er unzählige Operationen durch. Er ist spastisch, sein Bewegungsapparat eingeschränkt. Doch seine Augen leuchten. Stolz öffnet Michael in seinem Zimmer einen Schrank. Christian muss mit beiden Händen anpacken, um alle Originaldressen herausnehmen zu können. Benedikt Pliquett, Gordon Schildenfeld, Ferdinand Feldhofer. An die zwanzig Trikots hat er, zu jedem gibt es eine eigene Geschichte. Er hat die Momente vor Augen, als die Fußballer ihm diese Dressen schenkten. Benedikt Pliquett kannte ihn, weil er bei jedem Testspiel und vielen Trainingseinheiten dabei war. Immer, wenn der Torwart seinen treuen Zuschauer sah, kam er zu ihm und begrüßte ihn Faust zu Faust. Einmal, nach einem Testspiel, vermachte er ihm sein Trikot. Auch Ferdinand Feldhofer kam stets zu Michael, wenn er ihn sah. Oft nur, um „Hallo“ zu sagen. Der Rollstuhl-Fahrer freute sich jedes Mal. Einmal unterbrach der ehemalige Sturm-Verteidiger sogar ein Gespräch mit einem Fernsehreporter, als er den treuen Sturm-Fan bemerkte. Michael erinnert sich genau. Sturm Graz ist sein Leben.

“Er ist ein Kämpfer.”

„Madl! Offi!“. Raphael ist der erste, der die Namen der Spieler ruft, sobald er sie hinter der Windschutzscheibe erkennt. Die Black & White Rolli Crew wartet mittlerweile vor dem Rollstuhl-Eingang. Sie beobachtet, wie die Spieler, die bald vor ihnen am Feld laufen werden, ihre Autos parken. Als sie dann an der Rolli-Crew vorbeigehen, grüßen sie freundlich und lächeln. Die Rollstuhlfahrer erwidern den Gruß etwas schüchtern. Christian Klem ist der letzte Sturm-Spieler, der eintrifft. Als er an ihnen vorbeigeht, spricht ihn Michaels Bruder Christian an. Sie wechseln leise ein paar Worte. Michael fragt seinen Bruder, was er denn mit dem Verteidiger zu besprechen hatte. „Nichts Wichtiges“, antwortet Christian.

Erste Halbzeit

Raphael fuchtelt mit seinen Händen. Ein Hochkaräter für Sturm. Dass Roman Kienast mit einem Kopfball scheitert, lässt den Rollstuhlfahrern und 14.000 Sturm-Fans ein Raunen entgleiten. Gernot holt tief Luft, nur Michael verzieht noch keine Miene. Ihre Augen fixieren den Ball.

Sturm Graz Allez“, singt die Fankurve der Grazer. Obwohl die Rolli-Crew am anderen Ende des Stadions, auf der Längsseite nahe dem Gästesektor sitzt, singt und klatscht sie mit. Wenige Meter vor dem Rollstuhlsektor holt sich Thorsten Schick den Ball, um ihn einzuwerfen. „Gemma!“, ruft Raphael lautstark und erntet Lächeln aus den ersten Reihen der Gehenden, die hinter ihm sitzen.

Raphael, der emotionalste der drei Rolli-Fahrer, nennt den Stadionrasen das „heilige Grün“. Sie können es fast riechen. Die Rollstuhlfans sitzen beinahe ebenerdig zum Spielfeld. Meist haben sie eine gute Sicht auf das Spielgeschehen. Manchmal aber eine ganz schlechte. Blicken sie nach rechts, in Richtung Norden, wo sich die Cornerfahne befindet, dann verdeckt eine Trainerbank das Sichtfeld. Tritt dort jemand einen Eckball, sieht man ihn nicht. Das scheint aber das kleinere Übel zu sein. „Wir leben damit“, sagt Gernot, „schlimmer finde ich, dass wir wenig Platz haben.“ Er meint den schmalen Gang des Rollstuhlbereichs. Knapp eineinhalb Meter ist der graue Betonboden breit. „Wenn mein Rollstuhl gerade steht, kommt hinter mir kein zweiter mehr vorbei. Man muss sich zur Seite drehen und Platz machen.“

Gernot war in vielen Stadien. In größeren, in kleineren. Österreichs wichtigste Fußballarenen hat er beinahe alle durch. Wenn er von seinen Fußballabenteuern erzählt, spricht er aber nie von der tollen Kulisse. Ob das Stadion ihm gefallen hat, ist zweitrangig. Zuerst erzählt er, ob der Besuch barrierefrei und angenehm war. Das Stadion in Klagenfurt lobt er zum Beispiel. Auch die Heimstätte der Wiener Austria. Dort wurde der Rollstuhlbereich erst adaptiert. Keinerlei Probleme gebe es dort. Genügend Platz und optimale Sicht auf das Feld, wie Gernot erzählt. Von der Münchner Allianz Arena gar nicht zu reden. Sie suche ihresgleichen, meint er.

“Wenn mein Rollstuhl gerade steht, kommt hinter mir kein zweiter mehr vorbei.”

Gernot, 26 Jahre. © David Baumgartner

Im Frühjahr 2000 sah Gernot zum ersten Mal ein Sturm-Spiel. Es war ein Grazer Stadtderby. Er erinnert sich genau. “Ich war noch klein, ich konnte nicht über den Metallzaun hinweg schauen”, erzählt er. Er blickte durch die grauen, kalten Eisenstäbe hindurch und sah, wie der GAK in Führung ging. Sturm antwortete aber mit sechs Toren und schoss den Erzrivalen mit 6:1 aus dem damaligen Arnold-Schwarzenegger-Stadion. Gernot erzählt, als wäre es gestern gewesen.

Heute ist vieles anders. Gernot ist längst ein erwachsener Mann. Er ist über den Metallzaun hinausgewachsen, den GAK in seiner alten Form gibt es auch nicht mehr. Gernot verdient sein Geld als Buchhalter. „Ein angenehmer Job“, sagt er. Dass er die meiste Zeit vor dem Bildschirm sitzt, stört ihn nicht. Für ihn ist es eine Erleichterung. Die spastische Tetraplegie begleitet Gernot, seit er atmen kann. Die Nervenkrankheit ist nicht sehr stark ausgeprägt, auf den Rollstuhl ist er dennoch angewiesen. Seine Beine haben nicht die Kraft, um ihn zu tragen. Auch in den Händen sind seine Muskeln steif. Vor allem dann, wenn er sich anstrengt.

Halbzeit

Eins zu eins. Die Metallsessel klappen hoch. Die meisten der 14.000 Besucher stehen auf und verlassen für 15 Minuten den Sitzplatz. „Ein dummes Gegentor“, sagt Christian enttäuscht. Vor ihm ergreift sein Bruder den grauen Metallzaun. Enttäuscht legt Michael seinen Kopf auf den Arm. Gernot ist besser gelaunt. Vor dem Spiel hatte er gemeint, das Spiel würde unentschieden enden. Zur Pause liegt er mit seinem Tipp nahe.

Michael beantwortet mit einem Achselzucken die Frage, ob er zufrieden ist. Er beobachtet Klem, den Verteidiger der Grazer, wie er mit seinen Kollegen vom Feld trabt. Christian will seinem Bruder noch immer nicht verraten, was er vor dem Spiel mit dem Fußballer zu plaudern hatte. Stattdessen diskutiert die Rolli-Crew über das Spiel. Raphael, der einen Sturm-Sieg prognostizierte, dreht seinen Rollstuhl nach links. Er möchte den Rollstuhlbereich verlassen. Die übrigen Rolli-Fahrer machen ihm Platz und lassen ihn passieren.

Das Behinderten-WC benützt Raphael eigentlich nur im Notfall. Er und die anderen Rolli-Fahrer meiden diesen Ort. „Oft haben wir nicht einmal Klopapier“, sagt er. Sein Ärger ist nicht zu überhören. Gereinigt würden die Sanitäranlagen für Behinderte auch zu selten. Raphael vermutet, dass auch Menschen ohne Behinderung die Toiletten benützen und diese verschmutzt zurücklassen. Vor einiger Zeit forderte Raphael daher beim Stadioneigentümer den „Eurokey“, einen europaweiten Universalschlüssel für Behinderten-WCs. Nun gelangt man in zwei der vier Toiletten nur mit dem entsprechenden Schlüssel. Der Zustand habe sich gebessert, optimal sei er aber noch immer nicht. Er sperrt die verriegelte Tür auf. Als er die Türschnalle nach unten drückt, kommt ein Gehender aus der Toilette nebenan. „Siehst du“, sagt Raphael und erhöht seinen Stimmpegel so, dass der Mann ihn hören kann. „Das habe ich gemeint.“ Aus dem WC dringt muffiger Geruch. Raphael überrascht das nicht. „Klopapier haben wir heute sogar.“

Raphael, 23 Jahre. © David Baumgartner

Raphael kam querschnittsgelähmt zur Welt. Zwischen seiner Brust und den Zehen fühlt er nichts. Er hat aber gelernt, damit zu leben, tritt selbstbewusst auf. Mut hat er auch. Als der SK Sturm im Jahr 2010 im Klagenfurter Stadion den Cup-Titel holte und tausende Fans vor Freude auf das Spielfeld rannten, wollte er zu den Feiernden gehören. „Ich scheiß’ mir da jetzt nichts, habe ich mir gedacht“, erzählt er heute. Er fuhr zum Eingang, der auf das Spielfeld führt. Securitys ließen ihn nicht passieren. „Lasst ihn doch hinein!“, beschwerten sich aufmerksame Fans. Der Sicherheitsdienst gab nach, Raphael fuhr auf den Rasen. Im Freudentaumel kam Verteidiger Martin Ehrenreich zu ihm. An seinen Wortlaut kann sich Raphael genau erinnern. „Tu deine Hände da weg. Ich schiebe dich.“ Die tobende Mannschaft und einige hundert Fans drehten mit Raphael und dem Siegerpokal feiernd eine Runde durch das Stadion. Es war der schönste Moment seiner Rollstuhlfan-Karriere.

Zweite Spielhälfte

„Tooooooooooooor“, ruft der Stadionsprecher in sein Mikrofon. 14.000 Fans springen aus ihren Sesseln, reißen die Hände in die Luft und jubeln. Es wird laut im Stadion. Michael schreit sich die Freude aus dem Hals, sein Bruder klopft ihm auf die Schulter. Er klatscht mit Raphael und Gernot ab. Christoph, Gernots Begleiter, hebt die Faust. „Beichler!“, „Beichleeer!“ bejubeln die Rolli-Fahrer den Torschützen im Einklang mit den Fans.

Raphael kehrte verspätet aus der Halbzeitpause zurück. Er bleibt in der Pause so lange wie möglich im kühlen Schatten, um zu viel Wärme zu meiden. Denn sein Körper kann durch die Lähmung nicht schwitzen. Der wolkenbedeckte Himmel lichtete sich ein wenig. Für andere wird es nun angenehm warm, doch Raphael ist vorsichtig.

Während des Spiels würde Raphael nie den Rollstuhlsektor verlassen. Da kann die Sonne den Liebenauer Stadionbeton noch so aufheizen. In extremen Fällen bekommt Raphael dann sogar Hilfe. „Reinhard Hochegger und Bruno Hütter sind tolle Kerle. Sie haben uns oft kalte Handtücher und Sprühflaschen gebracht“, lobt Raphael zwei Mitarbeiter von Sturm Graz, die sich um Rollstuhlfans kümmern. Mit den Sprühflaschen kann Raphael das Schwitzen imitieren, die Handtücher sollen ihn und die anderen Rollstuhlfahrer etwas kühlen. „Vor allem Bruno Hütter muss man hervorheben“, lobt Christian den Fanbeauftragten von Sturm Graz. Er unterstütze die Rollstuhlfahrer, wo er kann. Als Sturm im Jahr 2010 für ein Gastspiel in das norditalienische Turin reiste, organisierte Hütter den beiden Brüdern die schwer erhältlichen Tickets. „Ist mein Job“, antwortet Hütter stets, wenn sich die Rolli-Fans beim ihm bedanken. „Doch das ist nicht selbstverständlich“, sagt Christian.

© Susanne Hassler / Kleine Zeitung

In Deutschland hat jeder Bundesliga- und Zweitligaklub einen eigenen Fanbeauftragten für Menschen mit Behinderung. Das Interesse am Fußball nimmt dort andere Dimensionen an. Ausverkaufte Stadien sind keine Seltenheit - vollbesetzte Rollstuhlsektoren auch nicht. Das 80.700-Personen-Stadion von Borussia Dortmund bietet zum Beispiel nur Platz für 72 Rollstuhlfahrer. Der Rollstuhlsektor im Liebenauer Stadion ist dagegen riesig: Bei etwas weniger als 15.000 Sitzplätzen gibt es 60 Rolli-Plätze. Raphael war selbst einmal in Dortmunds Signal Iduna Park. „Es war gerammelt voll“, sagt er. „Was sind schon 72 Plätze in diesem Stadion? Dafür waren die Sanitäranlagen ein Traum“, schmunzelt er.

„Was sind schon 72 Plätze in diesem Stadion? Dafür waren die Sanitäranlagen ein Traum.“

Die angenehmen Bedingungen für Rollstuhlfahrer in Deutschland sind ein Verdienst der Bundes-Behindertenfan-Arbeitsgemeinschaft (BBAG). Ihr Ziel ist es, in Zusammenarbeit mit den Fanbeauftragten die Barrieren für Rollstuhlfahrer zu mindern. Die Arbeitsgemeinschaft legt Qualitätsstandards fest, die von ausreichend Parkplätzen, überdachten und geräumigen Sitzplätzen und Toiletten bis hin zum Zugang zum Catering-Service reicht. Auch die Einführung von Behinderten-Fanbeauftragten entstand auf Anregung der Arbeitsgemeinschaft. Sie wurde bereits im Jahr 1999 gegründet - in Österreich gibt es nichts Vergleichbares.

Gernot besuchte einmal Münchens Allianz Arena. Deutsche Stadien und die Bedingungen für Rolli-Fahrer seien naturgemäß nicht vergleichbar mit österreichischen Verhältnissen, meinen Raphael und er. Wegen der großen Nachfrage sei der Ticketkauf in Deutschland schon die größte Barriere. In den Stadien selbst hat man genügend Bewegungsfreiheit, meist eine schöne Sicht auf das Spielfeld und saubere Toiletten. Auch die Fankultur der Rollstuhlfahrer ist im Nachbarland eine andere. „Rollwagerl 93 e.V.“ unterstützt mit 643 Rollstuhlfahrern den FC Bayern. Neben diesem riesigen Verein gibt es rund 40 weitere Fanvereinigungen in Deutschland, die, wie die steirische Rolli-Crew, den Fußball lieben. Der Geh-, Seh- oder Hörbehinderung zum Trotz.

Schlusspfiff

Die Black & White Rolli Crew ist mit Michael, Gernot, Raphael und ihren beiden Begleitern Österreichs einzige rollstuhlfahrende Fangemeinschaft. Ihr Herzensverein muss heute ein Unentschieden hinnehmen. Zwei zu zwei. 14.000 Zuschauer und 28.000 Hände leisten dennoch Beifall. Auch die Rolli-Crew applaudiert.

Gernot freut sich. Sein Tipp, Sturm wird Remis spielen, ist tatsächlich aufgegangen. Hinter Gernot sprechen die Gehenden über das Spiel. „Sturm hätte auch verlieren können“, stellen sie fest. Die Rolli-Crew stimmt zu. Zwei rollstuhlfahrende Anhänger der Gästemannschaft verlassen das Stadion. Die TV-Stationen bitten den Trainer des SK Sturm zum Interview. Als Franco Foda an den Rolli-Fans vorbeigeht, hebt er seine Hand und lächelt. „Hallo!“, ruft er ihnen zu. „Hallo!“, antworten alle. Manche lauter, andere etwas schüchtern und leiser.

Die Mannschaft ist noch am Platz. Sie dreht eine Stadionrunde und verabschiedet sich von ihren Fans. Vor den 3000 Besuchern in Sturms Nordkurve ist die Stimmung am besten. Die Fahnen wehen dort noch immer, Trommeln untermauern die Gesänge. „Du allein, du allein bist mein Lebenssinn“, stimmen die Fans lautstark an und reißen die Hände in die Lüfte, als wäre das Spiel noch lange nicht vorbei. Die Rolli-Fans singen leise mit. Es klingt, als stamme das Lied von ihnen.

Die Black & White Rolli-Crew beobachtet die Fans, wie sie ihre Mannschaft beklatschen. Sie wäre gerne näher an der stimmgewaltigen Grazer Fankurve. Sie kann dort aber nicht sein. „Vorschriften, Sicherheit“, erklärt Raphael. „Alleine wegen der Stufen zu den Sektoren ist der Fluchtweg für uns nicht sichergestellt“, erklärt er. Sie haben schon viel versucht. Doch dabei sein ist alles. Das belegen Michaels und Christians 13.600 gefahrene Auto-Kilometer. Die Rolli-Fahrer wollen mitfeiern, wenn ihre Mannschaft jubelt. Und sie wollen mitleiden, wenn Sturm einer Niederlage nachtrauert. Sie sehnen sich nach den Emotionen.

Die Sturm-Spieler entfernen sich von der Nordkurve. Langsam traben sie in die Kabine. Viele Besucher haben sich längst aus dem Stadion zurückgezogen. Die Rolli-Crew wartet, bis der letzte Spieler in den Katakomben des Stadions ist. Sie applaudieren. Mann für Mann verschwindet im Spielertunnel. Nur einer bleibt am Platz. Christian Klem geht auf die Rollstuhlfahrer zu. Er nähert sich langsam, die verbliebenen Zuschauer rufen seinen Namen. „Klem!“ „Klem!“ „Klem!“. Michael ahnt nichts.

Als Klem bei den Rollstuhlfahrern ist, zieht er sein schweißnasses Trikot aus und streckt es Michael entgegen. Er greift es sanft, beinahe vorsichtig an. Der Sturm-Spieler lächelt, zieht von Dannen. „Danke!“, ruft Michael leise hinterher. Sein großer Bruder grinst.

Christian Klem erweitert Michaels Trikot-Sammlung. © David Baumgartner

--

--