Warum es keine digitale Gesellschaft gibt
Ich habe diesen Aufsatz vor etwa einem Jahr, im Mai 2016, für die Offline-Zeitschrift UNIVERSITAS geschrieben. Man hatte mich gebeten, etwas über die digitale Gesellschaft zu schreiben, und ich habe geantwortet, dass ich höchstens etwas darüber schreiben könnte, warum es keine digitale Gesellschaft gibt. Ich habe den Aufsatz danach lange liegen lassen, weil ich nicht sehr zufrieden bin damit. Ich glaube, das liegt daran, dass ich mich ausdrücklich an ein Offline-Publikum wende darin. Das verletzt die Grundregel des Schreibens, dass man immer nur für sich selber schreiben und dabei den jeweils schwierigsten Gedanken, der einem selbst am unklarsten ist, weiterzudenken versuchen muss. Anderen legt man das Ergebnis dann nur zur Ansicht vor. Ich denke allerdings, dass dieser Graben zwischen offline und online ein Problem ist, das nicht nur ich habe. Es ist darum nicht zuletzt zur Dokumentation dieses Problems, dass ich diesen Aufsatz doch online stelle. Außerdem, hey: jetzt ist er schon mal geschrieben.
Also: Warum es keine digitale Gesellschaft gibt
Es ist alles ins Rutschen geraten. Wie eine gewaltige Welle spült die Digitalisierung über die Gesellschaft und lässt keinen Stein auf dem andern. Traditionsreiche Branchen werden hinweggefegt. Man braucht überhaupt nicht nach Beispielen zu suchen; es genügt, einen beliebigen Bereich lange genug anzugucken, um zu sehen, wie durch die Digitalisierung alles über den Haufen geworfen wird. Ein globaler Logistikriese gräbt dem Einzelhandel das Wasser ab. Die Menschen reden nicht mehr miteinander, sondern gucken nur noch auf ihre Displays. Leser erwarten Journalismus zum Nulltarif, während die Printmedien sterben. Über der deutschen Automobilindustrie hängen düstere Wolken, während Amerikaner sich anschicken, Autos wie iPhones zu bauen. Wir stehen an der Schwelle zu einer digitalen Gesellschaft, in der alles, alles, aber auch wirklich alles mit Computern und über das Netz gemacht wird.
Das ist eine hübsche Geschichte, die mal wütend, mal besorgt, mal enthusiastisch vorgetragen wird. Aber sie stimmt nicht. Es gibt keine digitale Gesellschaft, und sie steht auch nicht kurz bevor. Ich werde dafür drei Gründe nennen.
Erstens, es gibt keine digitale Gesellschaft, weil »digital« schon ein ganz alter Hut ist. Wir sind nicht erst gestern auf die Idee gekommen, Informationen durch Null und Eins darzustellen und mit diesen Nullen und Einsen reale Vorgänge zu beeinflussen. Wenn wir bislang noch in keiner digitalen Gesellschaft leben, dann ist überhaupt nicht klar, was sich in nächster Zukunft so fundamental ändern sollte.
Die erste digitale Maschine war vermutlich der Webstuhl, den Joseph-Marie Jacquard im Jahr 1805 erfand. Das Webmuster — Faden hoch, Faden runter — wurde als binäre Information auf Lochkarten gespeichert und von der Maschine selbsttätig verarbeitet. Kurze Zeit später, im Jahr 1830, wurde der Telegraph erfunden. Mit dem Morsealphabet liegt ihm ein digitaler Code zugrunde. Spätestens um das Jahr 1870, als die ersten Interkontinentalkabel in Betrieb gingen, war die Welt auf Lichtgeschwindigkeit zusammengerückt.
Computer im heutigen Sinn wurden in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts erfunden, und seit Mitte der sechziger Jahre führte die Halbleitertechnik zu jenem exponentiellen Anwachsen der Rechenleistung, die als das Mooresche Gesetz bekannt wurde. Alle achtzehn bis vierundzwanzig Monate verdoppelte sich die Anzahl der Bauelemente auf einem Chip, was dazu führte, dass heutige Smartphones mehr können als ganze Rechenzentren vor einigen Jahrzehnten.
Aber exponentielle Vorgänge können nur kurze Zeit existieren, bevor sie buchstäblich das ganze Universum ausfüllen würden. Und tatsächlich herrscht in der Industrie Einigkeit, dass das Ende der Mooreschen Verdoppelungsschritte entweder schon erreicht ist oder innerhalb der nächsten Jahre bevorsteht. Die Integrationsdichte ist dann auf der Ebene einzelner Atome, also physikalischer Größenkonstanten, angekommen. Obwohl bei solchen Vorhersagen immer ein gesunder Optimismus angebracht ist — fundamentale Grenzen haben noch nie lange gehalten—, sieht es zur Zeit danach aus, als würden wir uns am Ende einer kurzen, fünfzig Jahre währenden Inflationsphase befinden, innerhalb derer die Digitaltechnik bis an ihre physikalischen Grenzen expandierte.
Mit anderen Worten, die Geräte, die wir mit uns herumtragen, werden nicht mehr wesentlich leistungsfähiger werden. Das ist aber auch gar nicht nötig, denn alles wichtige passiert inzwischen im Netz.
Das Internet wurde 1969 erfunden. Ende der neunziger Jahre bekam die Allgemeinheit Zugang dazu. Und seit etwa 2007 wurde es durch die Erfindung des Smartphones allgegenwärtig. Inzwischen kann jeder Mensch augenblicklich mit jedem anderen Menschen kommunizieren, sei es per Text, Sprache oder Video, und das kostenlos. Außerdem hat sich das entwickelt, was wir als soziale Medien bezeichnen: Blogs, Facebook, YouTube. Die globale Öffentlichkeit hat sich dadurch vollständig demokratisiert. Jeder kann jetzt zur ganzen Menschheit sprechen, auch das augenblicklich und kostenlos. Seit mehr als zehn Jahren.
Wir können also mit einer gewissen Berechtigung feststellen: Digitaler wird’s nicht. Und es ist nicht erst seit gestern so. Warum also kommen wir auf die Idee, dass die digitale Gesellschaft noch nicht da ist, sondern erst bevorsteht? Vermutlich darum, weil sich bei näherem Hinsehen zeigt, dass zu einer digitalen Gesellschaft noch sehr, sehr viel fehlt. Man könnte sogar sagen, dass von den fundamentalen Problemen einer digitalen Gesellschaft noch kein einziges gelöst ist. Sehen wir uns ein paar dieser Probleme an.
Nach wie vor finden entscheidende kulturelle und wissenschaftliche Vorgänge auf Papier statt. Es interessiert dabei nicht so sehr die ästhetische Präferenz für ein haptisches Medium, sondern es geht um Erschließung und Verfügbarkeit. Wir befinden uns in der paradoxen Situation, dass gigantische Informationsmengen per Google in Sekundenbruchteilen durchsuchbar sind, aber in diesem Informationsraum alles fehlt, was in Buchform erscheint oder jemals erschienen ist — mithin also die Summe allen menschlichen Wissens, das in Bibliotheken gespeichert ist. Es besteht ein krasses Missverhältnis zwischen unserer Fähigkeit, riesige Informationsmengen technisch zu erschließen, und der Tatsache, dass die wichtigsten, qualtitativ hochwertigsten Informationen, über die wir verfügen, von diesen Möglichkeiten ausgeschlossen sind.
Daran ändert sich auch durch E-Books nichts. Zwar kann ich den Text eines E-Books durchsuchen, was einen gewaltigen Sprung in der Erschließung bedeutet. Aber es ist eben nur dieses eine, meine E-Book, das ich durchsuche. Ich muss von seiner Existenz wissen und es besitzen, um etwas darin finden zu können. Als integriert in den Korpus menschlichen Wissens könnte es erst gelten, wenn eine Textstelle als Ergebnis einer beliebigen Google-Suche erscheinen könnte, auch und gerade dann, wenn ich von der Existenz des Buches noch gar nichts weiß.
Tatsächlich finden viele kulturelle Vorgänge inzwischen im Netz statt, fließend, losgelöst vom haptischen Träger. Netzaffine Menschen würden sogar argumentieren, dass die spannendsten, wichtigsten Kulturströmungen inzwischen alle im Netz zuhause sind. Auch der Wissenschaftsbetrieb — abgesehen von den Geisteswissenschaften — kommuniziert inzwischen digital und zieht das System der Papierzeitschriften und Bibliotheken nur noch als Ballast hinter sich her.
Aber genau dadurch droht ein Kulturbruch. Das Wissen und die künstlerische Produktion der Menschheit bis zum Ende des zwanzigsten Jahrhunderts bleibt aus dem neuen Korpus ausgeschlossen, und das bedeutet: Niemand wird es mehr kennen, niemand wird es mehr finden, es gerät in Vergessenheit. Und das wiederum käme einer Katastrophe gleich, die an den Brand der Bibliothek von Alexandria erinnert.
Natürlich liegt der Kulturbruch nicht nur an der Trägheit bestehender Strukturen. Es ist unter anderem nicht klar, wie und von wem das alles bezahlt werden soll. Durch die Bindung an physische Träger konnte Information bis zum Ende des zwanzigsten Jahrhunderts wie ein physisches Gut gehandelt werden. Das ist in einer vernetzten Welt nicht mehr möglich, mit weitreichenden Konsequenzen für das Urheberrecht und die Finanzierung von Kultur überhaupt. Die Antwort, die das Netz darauf gefunden hat, besteht zu einem beträchtlichen Teil aus Werbung, was nicht nur ästhetisch inakzeptabel ist, sondern auf Dauer nicht skaliert, also nicht genügend Einnahmen erzielen kann, um technisch und inhaltlich anspruchsvolle Dienste zu betreiben.
Ebenfalls kein Mangel an ungelösten Problemen besteht in den Bereichen Privatsphäre und Überwachung. Eine kurze Zeit lang sah es so aus, als würde sich die Balance unaufhaltsam zugunsten des Individuums verschieben. Seit Mitte der neunziger Jahre gibt es Verschlüsselungsverfahren, die weit mächtiger sind als alles bis dahin dagewesene, und sie stehen jedem, der sie benutzen will, frei zur Verfügung. Es sah ganz danach aus, als würde sich der Staat daran die Zähne ausbeißen, eine neue Ära der Autonomie des Individuums war angebrochen.
Seit Edward Snowden wissen wir, dass es nicht so ist. Der Staat hat sich keineswegs achselzuckend zurückgezogen, sondern seinerseits aufgerüstet. Wie sich herausstellt, erlaubt die vernetzte Welt eine weitaus umfassendere, lückenlosere, tiefer eindringende Überwachung, als wir uns bisher vorstellen konnten. In den Totalitarismen des zwanzigsten Jahrhunderts mussten bisweilen die Bewohner eines ganzen Nachbarhauses ausgetauscht werden, um eine verdächtige Familie überwachen zu können. Heute reichen dafür ein paar Mausklicks.
Man muss dem Staat dabei nicht einmal finstere Beweggründe unterstellen. Er versucht einfach, bestehendes Recht durchzusetzen. Dass die Aufhebung des Fernmeldegeheimnisses, was früher ein in Ausnahmefällen erlaubter, aber punktueller Akt war, inzwischen einem Dammbruch auf ganzer Linie gleichkommt, müsste erst in der Rechtsprechung abgebildet werden.
Die Reaktionen darauf sind extrem und verwirrend. Digitale Bürgerrechtler sind empört und verlangen, den Staat in seine Schranken zurückzuweisen. Andere kommen zu dem Schluss, dass sich im Netz ohnehin keine Privatsphäre, wie wir sie kennen, aufrechterhalten läßt. Wir alle hinterlassen unweigerlich überall Datenspuren, auch ohne dass ein finsterer Staat uns nachstellt. Es wäre demnach besser, die Flucht nach vorn anzutreten und Postprivacy als Grundbedingung zu akzeptieren, statt einen vergeblichen Kampf um eine untergegangene Welt aus Fernmeldegeheimnis und Das-geht-niemand-was-an zu führen.
Sehen wir uns schließlich den neuen globalen Marktplatz an, auf dem jeder ohne Ansehen der Person sprechen und die ganze Welt erreichen kann. Er heißt Facebook und YouTube, Snapchat und Twitter. Die Folgen sind grandios und verblüffend, verstörend und peinlich.
Grandios ist der Ausbruch der Kreativität, der vollständig an den üblichen Konventionen und Türhütern vorbei stattfindet. Fünfhundert Millionen Tweets am Tag. Wer soll das alles lesen, einordnen, bewerten? Es bilden sich neue Strukturen heraus, Mund-zu-Mund-Propaganda, Etablierung der eigenen Online-Identität, man knüpft Beziehungen, die für Qualität bürgen. Dennoch, die Größenordnungen übersteigen jedes Fassungsvermögen. Es ist nur natürlich, dass wir uns an die Maschinen um Hilfe wenden.
Facebook setzt automatische Bewertungsfunktionen ein, um zu entscheiden, welche aus tausenden möglichen Beiträgen dem Benutzer angezeigt werden und welche nicht. Twitter, lange der Hort des Purismus, wo jeder nur genau das zu sehen bekam, was er sich selbst ausgesucht hatte, hat inzwischen gleichgezogen und filtert die angezeigten Nachrichten nach Qualität und den vermuteten Interessen des Benutzers.
Solche Verfahren ziehen scharfe Kritik auf sich, lustigerweise oft von den Benutzern der ersten Stunde, die einmal aufgeschlossen für das Neue waren, aber jetzt wollen, dass alles immer so bleibt, wie es ist. Bei Google hingegen, wo die automatische Filterung und Gewichtung der Suchergebnisse schon ein Jahrzehnt älter ist, funktioniert sie reibungslos und der Dienst ist ohne sie überhaupt nicht vorstellbar.
Allerdings versetzt diese Filterung die Unternehmen, die sie ausüben, in eine unerwartete Machtposition. Es ist spekuliert worden, dass Facebook den Ausgang von US-Präsidentschaftswahlen beeinflussen könnte, wenn es die Auswahl der angezeigten Beiträge für bestimmte Bevölkerungsgruppen auch nur um Bruchteile von Prozentpunkten ändern würde. Dass Medien Meinungen bilden, ist allerdings nichts neues. Das tun schließlich die klassischen Medien auch; es ist der schlichte Grund ihrer Existenz. Und dennoch bereitet es Unbehagen, soviel Macht in den Händen einzelner Unternehmen zu wissen. Die schwierige Frage lautet: Wie können hier Regeln und Sicherungssysteme etabliert werden, ohne dass träge Strukturen entstehen, die den klassischen Medien zum Verwechseln ähnlich sehen?
Es ist außerdem nicht zu leugnen, dass die plötzliche Möglichkeit, laut und vernehmlich zur ganzen Welt zu sprechen, eine Menge Unerwartetes hervorbringt. Belangloses in Mengen, aber auch ganz andere Mißtöne. Was früher an Stammtischen gemunkelt wurde, ist plötzlich weithin sichtbar und verstärkt sich. Die Qualität der Diskussion ist nicht naturgegeben, sondern muss, wie schon immer, erkämpft und geschützt werden. Es ist allerdings noch nicht so recht klar, mit welchen Mechanismen.
Die Schriftstellerin Kathrin Passig sagte vor kurzem, wenn das World Wide Web ein Mensch wäre, hätte es gerade sein Studium abgeschlossen. Es ist nämlich kaum dreißig Jahre alt. Das, was wir soziale Medien nennen, ist dagegen ein Zehnjähriger, noch nicht einmal in der Pubertät angekommen. In diesem Licht kann man vieles, was sich heute in der Netzöffentlichkeit abspielt, eher gelassen sehen. Es wird noch eine Menge Ärger geben, und viel Großartiges auch. Und es gibt viel zu tun.
Wenn wir an dieser Stelle eine kurze Zwischenbilanz ziehen: Die digitale Gesellschaft ist keineswegs über Nacht hereingebrochen. Es gibt sie schon lange, und niemand ist bisher auf die Idee gekommen, sie als solche zu bezeichnen. Die Vorgänge, die man als digitale Transformation bezeichnen könnte, rechnen nach Jahrzehnten und Jahrhunderten. Es ist darum auch nicht so, dass die Schwelle zu etwas qualitativ anderem unmittelbar bevorstünde. Wir befinden uns an einer zufälligen Stelle eines langen Prozesses, und daraus folgt auch, dass die Frage, ob wir diesen Prozess wollen oder nicht, ob er uns interessiert oder nicht, vollkommen irrelevant ist. Wir werden ihn weder aufhalten noch vollenden können, wir können höchstens hoffen, ihn an der einen oder anderen Stelle mitzugestalten.
Und damit kommen wir zur dritten These, oder vielmehr einer Beobachtung: Aus mysteriösen Gründen gibt es in Deutschland viel weniger digitale Gesellschaft als anderswo auf der Welt.
Bleiben wir einen Moment bei den sozialen Medien, bei Facebook und YouTube, bei Snapchat und Twitter. Deutschland ist die einzige Industrienation, in der die Beteiligung an dieser digitalen Öffentlichkeit mit steigendem Bildungsgrad sinkt. In anderen Ländern ist es gerade umgekehrt: je gebildeter, desto aufgeschlossener, desto aktiver das Engagement. Nicht so in Deutschland. Der Verfasser kann es aus eigener Anschauung bestätigen: Um das Jahr 2007 herum, mit der Erfindung des Smartphones und dem Aufkommen der sozialen Medien, ging ein Bruch durch die intellektuelle Landschaft. Ein großer Teil der gebildeten und anspruchsvollen Freunde, die man in den neunziger Jahren kennen und schätzen gelernt hatte, waren plötzlich verschwunden, und sie ließen sich bis heute nicht auf dem globalen Marktplatz blicken. Nach E-Mail war Schluss.
Es wird zu fragen sein, warum das so ist. Aber bleiben wir zunächst bei den Symptomen.
Aus Deutschland kommt keine digitale Innovation. Keine der großen Internet-Plattformen ist in Deutschland entwickelt worden, nicht einmal Standards oder wissenschaftliche Grundlagen kamen in den letzten Jahrzehnten aus Deutschland. Nun kann nicht jedes Land ein Silicon Valley haben; tatsächlich spricht vieles dafür, dass diese historisch einzigartige Zusammenballung aus Kreativität, Unternehmergeist und Risikokapital ein spezifisch amerikanisches Phänomen ist, das sich nur dort und nur jetzt herausbilden konnte. Es sind schließlich auch nicht überall auf der Welt Pyramiden gebaut worden.
Dennoch — bei einem Land, das für seine präzisen Ingenieure berühmt ist, dessen Autos und Maschinen zu Recht Weltruf genießen, ist es verblüffend, dass im digitalen Bereich so komplett rein gar überhaupt nichts kommt. Es rufe niemand Soundcloud — das ist die eine Ausnahme, die die Regel bestätigt, eine bescheidene Ausnahme noch dazu. Und es rufe niemand SAP, denn das ist tatsächlich nicht nichts, aber es ist dröge Unternehmenssoftware, die noch am ehesten mit der Ausstrahlung einer Fertigungshalle zu vergleichen ist.
Aber nicht nur mit der Innovation hapert es, sondern selbst das Mithalten gelingt kaum. Die Breitband-Datenversorgung in Deutschland ist im internationalen Vergleich bemerkenswert schlecht, die flächendeckende Versorgung mit mobilem Internet geradezu erbärmlich. In Ballungsräumen ist die Situation noch halbwegs erträglich, aber sobald man sich jenseits der Stadtmauern begibt (in einem an und für sich schon sehr kleinen Land), gibt es fast überhaupt kein Netz mehr.
Dieser Rückstand hat einen vergleichsweise konkreten Grund: Zu Beginn des neuen Jahrtausends wurden die Frequenzbänder für den damals neuen Mobilfunkstandard UMTS an die Telekommunikationsunternehmen versteigert. Der Staat nahm für diese Lizenzen Milliarden ein, die Mobilfunkbetreiber mussten tief in die Tasche greifen — so tief, dass sie über Jahrzehnte nicht mehr genügend in den Ausbau der eigentlichen Technik investieren konnten. Die trägen Strukturen ehemaliger Staatsunternehmen wie der Telekom taten ein übriges. Ganz offensichtlich versuchte Deutschland hier mit bewährter Gründlichkeit auf eine Entwicklung einzusteigen, deren Geschwindigkeit man vollkommen unterschätzte.
Berühmt ist Deutschland außerdem für seine Sorge um die Privatsphäre. Als Google um das Jahr 2007 begann, Straßenzüge abzufotografieren, um daraus den Dienst Streetview zu entwickeln — die digitale Erschließung des urbanen Raums—, ging das überall auf der Welt gut, nur in Deutschland nicht. Es gab einen Aufschrei und große Teile der Bevölkerung sahen ihre Privatsphäre gefährdet, wenn jeder einfach so im Internet nachgucken könnte, wie das eigene Haus von außen aussieht. Nach massiven Protesten konnte das Projekt schließlich nur durchgeführt werden, nachdem man jedem Hauseigentümer das Recht zum Widerspruch einräumte — das betreffende Haus musste dann in der Streetview-Ansicht wie durch eine Milchglasscheibe unkenntlich gemacht werden. Das Wort Verpixelungsrecht erlangte als einer der ersten deutschen Beiträge zur Netzkultur internationale Berühmtheit.
Heute, zehn Jahre später, ist Streetview in allen Industrienationen flächendeckend vorhanden und wird ständig aktualisiert. Außer in Deutschland. Hier hat Google sich entnervt zurückgezogen und mitgeteilt, dass keine weiteren Aktualisierungen des Bildmaterials geplant sind. Die Verpixelung kann übrigens auch nicht mehr zurückgenommen werden: Aus Datenschutzgründen mussten die unverpixelten Hausansichten komplett gelöscht werden.
Das Streetview-Debakel ist symptomatisch. Wenn Deutschland inzwischen für irgendetwas im digitalen Bereich bekannt ist, dann für seine ungewöhnlich große Empfindlichkeit in Fragen der Privatsphäre. Die Folge ist, dass neue Funktionen der großen Internet-Plattformen in Deutschland oft erst verspätet oder gar nicht verfügbar werden, weil den Firmen die Auseinandersetzung mit den deutschen Bedenken zu mühselig ist.
Ähnlich verhält es sich mit der Abschaffung des Bargelds. In vielen Ländern wird sie mit großem Eifer betrieben, während man in Deutschland einen Angriff auf bürgerliche Freiheiten dahinter wähnt. In keiner Industrienation wird soviel in bar bezahlt wie in Deutschland, und es schickt sich an, diesen Status entschlossen zu verteidigen.
Und noch etwas anderes ist ein ausschließlich deutsches Phänomen: das Wort »Digitalisierung« selbst. Es taucht in keiner anderen Sprache auf. Man könnte dahinter das deutsche Talent vermuten, Dinge auf den Begriff zu bringen. Vielleicht ist es aber auch ein Reflex, sich die Digitalisierung, indem man sie zu einem abgrenzbaren Phänomen erklärt, soweit wie möglich vom Leibe zu halten.
Übrigens führt der Hinweis, dass ein bestimmtes Land sich in irgendeiner Hinsicht von allen anderen Ländern unterscheide, nie dazu, dass dieses Land sich dann sputen würde, schneller zum Rest der Welt aufzuschließen. Eher im Gegenteil. Das ist bei der amerikanischen Krankenversicherung und der Schusswaffenbesessenheit nicht anders als beim deutschen Hang zum Bargeld. Trotzdem möchte man nach den Gründen fragen.
Ich sehe zwei mögliche Erklärungen für diesen deutschen Rückstand in digitalen Belangen, und ich möchte sie als eine Art Ausblick hier ans Ende stellen, ohne zu entscheiden, ob eine dieser Erklärungen zutrifft. Die erste ist eher schmeichelhaft für Deutschland, die zweite nicht.
Die erste, schmeichelhafte Erklärung wäre, dass es in Deutschland gründlicher zugeht als anderswo. Man ist in Deutschland gut darin, Dinge zur präzisen Vollendung zu bringen, aber nicht gut im Ausprobieren, Experimentieren und Verwerfen. So erklären sich die Höchstleistungen der deutschen Ingenieure und ihrer Industrie, so erklärt sich aber auch, warum Deutschland in der digitalen Welt, wo sich alles in rasender Geschwindigkeit verändert, wie ein täppischer, übelgelaunter Gast erscheint, statt den neuen Möglichkeiten aufgeschlossen zu begegnen. Wenn etwas daran ist an der Aussage, dass Deutschland das Land der Dichter und Denker ist, wenn also das intellektuelle Niveau in Deutschland ungewöhnlich hoch ist, dann erklärt das vielleicht, warum deutsche Intellektuelle über Facebook nur den Kopf schütteln, jenes Facebook, in dem es unordentlich zugeht und das selbst von seinen Befürwortern manchmal als ein Kindergarten für Erwachsene bezeichnet wird. Nicht zuletzt könnte man Deutschland zugute halten, dass es aus seiner furchtbaren Geschichte gelernt hat, und zwar gründlich, und dass sich so das hohe Misstrauen in Fragen der Privatsphäre erklärt. Es könnte berechtigt sein, dieses Misstrauen. Die anderen sehen es nur nicht.
Die weniger schmeichelhafte Erklärung besteht darin, dass Nationen im Lauf ihrer Geschichte verschiedene Phasen durchlaufen, und Deutschland sich in einer Phase des Abnehmens, des Rückgangs befindet. Wenn eine Gesellschaft störrisch alles Neue ablehnt, zeigt das ein fundamentales Vitalitätsdefizit. Es passt ins Bild, dass das Durchschnittsalter in Deutschland derzeit bei 46 Jahren liegt, das sind volle zehn Jahre mehr als in den USA. Und um es mit Douglas Adams zu sagen: Alles, was zwischen dem fünfzehnten und dem fünfunddreißigsten Lebensjahr eines Menschen erfunden wird, ist neu und spannend und revolutionär und man kann wahrscheinlich einen Beruf daraus machen. Alles was nach dem fünfunddreißigsten Lebensjahr erfunden wird, ist gegen die natürliche Ordnung der Dinge.
In Deutschland wurden über Jahrzehnte zuwenig Kinder geboren, und es griffe zu kurz, das der Politik anzulasten. In den USA gibt es keine bezahlte Elternzeit, keine allgemeine Krankenversicherung, und eine Ausbildung kostet ein Vermögen — trotzdem werden dort wesentlich mehr Kinder geboren, die Gesellschaft ist spürbar jünger und aufgeschlossener, experimentierfreudiger, entschlossener.
Das wäre in der Tat eine traurige Erklärung, und vielleicht ist es ja doch so, dass die Stunde Deutschlands, die Stunde, in der sich Präzision, Gründlichkeit und Vollendung wieder auszahlen werden, noch nicht gekommen ist. Man sollte diese Frage wohl am besten amerikanisch beantworten, mit der Überzeugung, dass nicht die Gesellschaft, nicht die kulturelle Phase, in der man zufällig geboren wird, über die eigenen Möglichkeiten bestimmen, sondern das Individuum selbst, und jeder alles tun und werden kann, was er nur will. Auch in der digitalen Gesellschaft, die es längst gibt, andererseits noch gar nicht gibt, und die gerade jetzt dringend gebaut werden muss. Eine äußerst spannende Zeit.