Hört auf, diesen Tweet zu teilen!

Über einen trojanischen Tweet, #Covidioten und Suizidprävention auf Twitter

Micha Müller 🇪🇺🇩🇪
4 min readNov 13, 2020

Auf Twitter macht derzeit unter dem Hashtag #NotAlone ein Text die Runde, in dem die Behauptung gestiegener “Selbstmordzahlen” aufgestellt und auf die Hotline der Telefonseelsorge hingewiesen wird.

Die Herkunft des Textes ist unbekannt, jedoch unterstützt er in erheblichem Umfang Falschbehauptungen der #Querdenker-Szene.

Warum du diesen schädlichen Text auf gar keinem Fall teilen solltest:

Es gibt keine gestiegenen Suizidzahlen

Schon länger verbreiten Quer”denker” die Behauptung, durch die Maßnahmen zum Schutz vor der COVID-19 Pandemie käme es zu einer Flut an Selbsttötungen.

Das ist eine Lüge. Sie dient den Verschwörungsideologen lediglich dazu, ihr Narrativ gegen die Maßnahmen zur Pandemieeindämmung zu stärken und Entscheidungsträger moralisch zu erpressen. Wie das Ärzteblatt berichtet, gibt es sogar Hinweise auf gesunkene Suizidraten seit Corona.

Mimikama hat sich mit der Falschbehauptung der gestiegenen Fallzahlen im Kontext dieses Tweets bereits beschäftigt und die Faktenlage übersichtlich dargelegt:

Teilst du den Tweet, teilst du von #Covidioten in die Welt gesetzte Lügen.

Der Begriff “Selbstmord” ist falsch und verletzend

Der Begriff Selbstmord bringt einen tragischer Akt der Verzweiflung, den ausschließlich der Betroffene mit seinem Leben bezahlt, mit einem Verbrechen in Verbindung. Er bürgt dem Opfer einer tödlichen Krankheit eine moralische Verantwortung auf und spricht ihn für seine Not schuldig. Das ist besonders tragisch für Menschen, die einen Suizidversuch überleben.

Niemand, der sich ernsthaft mit dem Thema auseinander gesetzt hat und Betroffenen wirklich helfen will, würde diesen grauenvollen, verletzenden Begriff je verwenden.

Unter dem Titel “Ein Wort, das es nicht geben sollte” haben die Autoren des Ärzteblattes weitere Informationen zusammengetragen.

Kopieren, nicht retweeten? Vorsicht!

Es gibt — neben der Angst vor Löschung, die hier keine Rolle spielen dürfte — nur einen Grund, Inhalt in sozialen Netzwerken via Copy & Paste anstatt über die dafür vorgesehenen Funktionen zu teilen: Die Herkunft soll verschleiert werden.

Der Hashtag #NotAlone scheint ursprünglich — mit ähnlichem Inhalt — aus dem englischsprachigen Raum zu kommen. Den deutschsprachigen Ursprung konnte ich nicht mehr ermitteln. Der ursprüngliche Autor hat seinen Tweet vermutlich längst gelöscht und twittert nun möglicherweise wieder über das “Merkel-Regime” und “Corona-Nazis”.

Derartige Tweets dienen primär der Selbstdarstellung

Beim Thema Suizid scheint in vielen Köpfen noch das Hollywood Klischee des Mädchens, das sich bestürzt über das Ende ihrer Beziehung von der Brücke wirft, vorzuherrschen. Bullshit!

Eine echte Depression [major depression] hat nichts mit schlechter Laune oder Wehleidigkeit zu tun und darf auch nicht mit einer depressiven Episode verwechselt werden. Es ist eine gefährliche, potentiell tödliche Krankheit, die oftmals rein organische Ursachen hat.

Suizid ist das Ende eines oft jahrelangen Leidensweges. Die Betroffenen haben sich diesen Schritt gründlich überlegt und sind meist sehr gut vorbereitet. Er ist so gut wie nie eine “Kurzschlussreaktion”.

Natürlich erfüllt die Telefonseelsorge einen wichtigen Zweck. Aber glaubst du, jemand der sich entschlossen hat, sich das Leben zu nehmen, hat noch nie etwas von der Telefonseelsorge gehört? Glaubst du, mit einem Anruf würde plötzlich alles wieder gut?

Mit dem gedankenlosen retweeten solcher Texte degradierst du nicht nur Kranke zu naiven, impulsiven Menschen, die nicht fähig sind, eine Telefonnummer zu googlen, sondern stößt Freunde & Follower auch mit dem pauschalen Verweis auf eine externe Stelle von dir weg.

Die einzige Person, der du mit so einem Tweet hilfst, bist du selbst.

Du möchtest wirklich helfen?

Solltest du den Text bereits verbreitet haben, lösche den Tweet. Formuliere ihn nicht um oder ergänze ihn mit “Einordnungen”. Lösche ihn.

Akzeptiere, dass du dich nicht in die Gedankenwelt eines depressiven, suizidgefährdeten Menschen hineinversetzen kannst, nur weil du mal eine schwere Phase hattest.

Sei in deinem Freundeskreis (oder auch auf Twitter) aufmerksam. Sollte jemand Andeutungen machen, welche die Absicht erkennen lassen, sich das Leben zu nehmen, alarmiere sofort den Rettungsdienst, falls du die Person nicht physisch beaufsichtigen kannst. Selbst dann, wenn du die Ankündigung nicht ernst nimmst. Hast du bei einem Mitmenschen den Verdacht auf Depressionen und möchtest helfen, ließ den folgenden Artikel der AOK, um zu erfahren, wie das richtig geht.

Wenn du keine pauschalen “Selbstmord ist keine Lösung” Tweets in deinem Feed hast, ist dein Hilfsangebot auch glaubwürdig und kann von dem Betroffenen angenommen werden. 👍

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Micha Müller 🇪🇺🇩🇪
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