“Eine bittere Vergangenheit nutzen, um eine bessere Zukunft zu schaffen”
Wie stellte Mohammad Chātami die außenpolitischen Weichen der Islamischen Republik Iran für das 21. Jahrhundert und wohin führt diese Reise? Teil 1 einer dreiteiligen Serie.
“Eine bittere Vergangenheit nutzen, um eine bessere Zukunft zu schaffen”. Mit diesen Worten beschrieb der fünfte Staatspräsident der Islamischen Republik sein politisches Programm.
Im Auftakt dieser kleinen Serie über die Sicherheitspolitik des Iran soll zunächst das derzeitige politische System des Iran kurz und verständlich aufgezeigt und anschließend die Außenpolitik unter Mohammad Chātami skizziert werden. In den weiteren Texten wird versucht zu erklären, was zur Wahl seines polarisierenden und international zum heutigen Tage sicherlich deutlich bekannteren Nachfolgers — Mahmud Ahmadinedschad — führte und schließlich wie sich die Außenpolitik unter Hassan Rohani änderte, wie es zum Atomabkommen im Sommer 2015 kam und ein versuchter Ausblick auf die Auswirkungen des Abkommens.
Über die Jahre hinweg fanden in der iranischen — insbesondere Außen- Politik — ideologisch-religiöse Motivationen Anwendung wie in keinem zweiten Land. Dies schadete aus neutraler Perspektive betrachtet oftmals fundamentalen eigenen politischen Zielen wie Frieden, internationaler Anerkennung oder wirtschaftlicher Entwicklung.
Solche ideologischen Aspekte sind von Bedeutung, da insbesondere in der Diplomatie Vertrauen langsam aufgebaut und gleichzeitig sehr schnell zerstört werden kann.
In den Texten der Reihe soll gezeigt werden, wie insbesondere im Verlauf der letzten 20 Jahre ein strategischer Ansatz fehlte, gegenläufige Politikziele mit ungeeigneten Mitteln verfolgt wurden und sich die Darstellung moralischer Überheblichkeit mit fast kindlich anmutender Empörung und Aggressivität abwechselte.
checks and balances
Doch zunächst ist es wohl angebracht das politische System der Islamischen Republik kurz darzustellen. Insbesondere während der Amtszeit Ahmadinedschads und im Zuge der Wahlen 2013 kam es dabei zu widersprüchlichen Äußerungen in der westlichen Presse:
In Bezug auf Ahmadinedschad wurde auf die „irren Mullahs mit der Bombe“ angespielt, während bei der Amtsübernahme durch den im Vergleich deutlich gemäßigten Rohani festgestellt wurde, dass der Staatspräsident sowieso dem Ayatollah Chamenei unterstellt sei.
Die Wahrheit liegt, wie sooft zwischen diesen Polen. Zunächst sei angemerkt, dass formal weder der Ayatollah, noch der Präsident das Staatsoberhaupt darstellen, sondern lediglich die Vertretung des eigentlichen Staatsoberhauptes, dem seit 941 versteckt lebenden 12. Imam al-Mahdi.
Dieses schiitisch-religiöse Konzept wirkt aus westlicher Sicht zwar äußerst ungewöhnlich, hat und hatte (insbesondere unter Ahmadinedschad — mehr dazu im zweiten Teil der Serie) jedoch konkrete Auswirkungen auf die Politik. Bis zu dem Tag, an dem der verborgene Imam sich zeigt, ist das faktische Oberhaupt des Staates der auf Lebenszeit vom Expertenrat gewählte Revolutionsführer — seit 1989 der Ayatollah Ali Chamenei.
Die Macht des Führers bezieht sich hauptsächlich auf die groben Richtlinien der Politik, theologische und grundlegende Fragen; er ist Oberbefehlshaber der Streitkräfte und Polizei und zuständig für Fernseh- und Radioanstalten. Auch dem Präsidentenamt gegenüber hat er gewisse Rechte, so kann er diesen in Kooperation mit dem Obersten Gerichtshof bei Verfassungsbruch entlassen. Er besetzt auch die 6 Theologen im Wächterrat, einem 12-köpfigen Gremium, das bei Konflikten zwischen den Verfassungsorganen vermittelt. Es ist wohl am ehesten als eine Mischung aus Verfassungsgericht und islamischem Politbüro in anderen politischen Systemen zu vergleichen und hat eine zentrale Funktion innerhalb des Systems.
Die wohl wichtigsten Aufgaben sind die Überprüfung der vom Parlament erlassenen Gesetze auf Verfassungs- und Islamkonformität, sowie die Zulassung der Kandidaten bei allen Wahlen.
Dies ist zwar — ohne Zweifel — ein starkes Recht, welches oft zu Kontroversen führt und der berechtigte Angriffspunkt zahlreicher Kritik innerhalb und auch außerhalb des Systems.
Allerdings zeigt die politische Praxis, dass bei den Wahlen bislang stets ein kleines, aber für viele westliche Beobachter unerwartet breites — wenn natürlich noch immer deutlich beschränktes — Spektrum an politischer Vielfalt den Bürgern zur Verfügung steht.
Der Staatspräsident hingegen wird alle 4 Jahre vom Volk aus dem Kreis der vom Wächterrat zugelassenen Kandidaten gewählt und bekleidet maximal zwei Amtszeiten. Dieser ist der Regierungschef und kümmert sich hauptsächlich um das politische Tagesgeschäft, aus dem sich der Revolutionsführer im Allgemeinen heraushält.
Ihm unterstehen 10–12 Ressortminister. Er übernimmt auch den Großteil der Repräsentation der Islamischen Republik nach außen und ist der zweite Mann im Staat nach dem Revolutionsführer. Insbesondere in der Außenpolitik ist der Präsident also der entscheidende Faktor.
Die legislative Funktion innerhalb der Islamischen Republik wird vom alle 4 Jahre gewählten Parlament, dem Madschles, übernommen, die zur Wahl stehenden Kandidaten werden ebenfalls vom Wächterrat ausgewählt.
Der Iran verfügt im Gegensatz zu vielen anderen Ländern in der Region über eine überraschend funktionsfähige Zivilgesellschaft und politische Diskussionskultur, wenngleich diese ausdrücklich natürlich nicht mit westlichen Maßstäben gemessen werden kann. Dennoch finden innerhalb der von Wächterrat und Religiösem Führer gesetzten Grenzen für die Mehrheitsgesellschaft demokratische und rechtsstaatliche Prinzipien Anwendung.
Mit Ausnahme der Präsidentschaftswahlen im Sommer 2009, welche damals weitreichende Proteste auslösten — näheres dazu im nächsten Artikel — scheinen die Wahlen innerhalb des Kreises der zuvor vom Wächterrat zugelassenen Kandidaten demokratisch abzulaufen. Dadurch, dass in der Regel internationale Wahlbeobachter fehlen ist dies allerdings nicht abschließend zu beurteilen.
Dies soll natürlich ausdrücklich auf keine Weise die in weiten Teilen menschenrechtsfeindliche Praxis des Iranischen Systems, insbesondere gegenüber politisch und religiös Andersgläubigen, Frauen, Homosexuellen und anderen Bevölkerungsgruppen rechtfertigen. Es ist lediglich ein Versuch anstatt der üblichen Schwarz-Weiß-Typologie verschiedene Graustufen einzuziehen.
Kein politisches System ist perfekt und dennoch kann man totalitäre, intolerable und brutale Systeme untereinander vergleichen. Damit ist selbstverständlich in keiner Weise deren Handeln gerechtfertigt!
Der Iran Mitte der 90er Jahre
Wenden wir uns dem Zustand des Iran zu Beginn der Amtszeit Mohammad Chātamis zu. Die Islamische Revolution 1979 und der lange, aufreibende Erste Golfkrieg mit dem Irak in den 80er Jahren prägen das Land bis heute. Der Iran erreichte in dieser Zeit den Höchststand an politischer Radikalisierung und Indoktrination. Insbesondere prägt die Erfahrung und Ideologisierung dieser Zeit das Denken und Handeln der derzeitigen Machthaber.
Nicht zuletzt der hohe Blutzoll und der Umstand, dass vor allem junge Männer wegen des Krieges eine schlechtere Bildung erfuhren, beeinflusst die soziale Architektur der Islamischen Republik bis heute maßgeblich.
So war es trotz der religiös — ideologischen Bedenken während des Krieges unabdingbar, auf die Arbeitskraft der Frauen zurückzugreifen und sie sind seitdem nicht mehr aus der iranischen Gesellschaft wegzudenken. Es entwickelte sich insbesondere in den Städten ein selbstbewusstes Frauenbild, welches man dem Gottesstaat wohl so nicht zugetraut hätte, auch wenn man von Gleichberechtigung noch weit entfernt ist.
Des weiteren führten die großen Verluste innerhalb der Kriegsgeneration auch dazu, dass heute 70 Prozent der iranischen Bevölkerung unter 30 sind und für Veränderungsdruck auf die politische Führung sorgen und auch in näherer Zukunft sorgen werden.
Die Islamische Revolution führte den Iran auch in eine geopolitisch problematische Situation: so hatte man mit dem damals und in seiner Gestaltung bis heute einmaligen politischen System der Islamischen Republik sowohl den Westen, nach der Geiselnahme von Teheran 1979–81 insbesondere die USA gegen sich, wie auch die Sowjetunion, die dem „dritten Weg“ des Schiitischen Gottesstaates ebenfalls kritisch gegenüberstand und den Irak Saddam Husseins unterstützte.
In den 90er Jahren führte der Wunsch nach weltpolitischer Unabhängigkeit bei gleichzeitiger Abhängigkeit der in großem Umfang politisierten internationalen Gas- und Ölmärkte dazu, dass sich der Iran in seinem Autarkiestreben marginalisierte. Man versuchte sich lieber als Opfer der Weltpolitik darzustellen anstatt die Herausforderungen und Chancen globalisierter Märkte anzunehmen. Dies und der große Einfluss von Militär und Staat auf die Wirtschaft führten zu großen ökonomischen Problemen.
In dieser Ausgangssituation fand Mohammad Chātami das Land vor, als er am 23.5.1997 mit einer überwältigenden Mehrheit von etwa 70% zum Staatspräsidenten gewählt wurde.
Doch wer ist dieser Mann?
Chātami wurde 1943 in Ardakan im Zentraliran geboren und studierte Theologie und Philosophie in Qom und Isfahan. Von 1978 bis 1980 war er Direktor des Islamischen Zentrums in Hamburg, dem Zentrum des Schiitischen Islam in Deutschland. Nach der Revolution kehrte er in den Iran zurück und wurde Abgeordneter des Madschles. Ab 1981 wurde er Minister für islamische Kultur und war von 1992 bis zu seinem Amtsantritt Direktor der Nationalbibliothek in Teheran.
Er erwarb sich dabei den Ruf eines gemäßigten islamischen Intellektuellen. Auch sein jüngerer Bruder Mohammed-Reza Chātami ist ein einflussreicher liberaler iranischer Politiker und Ehemann der Enkelin des Ersten Revolutionsführers Ruhollah Chomenei, Zahra Eshraghi.
Die Außenpolitik Chātamis zeichnet sich durch den Versuch die diplomatischen Verbindungen mit den Nachbarn, sowie dem „Westen“ zu festigen und auszubauen. Er wollte zeigen, dass der Iran keine Bedrohung von Frieden und Stabilität im Nahen Osten darstellt. Dazu vertiefte er insbesondere die Beziehungen zu Saudi Arabien.
Die Rivalität zwischen den beiden Ländern wird oft aus „westlicher“ Sicht unterschätzt, ist aber von zentraler Bedeutung für die Sicherheitsarchitektur der Region. Es spiegelt sich darin der innerislamische Konflikt zwischen den Schiiten, deren einziger bedeutender politischer Fürsprecher auf Staatenebene der Iran ist, und den (arabischen) Sunniten, die die Mehrheit der Muslime weltweit stellen und zu deren politischem Vertreter sich Saudi Arabien als Land der Heiligen Stätten von Mekka und Medina etabliert. Auch startete er Versuche, diplomatische Brücken zum Irak aufzubauen.
Insbesondere die völlig zerstörte Beziehung zu den USA lag ihm am Herzen. So trafen sich Diplomaten inoffiziell am Rande von Sportveranstaltungen und Chātami versuchte Begegnungen zwischen Tätern und Opfern der Geiselnahme von Teheran zu arrangieren. Dabei scheiterte er allerdings an radikalen Kräften im eigenen Land. Die Geiselnahme ist bis heute die wichtigste Ursache für die außerordentlichen Spannungen zwischen den USA und der Islamischen Republik.
Zwar blieben die seit 1995 bestehenden Wirtschaftssanktionen bestehen und es gelang Chātami und seiner Regierung keine vollständige Aussöhnung, aber angesichts der Ausgangsbedingungen war dies auch nicht zu erwarten. Was ihm gelang war, dass sich der Umgangston veränderte und das im „Westen“ vorherrschende Bild der Iraner als fanatische, waffenschwingende und turbantragende Mullahs sich veränderte. Das tiefgreifende Misstrauen auf beiden Seiten konnte schrittweise abgebaut werden.
Innen- und wirtschaftspolitisch war Chātami recht erfolgreich, wobei es ihm selbstverständlich nicht gelang alle Probleme des Landes zu lösen und er während seiner gesamten Amtszeit starkem Widerstand der radikalislamischen Opposition ausgesetzt war.
Das bezeichnendste Beispiel für diese Opposition innerhalb des Staatsapparates sind die Studentenproteste 1999. Nach der Schließung der Zeitung Salam, welche zur Partei Chātamis gehörte, durch Gerichtsbeschluss am 8. Juli begannen zunächst friedliche Proteste von Studenten und Jugendlichen. Im Verlauf kam es zur Eskalation und regelrechten Straßenschlachten. Auslöser der Eskalation waren vermutlich Angehörige der paramilitärischen Freiwilligeneinheit der Bassitschi (Religionswächter), die sich zivil kleideten und im Umfeld der Demonstrationen randalierten, um den Sicherheitsbehörden Anlass zum Einschreiten zu geben. Die Behörden schlugen die Revolte blutig nieder, es kam zu bis zu 17 Todesopfern.
Schließlich beendete ein Aufruf Chātamis am 13. Juli den Aufstand und es folgten große regimetreue Demonstrationen. In der Folge vorgebrachte Reformvorschläge des Präsidenten, unter anderem die höchst umstrittene Auswahl der Wahlkandidaten durch den Wächterrat betreffend, wurden anschließend von demselben und dem Revolutionsführer verhindert.
Das Besondere an der Revolte war, dass die Protestierenden erstmals nicht, wie zuvor üblich als ewiggestrige Anhänger des Schah diffamiert werden konnten, da die meisten nach bzw. kurz vor der Revolution geboren waren und somit die Islamische Republik das einzige politische System war, in dem sie je lebten.
Die größte diplomatische Leistung Chātamis war Anzuerkennen, dass die Außenpolitik unter dem Schah vor der Revolution mit der starken Westanbindung und Betonung gemeinsamer Geschichte nicht vollständig schlecht war und dass man die Ungerechtigkeit der Welt nicht durch Isolation oder Jammern beseitigt. Im Sommer 2001 wurde er mit 78% für eine zweite Amtszeit bestätigt.
Etwa zur gleichen Zeit wurde allerdings auch in den USA ein neuer Präsident gewählt — George W. Bush. Dies und die Terroranschläge vom 11. September 2001 waren von besonderer Bedeutung für die Entwicklung der Region. Die Bedeutung dieser Einschnitte, die zweite Amtszeit Chātamis und die Regierungszeit seines Nachfolgers Mahmud Ahmadinedschad werden im nächsten Teil der Serie fortgesetzt.