“Verlasst eure Schreibtische und zeigt Respekt.” — Paul-Josef Raue über Lokaljournalismus

Die Mehrwertmacher
5 min readJul 5, 2018

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Illustration: Anke Krakow

Der Lokaljournalismus steht für die einen vor einer rosigen Zukunft, für die anderen gefährlich nah am Abgrund. Irgendwie scheint an beiden Positionen etwas dran zu sein. Das ist zumindest unser Gefühl nach einem Gespräch mit Paul-Josef Raue. Lokalredakteure müssen vor allem ihre Leser respektieren und sich selbst hinterfragen, sagt der ehemalige Chefredakteur mehrerer Tageszeitungen und erklärt uns, was wir in Deutschland von skandinavischen Verlagen lernen können.

Herr Raue, Ihrer Meinung nach wird die Provinz im Journalismus oft nicht ernst genug genommen. Warum, glauben Sie, ist das so?

Das ist ein Zeitungs-Phänomen: In der sozialen Hierarchie waren die Redakteure bedeutend, die im Mantel arbeiteten, die über die Mächtigen in den Hauptstädten schrieben und die hofften, eines Tages, nach einem Leitartikel über Albanien, vom „Spiegel“ einen Anruf zu bekommen. In zu vielen Verlagen ist das heute noch so: Welche Chefredakteure kommen schon aus dem Lokalen?

Und warum ist die Provinz in Ihren Augen trotzdem die Zukunft?

Die „Provinz“, ein eher negativ empfundenes Wort, deckt sich weitgehend mit der freundlichen „Heimat“: Beide stehen für Nähe, Vertrautheit, Übersicht, für Familie und Freunde. Die meisten Menschen schätzen Heimat als Zentrum ihres Lebens, was auch immer sie unter Heimat verstehen mögen. Die Großstadt ist keine Heimat, aber der Kiez ist Heimat, der auch ein Dorf ist, nur ist der Weg in die Oper nicht so weit wie auf dem Land oder in der Kleinstadt. Wer mit seiner Zeitung, ob gedruckt oder online, den Menschen die Heimat beschreibt, sie erklärt, sie mag und einordnet in die Welt — der hat Zukunft.

Im Mediendienst kress.de haben Sie geschrieben, dass der Lokaljournalismus seine Richtung ändern muss. Wo soll es denn hingehen und haben sich die Lokalredaktionen bereits auf den Weg gemacht?

Die Lokalredakteure müssen den Lesern folgen: Denen reichte über Jahrzehnte die Chronik, also die Nachrichten aus ihrer Welt, die Geburts- und Todesanzeigen, die geänderten Termine der Müllabfuhr. Immer mehr Lesern reicht das nicht mehr, sie wollen respektiert werden mit ihren Wünschen, sie wollen hinter die Mauern des Rathauses und der Unternehmen in ihrer Region schauen, wollen ihre kleine Welt besser verstehen als die große, die ihnen Angst macht.

Sicher sehnen sich die Menschen nach heiler Welt, aber sie wissen auch, dass es sie nicht gibt, auch nicht in ihrer Nachbarschaft. Das bedeutet für die Redakteure: Verlasst Eure Schreibtische! Schaut den Menschen in die Augen! Zeigt Respekt! Und: Recherchiert auch dort, wo ihr nicht willkommen seid! Einige Lokalredaktionen, aber längst nicht alle, haben sich auf diesen Weg gemacht.

Durch Synergien Ressourcen und Kosten sparen — das ist das Credo vieler Medienhäuser. Einige Regionalverlage bauen deshalb unter anderem auf die Zentralisierung ihrer Mantelressorts. Wie stehen Sie zur Strategie der Zentralredaktion?

Mantelredaktionen, die Agenturmeldungen bearbeiten, sind meiner Meinung nach überflüssig und teuer; sie zu bündeln, spart Geld, das man für die Lokalredaktionen, also die Zeitungszukunft, einsetzen kann. Die meisten Zentralredaktionen vergeuden aber Millionen, sie sind zu groß und bringen zu wenig: Recherche findet kaum statt, stattdessen produziert man mit hohem Aufwand Meldungen für die „Tagesschau“ und freut sich, wenn man zitiert wird. Diese Polit-PR lässt vielleicht Verleger und Gesellschafter frohlocken, aber keine Leser.

Eine gut besetzte und vernetzte Hauptstadt-Redaktion reicht, die auch die Interessen der Heimat-Redaktionen im Blick hält; alles andere übernimmt die „dpa“, die immer besser wird und die man sowieso bezahlen muss. Schon vor Jahrzehnten hat die „dpa“ übrigens, damals noch in Hamburg, Mantelseiten hergestellt in der Art, wie es heute teure Zentralen machen. Das Projekt lief nur kurze Zeit, den Verlagen ging es noch zu gut.

Wo wir gerade beim Thema Strategien sind: Was halten Sie eigentlich von der Digital-first-Methode? Ist das für Verlage der Weg in Richtung Zukunft?

Ich halte wenig davon. Wer seine journalistische Leistung bezahlt haben möchte, muss Qualität bieten und Professionalität, egal auf welchem Kanal. Der Weg in die Zukunft geht nur über einen Journalismus, der Respekt vor den Lesern hat und ihm das bietet, was gut für ihn ist und teuer, im doppelten Sinn des Wortes.

Sie sprechen sich für Qualitätsjournalismus statt unendlicher Reichweiten-Wettkämpfe aus. Dafür muss es in den Lokalredaktionen mehr Raum für Recherchearbeit geben. Können sich das die Redaktionen überhaupt leisten und wie könnte die Umsetzung in der Praxis aussehen?

Verlage müssen sich Qualität leisten, sonst machen es andere. Aber nicht nur Manager sind gefragt, auch die Redakteure: Wo und wie setzen wir unsere Kräfte und Ressourcen sinnvoll ein? Organisieren wir uns noch richtig? Wissen wir wirklich, was unsere Leser wollen? Zu viele stellen sich noch nicht einmal diese Fragen. Was soll man mit ihnen über eine Umsetzung reden? Wer fragt, unentwegt fragt, der kommt zu Lösungen.

In unserer Branche werden Schweden und Norwegen oft als Vorreiter für erfolgreichen Lokaljournalismus betrachtet. Was machen die Skandinavier anders und haben wir überhaupt die Voraussetzungen um nachzuziehen?

Während wir immer mehr Lokalredaktionen zusammenlegen, während immer mehr kleine Zeitungen aufgekauft werden und buchstäblich in größeren Verlagen eingehen, gibt es in dem weiten Norwegen schon seit Jahrzehnten viele kleine und kleinste Lokalzeitungen, die nur lokal berichten — aber in bestechender Qualität, auch im Design. Auch der Staat hat erkannt, wie wichtig Zeitungen, vor allem in abgelegenen Regionen, für die Demokratie sind und unterstützt sie, ohne auch nur im Geringsten auf den Inhalt Einfluss zu nehmen.

Wir sollten uns schon fragen: Ist es nicht sinnvoller, wieder kleiner zu werden, näher an die Menschen zu rücken? Ist die Strategie der Magazine, Nischen erfolgreich zu besetzen, nicht der bessere Weg, statt im Synergie-Rausch immer größer und bedeutender werden zu wollen? Brauchen wir ein anderes Wachstum?

Die Skandinavier erscheinen oft experimentierfreudiger. Macht das ihren Erfolg aus?

Das stimmt. Wenn eine Redaktion an einem Fjord nahe dem Ende der Welt für 30.000 Menschen eine Zeitung macht, mit einem Dutzend und mehr lokalen Seiten, dann muss sie rausgehen, mit den Menschen sprechen, in Fischerbooten, Fabriken und Cafés. Wer dabei ist, wenn sich die Welt verändert — um die Redaktion herum — der hat auch weniger Angst vor der Veränderung in der Redaktion. Wer Respekt und Veränderung sein Leben lang gelebt hat, der versteht weder unsere Probleme noch die Einstellung mancher Redakteure, auch in der Führung.

Hintergrund:

Paul-Josef Raue schreibt aktuell gemeinsam mit WAZ-Chefredakteur Andreas Tyrock an einem Buch über den Lokaljournalismus. Es soll im Rahmen eines Lokaljournalisten-Symposiums im Herbst veröffentlicht werden. Die Westdeutsche Allgemeine Zeitung feiert in diesem Jahr ihr 70-jähriges Bestehen.

Diesen und weitere interessante Beiträge finden Sie im Mehrwertmarkt, dem digitalen Treffpunkt für Verlage.

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