Esther-Mirjam de Boer
4 min readApr 15, 2024

Wem gehört das Rütli?

Das Rütli ist eine kleine Wiese oberhalb des Vierwaldtättersees, die symbolträchtig als «Wiege der Schweiz» gilt: Sie ist der mythologische Ort der Gründung der Schweizerischen Eidgenossenschaft. 1859 kaufte die liberal geprägte Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft (SGG) das Stück Land, um den geplanten Bau eines Hotels zu verhindern. Im Jahr darauf schenkte sie es der Eidgenossenschaft als Allmende unter der Bedingung, dass sie den Auftrag zur Bewirtschaftung der Wiese behält.

Die SGG verwaltet die Wiese seit nunmehr 164 Jahren nach allen demokratischen Regeln, doch das passt der SVP seit geraumer Zeit nicht. Daher hat SVP-Nationalrat Thomas Aeschi im September 2023 eine Motion im Parlament eingereicht, um das Rütli der SGG zu entziehen. Der Bundesrat lehnte ab, denn das ginge gemäss gültigen Verträgen nicht.

Der SVP-Mann trug damit aber den identitäts- und machtpolitischen Streit ins Parlament, wer die Deutungshoheit über die eidgenössische Gründungssymbolik hat. Am 3. November 2023 überreichte anschliessend das «Team Freiheit» — eine Aktivistengruppe aus bürgerlichen Jungparteimitgliedern, die aus dem Widerstand gegen Corona-Massnahmen entstanden ist — eine Petition bei der SGG ein, die die Aufnahme neuer Mitglieder in den Verein verlangte.

Der Vorstand der SGG hatte zuvor einen vorläufigen Aufnahmestopp von Neumitgliedern beschlossen, nachdem eine auffällige Flut von Aufnahmegesuchen eingegangen war, die auf eine unfreundliche Übernahme der Hoheit über das Rütli und den Zugriff auf 100 Mio. Franken Vereinsvermögen hindeuteten. Da der Vereinsvorstand gemäss Statuten über die Aufnahme neuer Mitglieder entscheidet und es kein verbrieftes Recht auf Mitgliedschaft gibt, war der vorläufige Aufnahmestopp sicher angemessen, um den Verein und sein Vermögen gegen unlautere Absichten zu schützen.

Natürlich sahen das rechtspopulistische Medien und skandalhungrige Newsletters ganz anders, aber Empörung schürende Medienarbeit gehört nun mal zum Repertoire der Agitation und Zwängerei. An den Tatsachen ändert eine Schlammschlacht nichts, sie wühlt nur Dreck und Emotionen auf und soll Betroffene in der Schusslinie zu angstgesteuerten Reaktionen drängen, die auf juristischem Weg nicht durchsetzbar wären.

Die Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft arbeitet aktuell an einer Anpassung ihrer Statuten an die heutigen Anforderungen eines Vereins, der Freiwilligenarbeit fördert. Der Vorstand hat sich für ein Mitgliederkonsultationsverfahren entschieden, um die Erneuerung der Statuten breit abzustützen. Dabei wird natürlich auch diskutiert, wie sich der Verein in Zukunft gegen feindselige Übernahmeversuche und Missbrauch schützen kann. Die 100 Mio. Franken Kapital könnten nämlich auch andernorts Begehrlichkeiten wecken und der Griff nach dem Rütli ist noch nicht abgewendet.

An einem sonnigen Samstagmorgen am 2. März kamen rund 40 Vereinsmitglieder aus der ganzen Schweiz nach Zürich, um Varianten von Statutenanpassungen in verschiedenen Arbeitsgruppen zu erörtern. Der Schreck über den Angriff auf die Vereinshoheit sass vielen Anwesenden noch tief in den Knochen. Der Statutenworkshop diente daher auch der Vergangenheitsbewältigung. Im Lauf des Morgens wurde langsam klar, dass die aktuell gültigen Governance-Strukturen bereits zweckmässig waren und der Vorstand damit zielführend eingreifen konnte. Dass sich darüber einige vorläufig Abgewiesene in der Öffentlichkeit empört hatten, gehört offenbar zum politischen Theater dazu. Das muss man aushalten. Doch von deren Aufregung sollte sich niemand unnötig verunsichern lassen.

Zwar gab es bei den Teilnehmenden Voten dafür, die Rütli-Verwaltung aus dem Kern des Vereins auszulagern, um Ruhe zu schaffen und sich wieder voll und ganz auf den gemeinnützigen Vereinszweck zu fokussieren. Andere wollten zusätzliche Gefässe und Kontrollen einrichten.

Aber so wenig wir von Russland endgültig Ruhe erhalten, wenn wir Putin die Ukraine überlassen, werden wir in der Schweiz die Identitären und Rechtspopulisten befrieden, wenn die SGG oder die Eidgenossenschaft ihnen das Rütli überlässt. Auch nützen zusätzliche Kontrollinstanzen nichts, wenn die Angreifenden die vereinbarten Regeln nicht respektieren.

Wem dieser polemische Vergleich missfällt, der sei daran erinnert, dass der Ort von Russlands Gründungsmythos nach Putins Geschichtsauslegung Kyiv ist und dies mitunter als Begründung für den Angriff auf die Ukraine herhalten muss. So wie Putin seine Handlungen aus seinem selektiven Geschichtsverständnis herleitet, tut es auch ein geistiges Oberhaupt der sogenannten Schweizerischen Volkspartei.

Wem gehört jetzt also das Rütli? Es gehört seit 1860 der Schweizerischen Eidgenossenschaft. Es wurde vor 164 Jahren von weitsichtigen, demokratischen Liberalen der kommerziellen Nutzung entzogen und der Allgemeinheit als Allmende geschenkt, um den symbolischen Ort zu schützen. Es wird seither von einer gesellschaftspolitisch bedeutungsvollen, parteipolitisch unabhängigen, grossen, alten Institution bewirtschaftet, die das Rütli wirklich für alle zugänglich erhält.

Wenn jetzt plötzlich SVP-nahe Aktivisten und Politiker die Forderung aufstellen «das Rütli gehört allen Schweizern», dann ist diese Aussage bereits seit Jahrhunderten Realität und bedarf keiner weiteren Aufmerksamkeit. Als Forderung formuliert, steht sie allerdings in direktem Widerspruch zur vermuteten Absicht dahinter: bestimmte Kreise wollen das Rütli dem Einfluss anderer entziehen, die sie dafür wahllos als «Linke» brandmarken, um diese zu diskreditieren und in der Öffentlichkeit gezielt Empörung und Feindseligkeit zu schüren.

Der Vorstand der SGG hat also ein weiteres Mal im Sinne der ganzen Schweiz und in der liberalen Tradition des Vereins gehandelt und dabei viel Leadership und Nerven bewiesen, als er den symbolischen Ort für alle zugänglich erhalten und vor Partikularinteressen beschützt hat.

Für die Transparenz: Die Autorin dieses Beitrags, Esther-Mirjam de Boer, ist Einzelmitglied bei der SGG, Mitglied der FDP, kandidierte 2023 für den Nationalrat und hat während der Amtszeit des aktuellen SGG-Präsidenten Nicola Forster den Vorstand als Beraterin durch den Strategieprozess begleitet. Auch die Autorin wurde Zielscheibe von Diffamierungen durch Mitglieder und Unterstützer von “Team Freiheit”.

Am Tag der Publikation dieses Artikels hat Thomas Aeschi im Nationalrat dem scheidenden Präsidenten der SGG einen “persönlichen Denkzettel” (NZZ) verpassen können, indem die bürgerliche Mehrheit seiner Motion zugestimmt hat, die der Bundesrat bereits abgelehnt hatte. Die Verwaltung des Rütli soll der SGG entzogen werden, im Wissen darum, dass das Eigentum am Rütli mit der Kündigung des Verwaltungsauftrages gemäss Vertrag zurück an die SGG fällt. Der Coup war als persönliche Fehde gegen Forster populistisch geschickt getarnt, um die Folgen des Gelingens zu vertuschen. Die Bürgerlichen sind prompt in die Falle getappt. Was an sich schon eine Schande ist, weil eine persönliche Fehde wirklich nicht ins Parlament gehört. So viel Anstand muss sein.

Wenn das Rütli eines Tages tatsächlich wieder der SGG gehört, ist es für interessierte Kreise dann viel einfacher, das Gründungssymbol der Schweiz unter ihre Kontrolle zu bringen, als wenn der Besitzer die Schweizerische Eidgenossenschaft ist. Dieser taktische Schachzug ist — falls er doch noch gelingt — vielleicht nur ein kleiner Schritt gewesen in einem grösseren Plan der Aneignung von Identität, Symbole und Deutungshoheit der Schweiz als Nation.

Esther-Mirjam de Boer
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Written by Esther-Mirjam de Boer

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