Hat das E-Book eine Zukunft?

André Spiegel
3 min readJun 9, 2018

Ich habe einem befreundeten Verleger geschrieben, wie schade ich es finde, dass ein mir sehr wichtiger Autor nicht elektronisch verfügbar ist. Seine Antwort: Ja, den müssten sie ohnehin bald wieder auflegen, aber an ein E-Book hätte er dabei nicht gedacht. Es rechne sich tatsächlich kaum. Hat das E-Book eine Zukunft? In seinem Verlag stagnierten die Verkäufe seit Jahren. Ich habe lange darüber nachgedacht und dann diese Antwort geschrieben.

Lieber N.N.,

diese paar Sätze, die du geschrieben hast, haben mich daran erinnert, in was für unterschiedlichen Welten man leben kann. Hat das E-Book eine Zukunft?

Weiß ich nicht. Ich habe seit acht Jahren kein Papierbuch mehr gelesen. Ich möchte nicht mehr an einem Ort sein, wo das Buch, das ich lesen möchte, nicht ist. Ich möchte bei einem Zitat nicht mehr denken “es war irgendwo oben links” und die Stelle dann doch nicht finden. Ich möchte keine Bananenkisten mehr schleppen. Ich möchte nicht mehr das Licht einschalten müssen, um ein Buch zu lesen. Ich wohne in Manhattan, ich habe keine Wohnung mehr, die groß genug wäre, um alle Bücher aufzunehmen, die mir wichtig sind. Ich möchte mich bei der Auseinandersetzung mit einem Gedanken nicht mehr von einem physischen Artefakt ablenken lassen.

Bin ich damit ein komischer Sonderling, ähnlich wie Leute, die sich einen Hut mit Drahtantennen auf den Kopf setzen, um besonders zukünftig zu sein? Schon möglich. Andererseits zeigen Statistiken, dass immerhin ein Viertel aller Leser elektronische Bücher lesen. Dass dein Verlag von diesem Viertel unterproportional wenig sieht, könnte mit einem Effekt zu tun haben, den ich seit langem beobachte, und den man “je anspruchsvoller, desto Papier” nennen könnte. Es ist ein spezifisch deutscher Effekt, der mich an einen anderen Effekt erinnert, nämlich den, dass Deutschland das einzige Land ist, in dem die Beteiligung an der digitalen Öffentlichkeit mit steigendem Bildungsgrad sinkt.

Die Tatsache, dass dein Verlag einer der ganz wenigen in Deutschland ist, die nicht ihr gesamtes Programm gleichermaßen auf Papier und digital herausbringen, könnte in diesem Sinne ein Qualitätsmerkmal sein.

Ich habe eine Zeitlang wirklich geglaubt, dass die elektronischen Bücher die Papierbücher ablösen würden. Inzwischen sehe ich, dass viele Leser — die Mehrheit offensichtlich — dabei nicht mitgehen, und dass das wohl auch so bleiben wird. Meine Kinder lieben ihre Papierbücher heiß und innig, so wie ich früher meine Papierbücher geliebt habe. Ob sie irgendwann denselben Abstraktionsschritt gehen werden wie ich, kann ich nicht vorhersagen.

Ich habe mir irgendwann gesagt: Okay, es wird also in Zukunft alles in beiden Formaten geben, auf Papier und digital. Aber mit der Zeit musste ich einsehen, dass die alten Bestände, alles was bis zum Ende des zwanzigsten Jahrhunderts erschienen ist, nur sehr begrenzt in die digitale Welt rübergelangen werden. Das ganze Suhrkamp-Universum allein: alles weg, und das wird sich auch nicht mehr ändern. Dann habe ich mir gesagt: Okay, also wird wenigstens alles, was ab dem einundzwanzigsten Jahrhundert erscheint, in beiden Welten vorhanden sein. Aber jetzt lerne ich, dass auch das nicht stimmt.

Ich halte es für gut möglich, dass immer mehr Verleger deinem Beispiel folgen werden und den elektronischen Markt, den sie eigentlich sowieso nie haben wollten, hinter sich lassen. Ich glaube, es ist auch schwer bis unmöglich, mit der gleichen Leidenschaft Papierbücher und elektronische Bücher zu gestalten. Wenige halten diesen Widerspruch aus. Ich ja auch nicht.

Das bedeutet, dass die Öffentlichkeit weiter zersplittern wird. Aber das tut sie ja nicht zum ersten Mal. Es gibt viele andere Gräben, die auch nicht überwindbarer sind als der zwischen dem Printuniversum und dem Digitaluniversum.

Dass ausgerechnet X.Y. auf eine der beiden Seiten fallen sollte, und zwar auf die, auf der ich nicht bin, ist schmerzlich. Ich habe mir damals, als ich ihn auf Papier gelesen habe, neun Seiten herausgeschrieben. Das Buch habe ich dann irgendwann an eine Bibliothek hier in Manhattan weggegeben, in der Erwartung, dass es ja nun nicht mehr lange sein konnte, bis eine elektronische Ausgabe käme. Jetzt ist die neunseitige Datei, die irgendwo auf einem Server in einem Rechenzentrum liegt, das einzige, was ich noch von ihm habe. Wenn du ihn jetzt wieder auf Papier herausbringst, werde ich mir wohl ein Exemplar hier nach Amerika schicken lassen, es aufschneiden und mit einem OCR-Scanner meine persönliche, digitale Ausgabe daraus machen. Lieber wär’s mir, wenn jeder die kaufen könnte.

Mit herzlichen Grüßen,
A.

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André Spiegel

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