Der Story-Circle für Journalisten

Anhand von meiner Geschichte über Bergmönche in Japan stelle ich ein Modell für Storytelling vor, das für Journalisten nützlich sein kann.

Fritz Schumann
9 min readJan 16, 2019

Die Grundlagen

Als Visual Journalist arbeite ich mit Foto, Text und Video. Zwar hat jedes Medium seine Stärken und Schwächen, doch gutes Storytelling ermöglichen alle. Mich interessiert, wie wir im Journalismus etablierte Prinzipien nutzen können, um mit unseren Geschichten im Überangebot des Internets nicht unterzugehen.

Ob es nun Hollywood ist oder eine Legende aus dem alten Japan —sämtliche Geschichten haben etwas gemeinsam. Das erklärte Joseph Campbell 1949 in seinem Werk “Der Heros in tausend Gestalten”. Indem er Geschichten aus verschiedenen Epochen und Kulturen analysierte und verglich, entdeckte er Gemeinsamkeiten. So gab es zwar Kulturen, die ohne die Zahl Null auskamen oder Zivilisationen, die kein Rad kannten — aber keine menschliche Kultur kam ohne Geschichten aus.

Die Heldenreise

Das Modell von Campbell beschreibt 17 Schritte, welche in seinen Augen viele Geschichten gemein haben, egal aus welcher Zeit oder Kultur sie stammen. In abgewandelter Form ist diese sogenannte Heldenreise heute die Blaupause für Geschichten in Hollywood. “Star Wars” ist dabei das bekannteste Beispiel. Der Film war die erste große adaptierte Heldenreise nach Campbell und folgte sehr treu einigen Schritten.

Quelle: https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/thumb/1/1b/Heroesjourney.svg/700px-Heroesjourney.svg.png

So erzählen wir uns Geschichten seit tausenden von Jahren, so merken wir sie uns. Mir begegnet diese Erzählweise manchmal in Interviews, die ich führe. Menschen bauen sich die eine Narrative des eigenes Lebens, auch nach dem Muster, das sie in Filmen und anderen Medien sehen. “Ich wollte etwas machen, dann ist mir etwas Schlimmes passieren, aber nun bin ich ein besserer Mensch geworden.” Eine kleine, persönliche Heldenreise.

Das Problem mit Campbell ist jedoch: Er war Anthropologe und kein Storyteller. Sein Modell war nie als Blaupause zur Umsetzung gedacht, nur als Beobachtung und Beschreibung.

Der Story-Circle

Mir persönlich ist die Heldenreise zu komplex, zu abstrakt. Mit allen 17 Schritten trifft sie auf Sagen und Legenden zu, aber nicht auf Frisöre, die für den Mindestlohn kämpfen oder auf Korruption in der Landespolitik. Sie erhalten keine göttliche Hilfe, sie werden nicht wiedergeboren. Der Einsatz der Heldenreise im Journalismus ist daher limitiert.

Dan Harmon, Drehbuchautor aus den USA und Erfinder von Rick & Morty, hat auf Basis von Campbell und anderen Autoren ein eigenes Modell entwickelt: Der Story-Circle ist eine adaptierte Heldenreise, gedacht für Filme von kurzer & langer Dauer und Episoden im Fernsehen.

Story-Circle von Dan Harmon

Das komplette Tutorial vom Story-Circle, geschrieben von Dan Harmon selbst, ist kostenlos online. In der Kurzfassung geht das Modell so:

Eine Person ist in ihrer Komfortzone, aber sie möchte etwas. Daher begibt sie sich in eine unbekannte Welt. Dort sucht sie, findet es auch, bezahlt aber einen Preis dafür. Anschließend begibt sie sich wieder in die bekannte Welt, verändert und als Meister beider Welten.

Das Modell sieht acht Schritte vor in zwei Abschnitten. “Life” und “Death” wie hier angegeben sollen nur die zwei gegensätzlichen Welten zeigen. Es kann genau so “Drinnen” und “Draußen” sein, “Tag” und “Nacht”. Die Phase (5) ist die Antithese zu Phase (1), der Komfortzone. Beginnt die Geschichte auf der Couch im Warmen, so ist der Protagonist bei (5) nun draußen im Regen. Es ist der größtmögliche Kontrast, der tiefste Punkt. Externe Faktoren drücken hier auf den Protagonisten und in seinen Zweifeln liegt die Krise seiner inneren Welt. Ein Erdbeben bedeutet nicht automatisch den tiefsten Punkt für einen Protagonisten, sondern das, was die Katastrophe in ihm auslöst.

Der Story-Circle für Journalismus

In dem Modell sah ich großes Potential für den Journalismus, daher habe ich es übersetzt, adaptiert und ergänzt. Meine Version sieht so aus:

Story-Circle von Fritz Schumann

Der Unterschied zu Dan Harmons Modell sind die Blasen mit I, II, III. An diesen Stellen, vor Beginn der nächsten Phase, muss der Protagonist eine Entscheidung treffen. Er muss sich entscheiden, die unbekannte Welt zu betreten. Er muss sich entscheiden, am tiefsten Punkt und nach der schwierigsten Prüfung weiter zu gehen. Und er muss sich entscheiden, wieder in die bekannte Welt zurückzukehren — er könnte ja schließlich auch einfach in der unbekannten Welt bleiben.

Diese Ergänzung erschien mir wichtig in der Adaption für journalistische Geschichten, da sich in der Frage nach der Entscheidung die Motivation des Protagonisten verdeutlicht. Warum begibt er sich in diese Welt? Was treibt ihn an? Warum macht er weiter? Die Identifikation mit dem Protagonist funktioniert in meinen Augen am Besten über seine Motivation, seine Leidenschaft, sein Antrieb. Man muss seine Motivation verstehen um ihn zu verstehen. Wenn diese Motivation geprüft wird, er durch eine Entscheidung aber beweist, dass er weiter daran festhält, kommuniziert es seinen Charakter, seine Persönlichkeit. Das schafft Empathie.

Emma Coats von Pixar beschreibt es so:

You admire a character for trying more than for their successes.

Die sieben großen Fragen des narrativen Drama können dabei helfen, die Motivation und den Konflikt in der Geschichte zu definieren:

1. Was möchte die Person?

2. Was braucht diese Person wirklich?

3. Zu welchem Konflikt führt das innerhalb der Person?

4. Zu welchem Konflikt führt das für die Person mit der Welt?

5. Zu welchem Konflikt führt das mit anderen Personen?

6. Zu welchen Änderungen führen die Konflikte und wie wirken sie sich auf die Person aus?

7. Welche Auswirkungen hat die Veränderung auf andere Personen?

An einem konkreten Beispiel könnte das so aussehen: Ein junger Mann möchte Popstar werden, weil er reich und berühmt sein will. Das führt zu Konflikten mit seinen Eltern und seinem Job. Er spürt den unbändigen Drang ein Star zu sein und ignoriert alle Warnungen. Nach einem Casting landet er in einer Fernsehshow. Der Ehrgeiz, der ihn hierher brachte, sorgt für viele negative Mails und Nachrichten in den sozialen Netzwerken. Er scheitert an dem Druck, gibt auf und kehrt wieder nachhause, ein Stückchen weiser. Berühmtheit ist nicht das, was ihn unbedingt glücklich macht, sondern seine Familie, die nun froh ist, ihn wieder daheim zu haben.

Motivation, Konflikt und Veränderung. Das sind die Grundpfeiler einer jeden Story. Die narrativen Fragen können helfen, sie zu finden.

Eine echte Geschichte nach dem Story-Circle

Ich habe längere Zeit in Japan gelebt und reise heute noch regelmäßig für Filme und Aufträge dorthin. Um die Tauglichkeit des Story-Circle für den Journalismus zu testen, wollte ich dort eine Geschichte umsetzen. Die Bergmönche von Yamagata erschienen mir passend, ich wusste jedoch nicht, ob es auch funktionieren kann.

Hier ist das Ergebnis:

In Nordjapan praktizieren die Yamabushi eine einst verbotene uralte Religion. Obwohl ihre Traditionen heute bedroht sind, ermöglichen sie ein alternatives Leben in der Gesellschaft.

Nachdem ich meinen Ansatz getestet hatte, kam ich zu der Erkenntnis: Der Story-Circle kann Journalisten auf drei Arten helfen.

1. Vorbereitung

Bevor ich nach Japan geflogen bin, habe ich mit den Mönchen geskypt. Ich wollte sehen, wo die Geschichte liegt. Sind die Mönche vielleicht erst am Beginn ihrer Reise? Oder sind sie am tiefsten Punkt und stecken noch in einer Krise? Oder ist ihre Reise schon abgeschlossen und die Geschichte bereit erzählt zu werden? Das Gespräch war für uns beide ein Test: Sie wollten rauskriegen, ob sie mir vertrauen können und ich wollte sehen, ob sich die Reise nach Japan und die Anwendung vom Modell überhaupt lohnt.

2. Interview

Zu jeder der acht Phasen des Story-Circle habe ich anschließend Fragen für meine zwei Protagonisten entwickelt. Dieses Modell half mir dabei die Fragen besser zu sortieren.

Welcher Konflikt resultiert direkt aus dem eigenen Wunsch? Wie geht man damit um? Was lernt man daraus? Hier ein Auszug aus meinem Interview mit Kato Takeharu, einer der Mönche aus dem Film, und seinen Antworten:

Das Feedback von beiden Gesprächspartnern war überraschend gut, beide bedankten sich für das Interview und lobten die Art der Fragen. Mir erschien das Gespräch auch recht natürlich, als ob das Interview ihre Art der Erzählung aufgreift und verstärkt.

3. Umsetzung

Es gibt zwei Protagonisten, zwei Abenteuer, zwei Heldenreisen. Beide gehen durch einen kompletten Story-Circle, durch alle Phasen. Da Meister Hoshino für Kato Takeharu die klassische Funktion des Mentors erfüllt, taucht dieser auch so ungefähr dann im Film auf, wenn in Campbells Modell der Mentor den Helden berät.

Phase (5), der tiefste Punkt in Kato Takeharus Reise auf dem Weg zum Yamabushi, wenn er im Wald steht und zweifelt, ob das nicht zu militärisch ist, passt von der Stimmung her zu Phase (5) des Meisters, wenn er bei seinem ersten Training eine göttliche Stimme hört. Beide erzählen inhaltlich etwas Unterschiedliches. Die Prüfung ihrer Motivation — “Ist das das richtige für mich?” — ist jedoch identisch. Beide Phasen tauchen im Film an der gleichen Stelle auf.

Nach dem Interview fragte mich einer der Yamabushi, wie ich denn den Film strukturieren werde. Ich zeichnete einen Kreis, erklärte den Story-Circle, sprach von Campbell und der Heldenreise. Der Mönch lächelte und zeigte mir das Modell der Yamabushi:

The Transition Map

Ich konnte kaum glauben, wie ähnlich es dem Story-Circle sah. Sie benutzen ihr Modell, um Außenstehenden ihre Traditionen und ihre Prinzipien zu erklären. Ich habe sie gefragt, wie sie darauf gekommen sind. Ihre Basis waren alten Legenden der Yamabushi “und so ein bisschen Star Wars”, sagten sie. Ein Film aus dem 20. Jahrhundert, der auf der Essenz von alten Sagen basiert, mischt sich mit alten Traditionen. Zwar ging der Kreis in die andere Richtung, aber ich wusste, dass der Story-Circle für diese Geschichte nicht verkehrt war.

Beim Dreh auf dem Berg während der Feuerzeremonie.

Nachdem ich den Film fertig gestellt habe, bot ich ihn einigen Medien an. Die Bergmönche wurden im Spiegel veröffentlicht, ich habe das Video einer Redaktion in China gegeben und der Film lief auf einem kleinen Filmfestival in Indien. Die Geschichte erhielt auch Bronze beim internationalen Wettbewerb CPOY.

Erst jetzt veröffentliche ich die Geschichte online. Ob das Video bisher Erfolg hatte aufgrund des Story-Circles, oder ob der Film in Zukunft Zuschauer finden kann wegen des Modells — das kann ich nicht sagen.

Allerdings benutze ich seit der Erfahrung mit den Bergmönchen den Story-Circle für jede Geschichte, Reportage, für einen Pitch und auch für Workshops. Das Modell hilft mir sehr. Zu Beginn definiere ich den Protagonisten und schau mir an, was er möchte. Dann stelle ich mir vor, was das Negativste sein kann, das aus seinem Wunsch resultiert und das Gegenteil seiner bekannten Welt darstellt. Anschließend frage ich mich, wie er wohl zu diesem Punkt gelangen ist und was er aus der negativen Erfahrung lernt.

Mir begegnet der Story-Circle nun auch im Alltag, wenn mir Freunde etwas von Weihnachten erzählen oder Kollegen von ihrer letzten Recherche. Es ist eine natürliche Art des Storytelling. Ich denke, mit dem Modell kann man gezielt beachten und umsetzen, was schon in uns ist, unabhängig von Medium und Kanal.

Auch für diesen Text habe ich den Story-Circle benutzt:

Am Anfang habe ich dargestellt, wer ich bin (1) und was mich antreibt (2). Anschließend habe ich mich in die unbekannte Welt des Story-Circle und der Bergmönche begeben(3). Dort habe ich mich den Herausforderungen der Planung gestellt (4) und mich gefragt, ob es wirklich das richtige ist (5). Anschließend habe ich den Film fertig gestellt (6) und ihn veröffentlicht (7). Heute hilft mir das Modell in meiner Arbeit (8).

Der Story-Circle ist für Journalisten nützlich in der Vorbereitung einer Geschichte, um zu prüfen, wie sie sich eignet erzählt zu werden. Im nächsten Schritt können anhand der Phasen Interview-Fragen erarbeitet werden, deren Antworten die Geschichte fokussiert erzählen können. Anschließend kann sie mit den Antworten und in der Reihenfolge der Phasen umgesetzt werden. Es erleichtert — mir zumindest — alle Aspekte einer Geschichte und macht den Prozess effizient.

Muss nun jede Geschichte nach dem Modell ablaufen? Wird es dann nicht langweilig? Nein, natürlich nicht. Und für Langeweile sorgt nicht die Reihenfolge der Phasen, sondern wie man sie füllt. Denn auch wenn ich für jedes Video die gleiche Kamera benutze, so sind die Bilder nicht identisch.

Und nicht vergessen: Storytelling beruht auf Prinzipien und Richtlinien, nicht auf Regeln.

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Fritz Schumann

I do visual journalism based in Berlin — photos, text, documentary films and ideas. www.fotografritz.de @fotografritz