Wir führen die falschen klimapolitischen Debatten. Höchste Zeit, dass sich das ändert

Felix Heilmann
6 min readNov 5, 2021

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Damit der Klimaschutz vorankommt, müssen wir die alten Debattenschleifen dringend hinter uns lassen.

Wer gesellschaftliche Diskussionen über Klimaschutz und gleichzeitig die fachliche Diskussion zu den notwendigen politischen Maßnahmen verfolgt, kann in diesen Tagen leicht den Eindruck erhalten, dass diese Auseinandersetzungen in getrennten Universen stattfinden.

Die gesellschaftliche Debatte zum Klimaschutz, mit ihrem oft hohen Abstraktionsniveau, ist noch immer polarisiert und emotionalisiert. Gleichzeitig herrscht in der fachpolitischen Debatte ein bemerkenswerter Konsens zu vielen Maßnahmen und Notwendigkeiten. Das zeigt sich nicht zuletzt in einer neuen Generation klimapolitischer Studien und Positionierungen, in denen von großen Industrieunternehmen bis hin zu Umweltverbänden und Forschungsinstituten weitgehende Einigkeit zu den dringendsten Handlungsnotwendigkeiten herrscht. Dieser Konsens spiegelt sich in der gesellschaftlichen Debatte kaum wider.

Mit Blick auf das, was für den Klimaschutz als Nächstes passieren muss, ist das ein großes Problem — denn in den 2020er Jahren muss Klimapolitik real werden, und wird es so oder so werden. Konkret: in den kommenden Jahren muss die Umsetzung von Klimaschutz in der Realwirtschaft an allererster Stelle stehen, die Zeit der Zieldebatten muss vorbei sein. Wenn diese Umsetzung scheitert oder nicht schnell genug stattfindet, dann wird uns eine andere Realität der Klimakrise einholen, nämlich ihre Folgen (die schon jetzt nicht mehr komplett zu verhindern sind). Und: auch in diesem Fall müssten Emissionen umso schneller gesenkt werden, in einem Umfeld, in dem die Transformation deutlich schwieriger zu steuern und somit um ein Vielfaches disruptiver wäre.

Daher ist es sehr wichtig, dass sich die gesellschaftliche Debatte und der Fachdiskurs zum Klimaschutz gegenseitig befruchten und eine positive Wechselwirkung entfalten — aktuell reden diese Welten noch sehr oft aneinander vorbei. Insbesondere in der politischen und gesellschaftlichen Auseinandersetzung muss viel stärker deutlich gemacht und anerkannt werden, welch bemerkenswerter Konsens über die notwendigen nächsten Schritte für den Klimaschutz besteht, und so auch das Feld der unvermeidlichen politischen Auseinandersetzungen verschoben werden.

Die gesellschaftliche Debatte: Klimaschutz als binäres oder sogar kulturelles Ziel, nicht als materielle Handlungsnotwendigkeit

Im Moment leidet die oft abstrakte gesellschaftliche Debatte zum Klimaschutz an einer Reihe von Schwächen. Dazu zählen ein gefährlich binäres Denken über die Frage, welche klimapolitischen Maßnahmen lohnenswert sind, die Tendenz, Klimaschutz primär als kulturelles Thema zu verhandeln, trotz seiner offensichtlichen Materialität, sowie ein einseitiger Fokus auf die Konsequenzen klimapolitischer Maßnahmen, bei einer weitgehenden Ignoranz der Konsequenzen ausbleibender Maßnahmen sowie der vielen Vorteile einer aktiven Klimaschutzpolitik. So wird auf dieser Ebene ein andauernder Konflikt zwischen einer kaum überwindbaren Mauer der politischen Untätigkeit (Fridays for Future et al.) und nicht umsetzbaren klimapolitischen Forderungen („Politik ist das, was möglich ist“, Bundeskanzlerin Merkel zum unzureichenden Klimapaket) verhandelt.

Ein Beispiel für die Binärisierung von Klimapolitik ist die im Wahlkampf oft wiederholte Kritik, dass „keine Partei“ ein Wahlprogramm habe, das mit der 1,5 Grad Grenze des Pariser Abkommens kompatibel sei. Das große Problem bei dieser Herangehensweise: Unterschiede zwischen Maßnahmenideen verblassen, dabei sind es genau diese Unterschiede, die die alles entscheidende Frage — wie viele Treibhausgase werden in Zukunft emittiert? — am stärksten beeinflussen. Darüber hinaus befeuert ein solch binäres Narrativ das gefährliche Bild, Klimaschutz lohne sich nur dann, wenn er von Anfang an auch die ambitioniertesten Ziele erreicht, und dass jenseits dieser Ziele alles Scheitern gleichermaßen schädlich wäre.

Dabei ist das Gegenteil der Fall: jedes verhinderte Zehntelgrad Erderwärmung ist wichtig (natürlich: je mehr, desto besser). Besonders problematisch: dieser Narrativ schafft eine Hürde, über die klimabewegte Menschen selbst stolpern können — in der Form eines Abwendens vom Einsatz für Klimaschutz, wenn die ambitioniertesten Ziele nicht innerhalb kurzer Zeit erreicht werden können. Abgesehen davon zeigt sich schon heute in vielfacher Weise, wie stark Diskussionen über Zieljahre anstelle konkreter Maßnahmen Akteure voneinander entfremden können, die eigentlich das Gleiche wollen.

Außerdem wird im Raum der gesellschaftlichen Debatte Klimapolitik oft in Form kultureller Fragen verhandelt, wie in der Diskussion über Lastenfahrräder während des Wahlkampfes. Das verkennt die massive materielle Dimension der Klimakrise, und zwar sowohl der Konsequenzen ausbleibenden Klimaschutzes als auch die materielle Dimension von Klimapolitik. Denn am Ende kann erfolgreicher Klimaschutz nur gelingen, wenn sich Prozesse in der materiellen Welt verändern, von der Energiegewinnung bis zur Energienutzung.

Solche materiellen Maßnahmen könnten auch innerhalb der bekannten politischen Prozesse erfolgsversprechend verhandelt werden, handelt es sich doch letztlich um klassische Verteilungsfragen. Dabei ist es entscheidend, dass das zu verteilende Gut nicht die klimapolitische Ambition per se ist, sondern lediglich die Aufteilung der bereits vielfach beschlossenen Ambition zwischen wirtschaftlichen Sektoren und verschiedenen Maßnahmen.

Die Fachdebatte: viel Einigkeit, viel zu tun

Genau mit diesen materiellen Prozessen und Veränderungen beschäftigt sich mittlerweile eine beeindruckende Zahl an Expert*innen, in Deutschland, Europa, und weltweit. Und hier ist die Debattenlage oft grundlegend anders — insbesondere, da ein weitgehender Konsens herrscht, dass die Umsetzung von Klimaschutzmaßnahmen volkswirtschaftlich deutlich kostengünstiger ist als das Verzögern solcher Maßnahmen, in Verbindung mit einer bemerkenswerten Übereinstimmung zu den notwendigen Maßnahmen für den Klimaschutz. Politische Forderungen in diesem Feld waren noch nie „so konsensual wie im Moment“, in den Worten von Jakob Schlandt, Redaktionsleiter des Tagesspiegel Background zu Energie- und Klimapolitik.

Besonders deutlich wird das anhand der neuesten Generation an Studien zum Erreichen von Klimaneutralität in Deutschland und weltweit. Diese ausführlichen Analysen von internationalen Akteuren, Industrieverbänden, klimapolitischen Think Tanks und Forschungskonsortien im Auftrag von Bundesministerien bieten nicht nur ausführliche technische Daten zur Erreichbarkeit von Klimazielen, sondern auch klare politische Botschaften und Positionierungen.

So ist mittlerweile weitgehend akzeptiert, dass Wasserstoff und synthetische Kraftstoffe wichtig, aber kein Allheilmittel sind, und daher beispielsweise die Zukunft des Autoverkehrs elektrisch ist, dass der Kohleausstieg vor 2038 abgeschlossen sein muss, und dass der Ausbau der erneuerbaren Energieproduktion der Dreh- und Angelpunkt der Klimawende ist (danke an Philipp Litz für eine ausführlichere erste Übersicht).

Bemerkenswert daran ist auch, dass diese Einigkeit ein relativ neues Phänomen ist, und daher neuen Rückenwind für die Klimapolitik geben kann und sollte. Gleichzeitig existiert mittlerweile ein belastbarer Rechtsrahmen, der Emissionsminderungen erforderlich macht, unter anderem durch die deutschen und europäischen Klimaschutzgesetze sowie das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes zum Klimaschutz.

Dieser Konsens kommt aber leider im gesellschaftlichen Diskurs kaum vor. Hier werden Kontroversen nach vorne gestellt — ein generelles Risiko in einer aufmerksamkeitsgetriebenen Medienlandschaft — und alte Konfliktlinien am Leben gehalten. Die Fragen, die hier regelmäßig verhandelt werden, von A wie Atomkraft bis hin zu W wie Wasserstoffautos, spielen in der Fachdebatte de facto kaum noch eine Rolle, sind also praktisch ausdiskutiert. Umso problematischer ist es, dass sie als vorrangig kulturelle Trennlinien die gesellschaftliche Debatte weiter stark bestimmen.

Im Gegensatz dazu könnte eine stärkere Berücksichtigung der oft bemerkenswerten Einigkeit innerhalb der Fachdebatten zu Energie- und Klimapolitik helfen, alle der oben identifizierten Probleme in der aktuellen gesellschaftlichen Auseinandersetzung anzugehen: durch einen stärkeren Fokus auf Maßnahmen anstatt auf abstrakte Ziele, durch eine Betonung der materiellen Dimension von Klimapolitik, und der Betonung der starken Unterstützung, den Klimaschutzmaßnahmen längst haben.

Fortschritt kann es nur geben, wenn klimapolitische Debattenräume mehr voneinander lernen

Eine solche Neuausrichtung der gesellschaftlichen Klimadebatte würde nicht nur ein positives Momentum für die Umsetzung von Klimaschutz, anstelle von Resignation oder Zynismus, schaffen, sondern auch eine deutlich konkretere und somit effektivere Messlatte für die Bewertung klimapolitischer Entscheidungen schaffen, auch im Rahmen der Koalitionsverhandlungen.

Wie kann dieses Ziel erreicht werden? Es wäre vermessen, an dieser Stelle ein abschließendes Rezept dafür präsentieren zu wollen. Einige Hürden sind aber klar: Meinungsartikel über Gebäudesanierung erzeugen weniger Interesse als Debatten über Atomkraft, und „Expert*innen sind sich einig“ ist auch nicht die vielversprechendste Schlagzeile (gemessen an den Logiken der Aufmerksamkeitsökonomie, nicht dem inhaltlichen Wert der Nachricht). Der Weg zu einer konstruktiveren Klimadebatte über Maßnahmen kann und wird nicht der Weg zu einer konfliktfreien Klimadebatte sein — das wäre zumindest in Anbetracht grundlegender politischer Dynamiken und der auch materiellen Brisanz des Themas eine große Überraschung.

Ziel sollte stattdessen eine Verschiebung der Konfliktlinien sein: weg von ausdiskutierten Fragen, Kulturkämpfen und nicht zielführenden Zieldebatten hin zu einer Diskussion des Widerspruches zwischen dem weitgehenden fachlichen Konsens auf der Maßnahmenseite und der fortbestehenden klimapolitischen Behäbigkeit in Deutschland. Um es noch einmal zu betonen: es geht um die Übereinstimmungen zur Frage, was als nächstes passieren muss — die deutlich weitergehender sind und auch eine konkretere Debatte erlauben als ein Fokus auf die selbstverständlich grundlegend wichtige Übereinstimmung zur Frage, ob etwas passieren muss. Ein zweiter Schritt in dieser Dynamik wäre dann auch eine intensivere Diskussion über die Themen, in denen auf der Maßnahmenebene noch Uneinigkeit besteht, sei es die genaue Gestaltung der Bepreisung von Emissionen oder auch die Zukunft der Gebäudewärme und Gasnetze.

Das erfordert auch eine deutlich engere Verknüpfung von Fach- und gesellschaftlichen Debatten. Die Reibung, die in diesem Diskurs entsteht, in dem auch die Konfliktlinien neu gezogen wären — Industrieverbände fänden sich plötzlich auf der gleichen Seite wie Umweltorganisationen und viele Gewerkschaften — könnte eine neue Dynamik in die klimapolitische Debatte bringen, und die dringend nötige Umsetzung von Maßnahmen befeuern.

Danke an Alexander Reitzenstein für wertvolle Kommentare und Feedback. Headerfoto: Trevor Dobson (CC BY-NC-ND 2.0).

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