Als ich die Begriffe Workation und Work-Life-Blending noch nicht kannte

Samantha Wolf
6 min readOct 26, 2015

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Coworking und Tourismus — so lässt sich das Thema meiner Master-Arbeit grob zusammenfassen. Seit zwei Monaten schreibe ich nicht mehr nur über dieses Phänomen, ich lebe es. Ich tue es meinen “Forschungsobjekten” gleich, verbinde Reisen und Arbeiten und schreibe meine Thesis aus in Feriendestinationen gelegenen Coworking Spaces. Dabei werde ich immer wieder gefragt, wie ich eigentlich auf dieses Thema gekommen bin. Der Grund dazu liegt einige Jahre zurück in einem Essay zum Thema „Wandel und Innovation der Arbeitswelt: Herausforderungen und Chancen”, das ich damals zur Aufnahme in mein Master Programm geschrieben habe. Es war das erste Mal, dass ich auf die Begriffe Coworking und digitale Nomaden gestossen bin. Im Folgenden also besagtes Essay von 2013 — nur ganz leicht abgeändert und doch immer noch erstaunlich aktuell:

Wer arbeitet eigentlich hier?

Die physische Präsenz am Arbeitsplatz wird zunehmend unwichtiger. Der Nine-to-Five Job verschwindet langsam. Entwicklungen, die nicht nur unser Arbeits-, sondern auch unser soziales Zusammenleben verändern werden.

Heute schick ich meinen Telepresence Roboter zum Meeting — das “Alter Ego auf Rädern“ erlaubt uns an zwei Orten gleichzeitig zu sein. Ein Exemplar der Kalifornischen Firma Anybots. (screenshot)

Bist du morgen im Büro? Eine Frage, die noch vor wenigen Jahren von den meisten als rein rhetorisch verstanden worden wäre — natürlich bin ich morgen im Büro, wo soll ich denn auch sonst sein? — hat heute durchaus ihre Berechtigung. Das Büro befindet sich in einer „Raumkrise“, stellte Sloterdijk schon 1999 fest. 2013 prophezeit Feinberg, Mitbegründerin von Green Spaces und Flocked: „Your office as you know it will be gone“.

Moderne Wissensarbeiter arbeiten wahlweise von Coworking Spaces, von zuhause oder von ihrer Hängematte auf einer Insel aus. Nine-to-Five gilt in einer globalen Welt voller selbstbestimmter flexibler Menschen für immer weniger Jobs. Der unsichtbare Arbeitnehmer — er arbeitet von überall, zu jeder Zeit. Da kann es schon mal vorkommen, dass ein Chef sich fragt: Wer arbeitet eigentlich hier?

Zwischen Kantine und Office — der spontane Austausch auf dem Flur ist unersetzlich, findet Marissa Mayer

Diese Frage mag sich auch Marissa Mayer, damals frischgebackener CEO des Internet Giganten Yahoo!, gestellt haben, als sie im Februar 2013 beschloss, das Home-Office aus dem Alltag der Yahoos zu verbannen. Offenbar unbeeindruckt von den Prophezeiungen der Trendforscher liess sie verlauten, dass sie ihre Schäfchen ab 1. Juni 2013 alle wieder im Stall versammelt haben will. Die Begründung:

To become the absolute best place to work, communication and collaboration will be important, so we need to be working side-by-side. . . . Some of the best decisions and insights come from hallway and cafeteria discussions, meeting new people, and impromptu team meetings. . . . We need to be one Yahoo!, and that starts with physically being together. (Auszug aus dem Yahoo internen Memo von Jackie Reses, 2013)

Ein unerwarteter Radikalschlag gegen das Home-Office und dies ausgerechnet aus dem Silicon Valley, wo das Arbeiten im Starbucks oder auf der Parkbank zuweilen schon fast als Geburtsrecht angesehen wird. Home-Office und andere mobile Arbeitsformen und flexible Arbeitsarrangements werden gemeinhin als der Weg der Zukunft gefeiert. In den USA arbeiteten bereits 2013 um die 30 Millionen Menschen, von wo auch immer es ihnen gerade beliebt. In Deutschland sollen es bis 2020 an die 80% werden.

Zwischen Effizienz und Ökologie — die Vorteile des mobilen Arbeitens

Der technische Fortschritt macht‘s möglich. Mobiles Arbeiten, so der Tenor, sei effizienter — das Unternehmen spart Büroplatz und Overheads, die Angestellten Reisezeit; es sei familienfreundlicher, erlaube es endlich Karriere und Kinder unter einen Hut zu bringen; es sei umweltfreundlicher — „Want To Go Green? Shut Your Office Down” wird proklamiert. Vor allem aber wird das Arbeiten von Zuhause und unterwegs mit höherer Produktivität und Mitarbeiterzufriedenheit assoziiert. Eine Studie der WorldatWork Association kommt zum Schluss, dass die Möglichkeit flexibel zu arbeiten Zufriedenheit, Motivation und Loyalität der Angestellten erhöht und zu einer tieferen Mitarbeiterfluktuation führt.

Die Frage, welche der durch Mayer neu entfachten Debatte um mobiles Arbeiten zugrunde liegt, ist jene nach dem Verhältnis von Produktivität, Innovation und virtuellem Arbeiten. Vermögen moderne Kommunikationsmittel und Konferenz-Tools die mit dem täglichen Gang ins Büro verbundene face-to-face Kommunikation zu ersetzen?

Zwischen Anreiz und Zwang — wer die Besten will, der muss etwas bieten

Dass Unternehmen, aus dem Glauben heraus, dass echte Innovation Teamarbeit und persönlichen Austausch braucht, versuchen, ihre Mitarbeiter ins Büro zu locken, ist an sich nichts Neues. Paradebeispiel dafür ist Google, dessen „Campus“ einem Spielplatz für Erwachsene gleicht. Der grosse Unterschied zu Mayers Herangehensweise: Anreiz statt Zwang.

The best engineers aren’t looking for jobs. (Joe Stump, 2013)

Mayer riskiert den Verlust wertvoller Mitarbeiter: „Our engineers would not put up with that“, meint ein Technologie Executive. Schenkt man Friebe und Lobo, welche 2006 die digitale Bohème ausriefen, Glauben, so kann man froh sein, wenn sich erstklassige Programmierer und kreative Digitale überhaupt noch anstellen lassen. Ein geregeltes Einkommen und ein sicherer Arbeitsplatz stehen für sie nämlich nicht mehr zuoberst auf der Prioritätenliste. Sie wollen Autonomie, Abwechslung und Herausforderung. Lieber als „Marionetten im Firmen-Kasperletheater“ zu sein, machen sich in einer individualisierten Gesellschaft immer mehr Menschen selbständig. Bis 2020, so schätzt eine Studie der Deutschen Bank, wird ein Siebtel der Wertschöpfung aus temporärer Zusammenarbeit stammen. Von selbständigen Kreativen, unabhängigen Freelancern und wissensintensiven Ich-AGs, die sich in offenen, gemeinschaftlichen Arbeitsorten, wie den Coworking Spaces, vernetzen und gegenseitig Arbeit zuschanzen.

Im Grunde treffen hier zwei für die Zukunft der Arbeit grundlegende Trends aufeinander: Zum einen die durch die digitale Revolution ermöglichte Auflösung fester Arbeitsplätze und starrer Zeitgrenzen bzw. die zunehmend mögliche und geforderte Flexibilität und Mobilität, zum anderen die Notwendigkeit der Zusammenarbeit in einer Wissensgesellschaft in der Kreativität und Innovation immer öfter über Erfolg und Misserfolg eines Unternehmens entscheiden. Wer die besten Arbeitskräfte will, muss individuelle Freiheiten bieten. Wer innovativ und erfolgreich sein will, muss dafür sorgen, dass die klugen Köpfe auch zusammenarbeiten, dass Teamwork und Kooperation gewährleistet sind. Es liegt die Prämisse zugrunde, dass die besten und innovativsten Ideen aus einer Kombination verschiedenster Ideen in Teams entstehen.

Es gilt also eine Balance zu finden. Dazu müssen technische Möglichkeiten optimal genutzt und Anreize geschafft werden — wenn der Mitarbeiter im Office sein soll, dann muss man dafür sorgen, dass er ins Office will. Gefragt ist aber vor allem eines: Vertrauen. Der Arbeitgeber muss darauf vertrauen können, dass seine mobilen Truppen ihre Arbeit so produktiv wie möglich erledigen. Gleichzeitig muss sich der Angestellte darauf verlassen können, dass seine Leistungen trotz physischer Abwesenheit ernst- und wahrgenommen werden.

It comes from fear, fear that if I can’t see you, I don’t know what you’re working on (Jennifer Owens)

Zwischen Selbstbestimmung und Selbstausbeutung — die Entgrenzung von Arbeits- und Freizeit

Noch ein weiterer Balanceakt ist zu meistern: Jener zwischen Arbeitszeit und Freizeit. Denn mehr Gestaltungsfreiheit bedeutet keineswegs mehr Feierabend, das Gegenteil ist der Fall. Beim Fernsehabend mit der Familie in der Werbepause noch rasch ein, zwei Mails beantworten, weil man sich dazu ver-pflichtet fühlt oder weil der Arbeitgeber jede Lücke im Tagesablauf füllt. Das eine Phänomen heisst „Selbstausbeutung“, das andere „Arbeitsverdichtung“ (Fromm, 2012) und beide führen sie potentiell wohl früher oder später zum Burnout. Freizeit, so Borchardt (2012), wird einem nicht mehr vorgeschrieben werden, „man muss sie sich selber nehmen“. Der Arbeitgeber ist gefordert. Er soll den Mitarbeiter so gut wie möglich bei der sinnvollen Grenzziehung unterstützen und seine Position nicht auszunutzen.

Zwischen Flexibilität und Isolation — wenn das Home-Office der Einzelhaft gleicht

Der letzte zentrale Balanceakt, der hier zur Sprache kommen soll, ist jener zwischen effizientem Arbeiten in Eigenregie und sozialer Isolation. Ein Pilotversuch bei Microsoft in Zürich brachte, neben zahlreichen Vorzügen der Heimarbeit, zum Vorschein, dass die berufliche und soziale Isolation, welche mit dem mobilen Arbeiten einhergehen kann, von den Teilnehmern als Belastung empfunden wurde. „Das Büro hat einen sozialen Sinn; der Sinn des Büros ist das Soziale“ meint Bartmann. Wer nicht mehr ins Büro geht, dem fehlt die Anbindung ans System, dem fehlt der soziale Kontakt zu den Kollegen.

Eine wachsende Zahl von Freelancern, Selbständigen und Home-Office Arbeitern schafft diesem Mangel an persönlichem Austausch und dem Bedürfnis nach Seilschaften und Gerüchten durch die Mitgliedschaft in einem Coworking Space Abhilfe. Aber auch für den internen Zusammenhalt und eine starke Firmenkultur sind solche sozialen Elemente unerlässlich. Ob hier virtuelle Treffpunkte reichen oder “real life” Events eine immer wichtigere Rolle spielen werden wird sich zeigen.

Wie sieht die reale oder virtuelle Zukunft des Büros aus, welchen Stellenwert wird es in der Arbeits- und Freizeitwelt haben? Wie viel Flexibilität verträgt der Mensch? Es geht hier häufig um Glaubensfragen. Welche sozialen Folgen die mobile Arbeitsgesellschaft haben wird, ist in hohem Mass davon abhängig wie wir als Gesellschaft ihre Entwicklung gestalten. Chancen können nur genutzt und Gefahren nur abgewendet werden, wenn Veränderungen in der Arbeitswelt, die immer ein gewisses Unbehagen auslösen, weder einseitig gefeiert noch unreflektiert verteufelt, sondern kritisch hinterfragt und konstruktiv mitgestaltet werden.

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Samantha Wolf

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