Dietmar Hochmuth
6 min readMay 23, 2016

Laudatio auf Christine Schorn, gehalten aus Anlass der Verleihung des Ehrenpreises GOLDENER OCHSE für ihr Lebenswerk auf dem Filmkunstfest Schwerin 2016

Von Dietmar Hochmuth

Als ich — für mich völlig überraschend — gefragt wurde, ob ich mir denken könnte, die Laudatio auf Christine Schorn und ihren Ehrenpreis GOLDENER OCHSE zu halten, habe ich spontan zugesagt, weil ich dieser Schauspielerin seit langem mehr Preise und Aufmerksamkeit wünsche, als sie bis dato bekommen hat. Doch schon nach einer halben Stunde erschien mir meine Zusage leichtsinnig, denn da bekam ich aus Schwerin ein Fax mit der Pressemeldung, in der geschrieben stand: „Die Schorn ist eine unverwechselbare Charakterdarstellerin, die noch jeder Rolle, sei sie auch klein, Ausdruck und Persönlichkeit verleiht. Ihr Spiel ist vital und kantig.“ Ich dachte mir, wie kannst Du diesen Satz toppen? Und heute Abend sehe ich nun auch noch, wie groß der Saal ist, in dem ich mir anmaße zu sprechen — da überkommt mich geradezu nachträglich Angst.

Also kramte ich in meinen Erinnerungen daran, wann sich unsere Wege kreuzten. Es begann sehr früh, vor langer, langer Zeit — mit einer passiven Begegnung. Passiv, weil Christine Schorn mich nicht sehen konnte, denn ich saß als Schüler der 5. Klasse im Deutschen Theater vor ihr — wir hatten damals eine Deutschlehrerin, die uns buchstäblich einmal pro Woche mit dem „Schülerabonnement“ ins Theater „prügelte“ (ich komme aus ja einer Erziehungsdiktatur!), wofür ich ihr noch heute dankbar bin, der Lehrerin und der Diktatur. Christine Schorn ging, zusammen mit Dieter Mann, in der mittlerweile legendären Inszenierung „Unterwegs“ zwei Stunden lang ganz vorn an der Rampe auf die Zuschauer zu, also auch auf mich; sie gingen und gingen, mit einer wohl speziell eintrainierten Technik, die mir bis heute einige Rätsel aufgab. Hinter ihnen: gefühlt Sibirien und vor ihnen, ebenso gefühlt: die Eroberung der Welt. Ein Roadmovie von Viktor Rosow, wie es heute wohl heißen würde, nur auf dem Theater. Berauschend fremd.

Foto: H.-D. Henschel, svz.de

Die nächste Begegnung geriet schon eher „interaktiv“, um im heute-Sprech zu bleiben: Ich arbeitete nach dem Abitur bei der DEFA in Babelsberg als Regieassistent und kam durch einen Zufall, wie es ihn vermutlich nur beim Film gibt, zu einem Regisseur, von dem ich als quasi Lehrling nur träumen konnte: Egon Günther, der gerade den Dreiteiler „Erziehung vor Verdun“ vorbereitete. Er erteilte mir gleich mal zu Anfang folgenden Auftrag: „Dietmar, es geht das Gerücht, dass ‚die Schorn‘ (so Brechtelnd avisierte man damals Darstellerinnen!) eine Abmagerungskur gemacht haben soll; kannst Du nicht mal nachsehen, ob da was dran ist. Und (jetzt kommt es!) sie fragen, ob sie bereit wäre, sich in unserer Rolle als Lazarettschwester unter der Dusche frei zu machen.“

Ich war gerade mal 18 und nicht eben geübt in der Überbringung solcher Botschaften, wie man sich vielleicht vorstellen kann; ablehnen ging aber auch nicht. So sah plötzlich wieder diesen Gang aus „Unterwegs“ und sie auf mich zukommen und schlief mindestens eine Nacht nicht: mir fiel überhaupt nichts dazu ein, wie ich den ersten Teil der Frage überspielen und den zweiten direkt stellen sollte, dachte mir nur immer wieder, warum mein Chef sich nicht selber auf den Weg zu ihr machte — Casting-Agenturen gab es damals nicht. Die Aufnahmeleitung verabredete einen Termin, und ich klingelte bei ihr an der Tür, wurde rot, noch bevor sie öffnete, nahm allen Mut zusammen und sagte nicht etwa: „Hallo, Frau Schorn“, wie heute vielleicht üblich, „wir kennen uns ja noch aus ‚Unterwegs‘ — Sie auf der Bühne, ich im Saal…“, nein, ich sagte, im Stakkato einer Schreibmaschine: „Guten Tag, Frau Schorn, ich komme von Egon Günther, und der bat mich, folgendes zu fragen: ‚Es geht das Gerücht, dass Christine Schorn eine Abmagerungskur gemacht haben soll; kannst Du nicht mal nachsehen, ob da was dran ist. Und sie fragen, ob sie bereit wäre, sich in unserer Rolle als Lazarettschwester unter der Dusche frei zu machen.“

Ich fuhr ein hohes Risiko, das sich aber sofort erledigte. Denn: Nun wurde auch sie rot und sagte: „Kommen Sie doch erst mal rein.“ Dann drehte sie sich einmal um die eigene Achse, so dass ich das Gerücht bestätigen konnte. Zum eigentlichen Anliegen sagte sie nur: „Und warum kann Herr Günther das nicht selber fragen?“ — „Ja“, sagte ich, „das geht mir, seit ich auf dem Weg zu Ihnen bin, auch nicht aus dem Kopf.“ Und so hatten wir plötzlich gemeinsam eine Frage an einen Dritten, der nicht anwesend war, womit sie sich erledigte.

Diese Episode begründete eine lange Freundschaft in seltener Offenheit. Christine Schorn konnte ganz direkt antworten und auch Rollen ablehnen. Dafür war sie bekannt. Diese — in der Arnold-Zweig-Verfilmung — nahm sie an; bei der Duschszene musste ich allerdings „raus“, wie es hieß; ich ahnte Schlimmes, aber als ich die Muster sah, „sah man nichts“, wie es ein Jahr zuvor, noch auf dem Schulhof, enttäuscht geheißen hätte: Christine Schorn war standhaft geblieben, hatte knapp gefragt „Wozu?!“, zeigte nur ihre abgemagerte Schulter und legte eine wunderbare Rolle hin, auch ohne die Verwirklichung der Idee Ganzkörperdusche, I. Weltkrieg.

Keine sieben Jahre später stand ich erneut vor ihrer Tür und sagte: „Guten Tag, Frau Schorn, ich bin’s schon wieder, diesmal in eigener Sache: ich bitte Sie, die Hauptrolle in meinem Diplomfilm zu spielen, und um es gleich zu sagen: frei machen müssen Sie sich nicht.“ Sie hatte sofort verstanden, worauf ich anspielte; lachte, wie nur sie es kann, und sagte ziemlich bald und ziemlich großzügig zu, wofür ich ihr bis heute dankbar bin, denn mit ihr stand und fiel der Film.

Durch diese Arbeit kam es — über meine Dramaturgin Christel Gräf und den Kontakt zu Helga Schubert, der Autorin der Vorlagen für meinen Film, zur „Beunruhigung“ von Lothar Warneke, Christine Schorns vermutlich wichtigster Kinoarbeit bei der DEFA.

Ihre Darstellungskunst im Film läuft nicht, wie sonst eher üblich, über den Dialog, auch nicht vordergründig über Körpersprache: Ihre Kunst ist die der Augensprache, wenn es so etwas gibt, und des ganz kurzen Dialogfetzens, oft sogar „weggesprochenen“. Christine Schorns Augen vermitteln zwischen der suggerierten Realität und dem Sehen des Zuschauers — auf eine buchstäblich ansprechende Weise. Ganz anders als im Theater, wo sie seit ihrem Start am Deutschen unzählige wunderbare Rollen spielte — unter Solter, Sagert, Höchst, Dresen, Besson und, und, und. Leider fehlt die Zeit, hier auch nur auf eine davon einzugehen.

Sie hat seit 1965 in ca. 70 Filmen gespielt, und das ist magischerweise fast genau die Zahl an Rollenjahren, die die romantische Sima aus „Unterwegs“ von der skurrilen Hamburger alten Dame im „Tatortreiniger“ trennen, wo sie — selber noch keine siebzig — eine 86jährige gab.

Christine Schorn war es vergönnt, ihre Karriere im Film auch nach dem Untergang der DEFA fortzusetzen, ohne gleich jede Rolle annehmen zu müssen. Das gelang nicht jedem. Alle ihre „neuen“ Filme, seither meist im Fernsehen, bekommen durch sie einen ganz bestimmten Pfiff, einen ganz besonderen Schliff: immer noch diese Augen, diese Mundwinkel. Möge das ihr — und damit uns — erhalten bleiben.

Ich kann mir aktuelle Filmtitel heute weniger merken als früher, manche sind auch einfach zu ähnlich, aber ich kann mich jedes Mal genau an ihre Rollen und Handlungskonstellationen erinnern — ob an die Mutter mit den drei Töchtern, die Oma mit dem Enkel, der ihr seine Entführung vorschlägt, oder die Mutter mit dem vorbestraften, debilen Sohn und, und, und…

Wenn ich einen Film mit Christine Schorn sehe, schicke ich ihr keine SMS, nein, ich stecke ihr ein einzeiliges Kompliment (manchmal auf einen Kassenbon gekritzelt) zwischen Scheibenwischerblatt und Windschutzscheine — wir wohnen zufällig in einer Straße. Und sie ruft mich an, zunächst erleichtert darüber, dass es kein Strafzettel ist, und dann reden wir. — Möge diese besondere Kommunikation uns erhalten bleiben und nur noch getoppt werden durch den Umstand, dass es sich verbietet, einen Film mit ihr zu loben, weil wir ihn gemeinsam gedreht haben — liebe Christine, an mir soll es nicht liegen!

Ich gratuliere ganz herzlich zu einem Preis, der noch nicht „fürs Lebenswerk“ heißen sollte.

7.5.2016, Schwerin, Kino Capitol

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