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GeorgDiez
113 min readApr 6, 2020

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Notizen zur Krise / Von Georg Diez und Philip Grözinger

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Dienstag, 9.6.2020

Wie oft bin ich in den vergangenen Wochen an dem Kinoplakat vorbeigefahren, das für die Verfilmung der Känguru-Chroniken wirbt; einmal zu oft, mindestens.

Die Zeit, die hier so deutlich festgehalten wurde, ist eine Zeit, die vergangen ist und in vielem auch verloren; wir drehen uns im Kreis, immer noch, auch wenn es nun wieder losgehen soll, langsam jedenfalls, es scheint einfach zu gefährlich, den Deutschen ihre Ferien nehmen zu wollen.

Und so ist der Schein von Zeit wieder da, die nach vorne drängt; es bleibt ein Schein, glaube ich, es wird noch lange ein Schein bleiben, weil wir in so vielem immer noch mitten in diesem Moment leben, der sich mehr und mehr ausdehnt, ein Ende, eigentlich, nicht absehbar.

Wir, hier, versuchen zu zeigen, dass es wieder anfängt, das Leben, die Wirtschaft, der Alltag; während in anderen Teilen der Welt die Infektionsraten steigen, während sich die Auswirkungen ökonomisch, politisch, sozial, erst in ein paar Jahren wirklich zeigen werden.

All das Geld, das in die Märkte gepumpt wird, was wird es tun? Wird es anders werden als 2010, als die wirtschaftlichen Maßnahmen zu einer massiven Umverteilung von unten nach oben geführt haben? Wohl kaum, fürchte ich.

Es gibt wenig, was über das, was wir gerade wahrnehmen, hinausragt; und auch das müssen wir anerkennen, annehmen, als Zustand, als Wahrheit, auch wenn sie schwankend ist, in Veränderung begriffen, eigentlich jeden Tag.

Philip und ich haben das auch versucht, Tag für Tag, die vergangenen Wochen und Monate; und es waren gute Wochen und Monate zum Schreiben und zum Zeichnen. Aber es hat sich auch etwas für uns verändert, die Wahrnehmung einerseits, die Schwierigkeit also, im Allgemeinen das Besondere zu entdeckten; und gleichzeitig der Anfang wieder dessen, was wir tun, also der Mangel an Zeit, die im Lockdown im Überfluss vorhanden war.

Diese Ruhe also ist fort; erst einmal. Wir werden warten, Philip und ich, wir werden eine Pause machen und sehen, was geschieht. Wir werden dieses Projekt nicht beenden. Aber wir werden uns verabschieden und verabreden, zum Kaffee, auf der Straße, im Schatten, um die Zeiten zu besprechen und die Menschen zu beobachten.

Mehr bleibt uns im Grunde nicht; wir werden versuchen zu spüren und zu verstehen, wenn sich wieder etwas ändert. Vielleicht werden wir dann wiederkommen.

Aus den Schlaufen unserer Gegenwart jedenfalls werden wir nicht entkommen; manche nennen das die Unendlichkeit; es könnte auch einfach Kontingenz sein.

Die Kontingenz der Brezel, würde Philip sagen.

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Montag, 8.6.2020

Wie also könnte das gehen? Das Revolutionäre in der Schönheit erkennen, wachhalten, praktizieren? Der Widerstand gegen die Verhältnisse in einer anderen Poesie, Poetologie, Sprache, Formenwelt, Kunst?

Oder, anders, in der Realität genau das sehen, was ist, jeden Moment als den nehmen, der er ist. Vielleicht reicht das schon, im Nebel der gegenwärtigen Begebenheiten, im Schweigen der Welt, die immer erst zum Klingen gebracht, die immer neu gesehen werden muss?

Dieses Sehen dann, wäre das der Anfang, der neue Anfang? Das sehen, was war, in seiner Beengung, in seiner Möglichkeit? Das sehen, was ist, wie es gekommen ist, wohin es führen kann? Diese Offenheit also, in sich die Weite zu spüren, die dann erst auch die Weite in der Welt ermöglicht?

Meint er das, mein Freund, der von mir die Schönheit einfordert, das Erkennen und auch das Abbilden der Schönheit, und sich damit zu wehren gegen die Maßnahmen oder gegen die Einschränkungen im Denken wie im Bewegen, ohne zu flüchten, ohne sich zu verlieren, denn das ist ja auch immer die Gefahr poetischer Gegenwelten.

Also wach zu bleiben als existentielles Ideal; damit kann ich leben, das kann ich verstehen, das nehme ich an.

Vielleicht jetzt mehr denn je.

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Sonntag, 7.6.2020

Die Schönheit, hatte der Freund gesagt, achte mehr auf die Schönheit; und ich wusste, was er meinte. Das, was verloren gegangen ist, ist nicht die Schönheit, es ist der Blick darauf, das Erkennen, was immer auch Aufmerksamkeit ist und Arbeit, manche würden sagen Achtsamkeit.

In diesen Wochen ist das oft schwierig gewesen, aus verschiedenen Gründen. Die Beobachtung des Neuen wurde ersetzt durch eine Normalität, die so wenig normal war, dass sie manchmal schwer in Worte zu fassen war.

Der Freund lebt nicht in der Stadt, sondern weit weg, am Meer. Es geht ihm manchmal nicht gut, dann sieht er selbst die Schönheit nicht, die er von mir einfordert; vielleicht fordert er sie von mir ein, weil sie ihm oft fehlt und weil er sie gerade gefunden zu haben scheint.

Das Positive also, die kleinen oder großen Momente; ich würde immer noch sagen, dass sie leider verloren gegangen sind in den vergangenen Monaten. Ist das die Antwort auf seine Frage, seinen Hinweis, seine Aufforderung? Bin ich, sind wir in einen Modus gerutscht, der allein aus der Krise bestand?

Aber wie sollte es anders sein? Oder, genauer: Richtig, vielleicht muss es genau in solchen Situationen anders sein. Nicht sich ergeben, nicht einfach mitmachen, nicht sich erdrücken lassen, sondern wach bleiben, autonom bleiben, atmen und auf das achten, was sich ergibt.

Zuhören, beobachten und ein Gefühl für die Veränderungen, in einem selbst und in der Welt um einen herum.

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Samstag, 6.6.2020

Wie bilden sich gesellschaftliche Stimmungen, in dieser Stille, in dieser lauten Stille, in diesem Zustand, der die Konflikte zum Vorschein bringt?

Sie sind schwarz gekleidet, auffällig, in kleinen Gruppen, sie verteilen sich über den Vormittag, über das Viertel, sie sind entspannt, sie sind nicht viele, aber als dann der Polizeihubschrauber über der Stadt kreist, da sind es Tausende, die gekommen sind, in die Mitte, auf den Platz, sie können nicht alle hinein, sie müssen den Corona-Mindestabstand einhalten, und später werden sich manche mehr über diese Demonstration beschweren als über den Anlass, den Rassismus, eben nicht nur in den USA, sondern auch hier, strukturell, systemisch.

In den USA wirkt es so, als könnten die Proteste nach dem Mord an George Floyd wirkliche Veränderungen bewirken, es geht darum, der Polizei etwas von dem Geld wegzunehmen, mit dem sie sich zu halb militärischen Einheiten hochgerüstet haben, und es lieber in soziale Projekte zu stecken, also die Ursache von Gewalt und Verbrechen zu bekämpfen, was ein ziemlich großer Schritt ist, in ein paar Tagen, errungen von Tausenden von Demonstranten auf den Straßen im ganzen Land.

Und nun also in der ganzen Welt. Die Proteste breiten sich global aus, ein weiteres Zeichen dieser vernetzten, viralen Gesellschaft. In den Städten dieser Welt demonstriert eine Generation, die mit den Bildern der Morde an Schwarzen aufgewachsen sind, die Generation iPhone, für eine andere Welt, ohne Rassismen, und es wirkt wie selbstverständlich, dass diese Proteste aus den USA auch in anderen Ländern aufgenommen werden, weil Rassismus eben etwas ist, das im Wesen des Westens angelegt ist, in der Entstehung und Praxis der Aufklärung, die stark geprägt wurde von Männern, die selbst Sklavenhalter waren wie Washington oder Jefferson oder Rassisten wie Kant, der davon sprach, dass die Menschheit „in ihrer größten Vollkommenheit in der Rasse der Weißen“ sei.

Diese Proteste sind ein weiteres Zeichen dafür, dass die wesentlichen Elemente der Ordnung der vergangenen 250 Jahre ins Wanken geraten sind, das menschenzentrierte Weltbild, die Einteilung der Welt in Herren und Diener, die Ausbeutung der Menschen und der Natur, die Rede von Fortschritt und Wachstum, die nicht von Sorge und Achtsamkeit handelte. Rassismus war ein zentraler Bestandteil dieser Ordnung, am Beginn nicht nur des amerikanischen Kapitalismus, weil es vielleicht eine unsichtbare Hand des Marktes gab, aber eine sehr sichtbare Hand, die eine Peitsche schwang.

Die Gewalt ist im System, das ist die Botschaft dieser Proteste.

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Freitag, 5.6.2020

Wie geht es weiter? Das eine Frage für das Schreiben wie für das Denken und Handeln? Die Tatsachen einer Zukunft werden geschaffen, über die heute aufgrund der Prämissen der Vergangenheit entschieden wird. Wie kann man dem Kommenden seinen Raum geben, wie kann man Offenheit bewahren und nicht nur das Alte wiederholen?

Es kommen nun die Konjunkturpakete, es wird wieder angefangen, angeschoben, es werden Dinge getan, die notwendig sind; in der Notwendigkeit liegt eine Chance, in der Notwendigkeit liegt auch die Schwierigkeit: Sie nimmt dem Möglichen den Raum.

Yanis Varoufakis, der griechische Ökonom, den hier so viele nicht mögen, hat einen dunklen Text geschrieben, in dem er müde den Kopf schüttelt über diejenigen seiner linken Freunde, die glaubten oder glauben, dass sich grundsätzliche gesellschaftliche Bedingungen ändern ließen in dieser Krisenzeit.

Schön wäre es, sagt er; tatsächlich sieht er einen technologisch unterfütterten Autoritarismus kommen, in dem Kontrolle, geboren aus dem Denken der Pandemie, gesellschaftliche Norm und Normalität geworden ist — die Fieberkurve des Denkens und Handelns unter Dauerbeobachtung, Quarantäne der Dissidenz; und es womöglich schon ein Zeichen dieser Zeit, dass das Rechtschreibprogramm meines Computers das Wort Dissidenz rot unterringelt, als falsches Wort, unbekannt, nicht gewollt.

Wie also weiter?

Ich weiß es gerade nicht; was schwer ist, das ist das Abwarten, das Zulassen, das Entstehenlassen.

Das, als gesellschaftliche Praxis, als persönliche Maxime, wäre ein Ziel.

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Donnerstag, 4.6.2020

I can’t breathe, der Satz dieser Zeit.

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Mittwoch, 3.6.2020

Wie langsam jetzt das Leben wieder hochfährt, und wie sich die Folgen der Krise, ökonomisch, menschlich, immer tiefer in die Realität schieben, unmerklich fast, einerseits, weil oft verborgen, allgegenwärtig, andererseits, weil fast alle sie spüren.

Der Architekt, der davon spricht, wie es die kommenden Wochen, Monate, Jahre sein wird, wie er sieht, wie sich die Kunden anders orientieren, wie die Menschen eben nicht mehr so viel Vertrauen ins Gefüge der Zeit haben, dass sie sich ein Gefüge aus Stein oder Holz suchen.

Die Restaurants, die immer noch wie im Schock sind, in manchen sind sie so verstört, so scheint es, dass sie die minimale Aufmerksamkeit vergessen haben, Brot hinstellen, Öl, Salz, es ist verständlich und doch auffällig, dieses Nachlassen, was noch nicht Resignation ist, aber eine Vorstufe davon.

Bleibt also dieses Gefühl einer Schalheit, eines Wartens auf den Sommer und dann auf den Herbst, gestundete Zeit, in manchem, weil die Drohung immer noch gilt, dass alles wieder von vorne anfangen könnte, nur dass es dann nicht von vorne wäre, sondern das Level, psychisch, finanziell, überhaupt, so viel niedriger wäre, dass die Folge so viel schneller und härter deutlich würden?

Mir ist klar, hier wie überhaupt: Die Enge dieser Sicht, die Enge meiner Perspektive; vielleicht ist auch das symptomatisch, ein Dokument eher dessen, was real ist, als die Realität selbst.

78

Dienstag, 2.6.2020

Verstörend bleibt, wie ungleich die Maßnahmen umgesetzt werden, und diese Verstörung bildet sich ab in einem Gefüge von Irrationalismus und Angst, was, historisch gesehen, dem Faschismus Vorschub leistet.

Wie kann es sein, dass Züge in den Vororten und am Wochenende vollgepackt sind, Bäckereien und alle anderen Geschäfte aber immer noch schwer kontrolliert wirken?

Wie kann es sein, dass in Flugzeugen einfach wahllos fremde Menschen dicht nebeneinander gepackt sind, während die Fußballstadien leer bleiben, die Kinos geschlossen, die Theater und Konzertsäle auch?

Wie kann es sein, dass in dem einen Restaurant eine Maske getragen werden muss, auf dem Weg von der Tür zum Tisch, und zusätzlich muss noch die Adresse, Telefonnummer, Email angegeben werden, und im anderen Restaurant ist alles entspannt?

Es ist ein magisches Denken und viel Unklarheit, Widersprüchlichkeit, gerade die Sache mit dem Fliegen — es geht mir hier nicht um Sinn oder Unsinn der Maßnahmen, es geht darum, wie unnötig und falsch es ist, solch unterschiedliche Vorgaben zu machen.

Das muss verwirren und Misstrauen herstellen. Und wenn dann ausgerechnet das teure Geschäft mit den Yoga-Sachen verlangt, dass auch Kleinkinder Masken tragen, das sei halt die Vorschrift, dann wird es nicht nur lächerlich, sondern, wieder mal, symptomatisch, auf verschiedenen Ebenen.

Die Sorge um die Gesundheit gerade in einem Geschäft, das sich Körper, Seele, Konsum widmet, zu einem Extrem geführt zu sehen, deutet doch letztlich darauf hin, dass in der Gesundheit selbst ein Extrem liegt.

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Montag, 1.6.2020

Die Corona-Unruhen. Es geht natürlich um jahrhundertelangen Rassismus, die Folgen der Sklaverei, immer noch, ökonomische Not, grundsätzliche Ungerechtigkeit, ein System komplett in Schieflage — aber angefeuert, ermöglicht, verstärkt werden diese Proteste, diese Unruhen nach dem Mord an George Floyd durch die Pandemie, die ein Prisma ist und vieles verstärkt, was in der Gesellschaft angelegt ist.

Die Schwarzen in den USA haben besonders unter dem Virus gelitten, sie sind überproportional oft erkrankt und starben, sie verloren Jobs, die schon vorher prekär waren — diese Krise ist Rassismus in der Quadratur und die Wut entlädt sich jetzt, nachdem sie so lange aufgespart wurde, eingesperrt wurde, sehr konkret, im Lockdown, der diese Wut wachsen ließ, eine Ruhe, die zum Sturm wird.

Das Verständnis dafür ist breit, so scheint es mir, breiter als in früheren Zeiten; sogar die Gewalt wird nicht so sehr zum Thema gemacht, jedenfalls zum Beispiel von David Remnick nicht im New Yorker, der die Aggression auf Seiten der anderen sieht, der Regierung, der Polizei vor allem, und die vereinzelten Plünderungen nicht gelten lassen will, um die Proteste zu delegitimieren.

(Noch ein Wort, das das Rechtschreibprogramm nicht kennt. Und es ist tatsächlich interessant, diese direkten Feedback-Loops, die so eine technologische Funktion hat, weil sie bestimmte Worte, Begriffe, Denkweisen, ob beabsichtigt oder nicht, aus dem Rahmen drängt, entwertet, eben delegitimiert, weil man lieber über Alternativen nachdenkt, als dieses rote Ringeln im Text stehen lässt.)

Oder, wie es James Baldwin sagte, den man jetzt wie überhaupt immer lesen sollte: Wie viel Zeit, bitte, soll das dauern, das, was ihr Fortschritt nennt und für das ich zahle, meine Nichten, Neffen, meine Eltern und Großeltern, wir, nicht ihr?

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Sonntag, 31.5.2020

Was könnte Rainer Werner Fassbinder uns sagen, über Ausgrenzung, Liebe, Schichten- und Klassenidentität, Fremdsein, Wut, Heimat, Heimatlosigkeit, Sehnsucht, Politik, Revolution, das Ende der Revolution, die Unmöglichkeit der Revolution, den Sog der Zeit, die sich vor uns öffnet, Sprache?

Und warum tut er das nicht? Warum haben sie ihn zum Schweigen gebracht, so scheint es, in diesem Jahr der Stumpfheit? Warum schaffen sie es nicht, die wenigen, die Bedeutung haben, die etwas wollten, die größer sind als dieses kleine Land, gelten zu lassen, mit ihnen zu wachsen, zu leben, sich zu ändern und zu fragen, wer sie sind und warum sie so sind?

Er wäre heute 75 Jahre alt geworden, der Münchner, der Verschwender, der so früh starb und deshalb nicht mal mehr fehlt, vergessen nur im Ausland nicht, so scheint es manchmal, aber vielleicht ist das alles auch eine verzerrte Wahrnehmung, weil es nur das Feuilleton ist, das nicht reagiert, aber so ist das eben, viele sind nur noch zum Schein am Leben, und die wahren Toten leben länger.

Und dennoch, dass ausgerechnet Clint Eastwood gefeiert wird, der 90 wird, der Rächer, Revolverheld, Republikaner, in diesen Tagen, in denen Amerika auf der Kippe steht, mal wieder, wegen der Ursünde dieses Landes, des Rassismus, der aus der Sklaverei erwachsen ist — das ist schon mehr ein Symptom von gedanklicher Schmerzlosigkeit, das trifft auf eine Apathie in der Wahrnehmung kultureller Prozesse in ihrer Aktualität, jedenfalls geht es mir so, und der befriedigende Rausch der Tiefe, also die Konstanz und Lebendigkeit dessen, was vergangen ist und immer noch da.

Was also will uns Fassbinder gerade sagen, der aus einer anderen Krise kam, aus dem Krieg geboren, und die Katastrophe immer mit sich trug? Wach sein, vielleicht, und wüst sein? Selektiv sein und blind für das, was kommt? Einsamkeit als Waffe?

Es ist Sonntag, dieser ruhige, heilige, verlorene Tag.

75

Samstag, 30.5.2020

Am Ende der Stadt, hinter Autobahnauffahrten, Schrebergärten, Wegen mit Schlaglöchern, Ruinen der Industriemoderne, zwischen Bäumen und Nichts, da steht ein Haus, aus dem Töne dringen, in die Nacht hinein, Töne, die mich schon den ganzen Tag und auch den Weg hierher begleitet haben, Töne, die die Welt suchen.

Es ist später Abend, und Igor spielt schon seit vielen Stunden, und die Welt hört zu. Der New Yorker, Spiegel, er selbst auf Twitter und auf YouTube tragen die kargen Töne aus dem Studio hinaus, 20 Stunden lang, 840 Wiederholungen der immer gleichen kurzen Abfolge — das Stück „Vexations“ von Eric Satie ist Performance-Kunst und eine Mediation über uns, überhaupt und speziell in dieser Corona-Zeit.

Igor will mit dieser weltweiten Aktion auf die Not vieler Künstler hinweisen, die nicht spielen dürfen, und spielen ist das, was sie brauchen zum Leben, und natürlich das Geld, das damit kommt; was hier gerade stirbt, so Igor, das ist ein Gefüge, das so leicht nicht wiederherzustellen ist. Was stirbt, leise, sind die Menschen, die nicht mehr sein dürfen. Was stirbt, das ist der Sinn und die Schönheit.

Von all dem erzählt dieses Stück. Es wird gelitten, während Igor spielt, es wird gefeiert, Menschen haben Sex und gehen zur Arbeit, Menschen sind allein und verzweifelt oder verlieben sich zum ersten Mal, Menschen werden geboren, Menschen sind wütend, Menschen morden, sie protestieren, sie lesen, sie malen, Kinder schlagen sich das Knie auf und stehen wieder auf und gehen weiter.

Es ist Abwesenheit, dieses Stück, weil Igor abwesend ist und spielt, das ist der Zwang dieser Zeit und auch die Chance, weil die Abwesenheit eben verbindend wird, wenn sie spürbar wird, sichtbar, wenn sie technologisch ermöglicht, sich einzuklinken in die Gemeinsamkeit des Augenblicks und die Sicht öffnet auf alles andere, so grenzenlos, so wuchernd und wild und verzweifelt und schön, was sich außerhalb von uns ereignet, und diese Einsicht in die Kontingenz ist vielleicht der Beginn von Ethik und Politik.

Und es ist Anwesenheit, dieses Stück, weil Igor anwesend ist und spielt, als Beweis fast, er setzt sich aus, dieser flächigen Zeit, die greifbar wird durch die Wiederholung, weil sich aus der scheinbaren Gleichheit Muster ergeben, die einen sich selbst, die Welt, die anderen auf eine Art und Weise sehen lassen, die neu ist, wenn man es zulässt; und je öfter er die kleinen Klänge wiederholt, desto größer werden sie, freier, anders.

Die Variationen im Gleichen sind unendlich, die Vorgaben schaffen Möglichkeiten, die Einschränken sind Freiheit, und aus dem Mangel entsteht Reichtum. Es ist dabei auch wichtig, Igor zuzusehen, wie er spielt, wie er es genießt, diesen Raum, diese Zeit, wie es ihm schwerfällt, wie er sich streckt, weil sein Körper im Weg ist, wie er mit dem Kopf fast auf die Tasten fällt, wie er aufsteht und spielt, wie er spielt und spielt und spielt, denn Spielen ist wie Atmen.

All das also ist der Lockdown, die existentielle Repetition von Beckett, die ambivalente Leere von Agnes Martin, die ausgestellte Leere von John Cage, die serielle Schönheit und der serielle Schrecken von Andy Warhol, Cy Twomblys Meditationen im kindlichen Chaos, der Fluss, der uns stoppt und trägt und fortträgt; und jenseits von allem ist es die Kunst, und die Kunst allein, die davon erzählt.

Der Trost also, der in der Einsamkeit steckt; und die Trostlosigkeit, die aus der Leere erwächst, am Ende der Stadt, tief in der Nacht, wo die Dinge ihren Lauf nehmen, und wir können sie doch steuern, wir können doch etwas tun, denn es gibt kaum etwas, das unmenschlicher ist, als die Passivität, das Hinnehmen und Erleiden.

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Freitag, 29.5.2020

Sie sind nackt, gerade weil sie angezogen sind; so fühlt es sich an, in den Restaurants, wo die Kellner mit Mundschutz bedienen und die Gäste ohne Mundschutz bestellen. Es mag sinnvoll sein oder jedenfalls für psychologische Sicherheit sorgen, aber es schafft doch, auf der Ebene der Phänomene und des Sozialen, eine ungute Herr-Diener-Dynamik.

Machtbeziehungen zeigen sich in Krisenzeiten besonders deutlich, das beweist auch Corona. Die Wohlhaben und Reichen kommen leichter durch die Krise, ökonomisch, gesundheitlich, psychisch, das von Indien bis Brasilien, von New York bis Berlin so; und so ist das, was auffällig und fremd wirkt, doch vor allem ein Sichtbarwerden von sozialen Realitäten.

Dabei ist im Fall der Restaurants die Verabredung eigentlich eine andere, und sie ist nicht so trügerisch, wie es scheint, glaube ich. Die Großzügigkeit, die Gabe, das Teilen, wenn auch gegen Geld, die Genauigkeit, in manchen Fällen auch die Hingabe an das, was serviert wird, was auf den Tisch kommt, zivilisatorisches Ur-Möbel, das ist schon echt und gemeint und möglich.

Die Verabredung also zur Gastfreundschaft und Gemeinsamkeit wird symbolisch aufgekündigt. Die Nähe fehlt, die Intimität auch, die Beiläufigkeit, die in besonderen Lokalen die Beziehung zwischen Gast und Gastgeber ausmacht; man kennt sich gut und kennt sich doch nicht, man weiß manches und ahnt vieles und lässt alles oder alles weitere im Ungefähren.

Dieses Ungefähre, diese soziale Zwischenwelt wird durch die Maskenpflicht zerstört. Auch das trägt dazu bei, dass der Wiederbeginn so schleppend bleibt, vielleicht, wieder, notwendigerweise; aber das Notwendige bleibt eben in seiner Fremdheit präsent.

Was sich hinter den Masken nicht verbergen lässt, so glaube ich, das ist die Angst in den Augen derjenigen, die um ihre Existenz fürchten, aber so höflich und souverän bleiben müssen, wie sie es schon vor Corona waren.

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Donnerstag, 28.5.2020

Die Angst der anderen, sie schleicht sich in das Leben; und vielleicht bedeutet das erst einmal, diese Angst zu versuchen zu verstehen, gerade wenn sie von Freunden kommt und irrational und überzogen wirkt.

Verstehen ist ja eines der ambivalenten Worte unserer Zeit, unserer ambivalenten Zeit. Mir wäre Ärger oder Wut oder sogar Verdammnis oft lieber. Aber auch ich habe gelernt, glaube ich; was nicht heißt, dass jede Angst gleich gültig oder gleich berechtigt ist.

Es heißt nur, dass es andere Arten geben kann, mit der Angst der anderen umzugehen, als die Konfrontation oder der Konflikt; obwohl, kleiner Seitengedanke nach zwei Gesprächen mit Freunden: die Konfliktunfähigkeit dieser Gesellschaft und dieser Zeit nur durch die Konfliktintensität übertroffen wird.

Aber zurück zur Angst und dem Gegenmittel: den Regeln. Denn so erlebe ich es: Je mehr sich die Menschen bedroht fühlen, desto mehr versuchen sie, eine Art von hergestellter oder imaginierter Sicherheit zu bekommen.

Das merke ich im Miteinander, im Alltag oder im Verkehr, wo die Übergriffigkeit im Verlangen danach, die Regeln zu befolgen, seien es Abstandsregeln oder rote Ampeln, deutlich zugenommen hat; manchmal scheint es mir, dass die Menschen fast froh sind, in ihren regeltreuen Grundmodus zu wechseln, sie selbst sein zu können.

Oder es sind doch nur die aktuellen Umstände, es ist die Angespanntheit, in der sich viele wiederfinden, es ist die schon fast metaphysische Unsicherheit, die im Inneren der Existenz wartet, aber eben vom Alltag fast immer überdeckt wird.

Wenn der Alltag schwindet, sich abreibt, wie ein alter Stoff, der immer dünner wird, dann dringt diese Unsicherheit hindurch und ins Leben.

Leben und Alltag stehen in einer ambivalenten Gegnerschaft zueinander.

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Mittwoch, 27.5.2020

Dazu ein paar Gedanken, die ich für die taz aufgeschrieben habe:

Die Notwendigkeit des Neuen ist eigentlich evident. Corona hat es einmal mehr gezeigt. Es gibt Alternativen zur bestehenden Wirklichkeit. Möglichkeitsräume. Aber ganz so einfach ist das nicht. Das Alte, in den Worten von Antonio Gramsci, stirbt nicht so leicht.

Es hängt dabei immer auch davon ab, was für eine Geschichte man erzählt und wie: Ist der Anfang und Ursprung der Pandemie also ein Markt in Wuhan — oder doch eher die Zerstörung der Natur durch den Menschen, die Verbindung von Klimakatastrophe und Killervirus also, unsere Lebensweise, die das virale „spill-over“ erleichterte und unsere Abwehrschwäche beschleunigte?

Gerade in Krisenzeiten zeigt sich die Schwäche der Mischung aus Makro- und Mikrobetrachtung, wie sie viele Medien vorführen, die sich eher auf Personen konzentrieren als auf Prozesse, eher auf den Schaden des Gestern als die Chancen von morgen. Damit engen sich natürlich die Gedankenräume ein, es wird schwierig für Veränderungen.

Dabei zeigt sich in der Corona-Krise eine grundsätzliche Abwehrschwäche längst nicht nur individuell, sondern auch gesellschaftlich. Die Privatisierungswellen der vergangenen Jahrzehnte haben aus der Gesundheit eine Ware gemacht und die Fürsorge für Kranke und Schwache zu einem lukrativen Geschäftsmodell. Diese Schieflage kostet nun Tausende und Abertausende Menschen ihr Leben.

Die Antwort könnte nun sein, die Grenzen des Wachstums auch in diesem Bereich zu sehen; oder, anders, ausgehend von Corona eine andere Geschichte des Wachstums oder des Verzichts zu erzählen, das Verhältnis von Mensch und Natur neu zu denken, beschreiben, justieren — weil eben diese beiden Großkrisen, die fossil beschleunigte Erderwärmung und die globalisierte Seuche, so direkt zusammenhängen.

Es wäre die Chance, ausgehend von Corona grundsätzliche Gegebenheiten unseres Lebens, unseres Wirtschaftens, unserer Politik neu zu bedenken: weniger Egoismus, mehr für andere da sein, weniger kaufen, mehr teilen, weniger Gewinn, mehr Sinn, weniger Regieren als Reagieren und mehr Ambition und Aktion im Gestalten der Zukunft, eine andere Funktion des Staates.

Die Ökonomin Mariana Mazzucato, eine wichtige Stimme der Veränderung in unserer Zeit, hat das gerade mal wieder zusammen mit Guilio Quaggiotto, dem Innovations-Koordinator der Vereinten Nationen für asiatischen Raum beschrieben — wie das Scheitern des „schlanken Staates“ deutlich wurde in dieser Krise und wie ein Staat wie Vietnam durch eine Kombination aus privatwirtschaftlicher, zivilgesellschaftlicher und akademischer Initiative eine wirkungsvollere Antwort auf Corona gefunden hat.

Der Staat also, diskreditiert und auch dezimiert durch Sparmaßnahmen und Kürzungen am falschen Platz, Bildung etwa, Technologie oder Pflege, zeigt sich in seiner Handlungsfähigkeit und vor allem in seiner Bedeutung — nicht als Nationalstaat im alten Gewand, sondern in der Vision von Mazzucato als schnell und flexibel agierend, verantwortungsvoll, bürgernah, das Gegenteil des bürokratischen Molochs, als der er oft beschrieben wird.

Eine weitere Geschichte also, die unsere Wirklichkeit prägt und das Neue verhindert — das reduktionistische Weltbild eines Winner-takes-all-Kapitalismus hat viel zu lange das Denken und Handeln geprägt. Der Preis dafür war auch ein Blick auf den Einzelnen, der die Notwendigkeit von Nähe, Solidarität, Fürsorge schlicht negierte. Es waren oft

ideologische Nebeldiskussionen in einem postideologischen Zeitalter, in dem Pragmatismus mit Purpose wichtiger ist als das Rechthaben in alten Auseinandersetzungen.

Diese Krise sollte dazu führen, dass wir den weiteren Horizont unserer Handlungen erkennen und begreifen. Die Zusammenhänge sind klar, sie sollten auch medial konstant und vor allem konstruktiv benannt und diskutiert werden. Tatsache ist jedoch: Diese Krise ist auch eine Medien-Krise.

Das zeigt sich auch in den aktuellen Diskussionen. Es geht eigentlich nicht so sehr darum, ob ein Ministerpräsident nun dies tut oder das oder ein Virologe recht hat oder nicht. Das ist eben genau die Reduktion auf ein gedankliches Minimum, die die Diskussion über die notwendigen Veränderungen verhindert.

In vielem scheinen diese Art von medial aufgebauschten Geschichten vor allem genau dieses Ziel zu verfolgen — zu verhindern, dass die Menschen nachdenken und Dinge anders machen könnten. Dabei ist längst deutlich: Diese Krise bedeutet ein Ende; es ist nur noch nicht klar, was danach kommt.

Was sich abzeichnet, was geschehen könnte: Große Unternehmen werden noch größer, Monopolisten wie Amazon oder Google nehmen noch mehr Platz ein, die Verdrängung nimmt zu, und das Versprechen des Home Office für alle ist doch nur eine weitere Möglichkeit für Unternehmen, ihre Strukturen zu verschlanken und die Kosten zu minimieren und auf den Einzelnen zu übertragen.

Was auch geschehen könnte: Wir überdenken als Gesellschaft den Wert von Arbeit, von Fürsorge, von Wohlbefinden, das wichtiger ist als Wohlstand, wie leben anders, lernen anders, setzen andere Werte von Würde, von Wertschätzung, von Respekt und Teilhabe und verändern vor allem die Prioritäten der Wirtschaft und die Ausbeutung der Natur, die das Wesen des Menschen in vielem pervertiert.

Es ist nicht gut, gegen die Welt zu leben, sich gegen die Kraft zu stemmen, die einen tragen könnte. Das Netz der Natur ist weit gefasst, Anna Lowenhaupt Tsing, die wunderbare Anthropologin, hat das in ihrem Buch „Der Pilz am Ende der Welt“ sehr schön beschrieben. Sie spricht darin von „kontaminierte Diversität“, Ökologie in den Ruinen des Kapitalismus.

Kontamination ist in diesem Kontext nicht das Problem; Komplexität ist die Antwort auf die Fragen dieser Welt.

71

Dienstag, 26.5.2020

Es gibt Gewinner und Verlierer, und sie existieren im Stillen, und sie zeigen sich erst nach und nach.

Ich habe einen Text von Adam Tooze gelesen, der noch einmal sehr eindrucksvoll das eigentlich Offensichtliche beschreibt: Wie der Bailout der Banken nach 2008 und die folgende Niedrigzinspolitik die Reichen reicher gemacht haben, eine Umverteilung von unten nach oben, ein massiver „land grab“, wie die Amerikaner sagen.

Auch dieses Mal wird es wohl so kommen. Die Maßnahmen zur Rettung von Unternehmen führen fast unweigerlich dazu, dass die großen sich konsolidieren und die kleinen einen Wettbewerbsnachteil haben. Das wird so sein in der Wirtschaft, in den Medien auch, in der Kunst, in fast allen Bereichen der Gesellschaft und der Kultur.

Auch im Konkreten wird das so sein, in der Stadt, im Viertel, wo sich die Restaurants, die Geschäfte behaupten werden, denen es vorher gut ging; die Neuen, die Schwächeren werden verschwinden.

Das ist jedenfalls eine Möglichkeit; es gibt genug Stimmen, die fordern und auch konkret beschreiben, wie es anders sein könnte, die das Veränderungspotential dieser Situation nutzen wollen. Ich habe ein wenig den Überblick verloren, wo die Dynamik gerade ist, in diesem Bereich.

Das hat sicher mit mir zu tun; und auch mit der Dynamik, die sich behaupten muss, je länger die Krise dauert, und vor allem jetzt, wo die Krise ein wenig ihren Griff lockert.

Es ist unklar, wie lange diese Lockerung dauern wird, wohl auch deshalb sind viele immer noch so verhalten.

Es wird dauern, und erst später werden wir wissen, was war.

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Montag, 25.5.2020

Und natürlich wittern die, deren Geschäft die Angst ist, genau das. Die Bild-Zeitung hat eine Kampagne gegen den Virologen Christian Drosten gestartet, das Ziel ist Aufmerksamkeit und die Verwandlung von Angst und Unsicherheit in ein Gefühl von Verraten-Werden.

So funktioniert die Bild-Zeitung schon immer, das macht es in diesem Fall nicht besser; die Reaktionen sind dabei wohl auch so harsch und empfindlich, weil sich die Attacken gegen Drosten für viele einfügen in Attacken gegen die Wissenschaft als solche, wie sie in diesem wissenschaftsfeindlichen Zeitalter von Trump bis Boris Johnson und Bolsonaro zu sehen sind.

Man kann auch die Impfgegner dazurechnen; und auch der heftige Streit um Heilpraktiker ist ein Teil dieser oft entgleisenden Debatte, die mit einer medial formulierten Ausschließlichkeit geführt wird, als gebe es festgezurrte Wahrheiten und formidable Lügen.

Tatsächlich gibt es vor allem viel dazwischen; aber die Härte, mit der diese Debatten geführt werden, zeigt vor allem eine verbreitete Unsicherheit — wie groß die wirklich ist, das weiß ich nicht zu sagen. Denn die Lautstärke übertönt womöglich diese Wirklichkeit, die mediale Tonspur ist auch eine der Verzweiflung über die eigene Lage.

Wenn das Sein das Bewusstsein bestimmt, dann bedeutet das auch, dass die ökonomische Lage, in der Nachrichten erzeugt werden, die Art dieser Nachrichten mitbestimmen. Und weil diese ökonomische Lage zunehmend verheerend ist, treibt das auch den Ton der Nachrichten und macht ihn aggressiver.

Die Erschöpfung, die Unsicherheit, die Angst, die viele ergriffen hat und die sich nun, nach all den Wochen äußert, äußert sich auch medial.

69

Sonntag, 24.5.2020

Das Wesen der Zeit, die einstweilen keinen Horizont mehr bildet, sondern sich wie eine Steigung zeigt, wie ein Hügel, hinter dem noch ein Hügel sein kann und noch einer, und es ist unklar, wann der Aufstieg vorbei ist und ein Plateau erreicht ist, von dem aus man weitersehen kann.

Das Stehenbleiben hält an, mit anderen Worten, die Langsamkeit löst sich noch nicht, das Atemanhalten, das Zögern und Zaudern, die Angst, die sich eingestellt hat, durch das Virus, aber auch durch die Reaktionen darauf.

Vorsicht ist das eine, Rücksicht, Verantwortung; Angst ist das andere. Auch wenn die Maßnahmen nicht die Angst zum Ziel hatten, sie haben sie erzeugt, durch die Art der Kommunikation und auch die Art der Anordnungen.

Nun merkt man, wie tief sich das in das Denken und Handeln der Menschen gefressen hat, wie sie immer noch Schatten sind, die sich durch die Straßen schieben, sorgfältig und verloren, ihre Masken um den Hals tragend oder griffbereit in der Tasche, mit der müden Selbstverständlichkeit von Patienten, Insassen eines Sanatoriums ohne Namen.

Natürlich kommen sie so nicht leicht wieder in die Restaurants zurück, natürlich werden sie sich fragen, ob sie in Konzerte oder ins Kino gehen sollten, natürlich werden die Theater Schwierigkeiten haben, ihren Rhythmus wiederzufinden.

Universitäten bleiben im Herbst geschlossen, jedenfalls manche, in den USA, mal sehen, was das für die Schulen hier bedeutet. Auch die Kinder wachsen mit dieser Angst auf, sie bleibt in ihnen, erstmal unangefasst, unangetastet, unbeschaut.

Sie gärt, diese Angst; das ist nicht gut.

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Samstag, 23.5.2020

Ein Moment, der kommen musste; die Frage, wie das zu beschreiben ist, was sich nicht mehr in der Veränderung offenbart und auch nicht in der Beobachtung. Es ist der Moment entweder der Stumpfheit, der Müdigkeit, der Ruhe oder der Rückkehr von etwas, das wir nicht kennen.

Müde sind alle, elementar, tief gefühlt, durch die Angst und die Abwesenheit erzeugt. Die sozialen Kontakte waren Energie, der Mensch ist ein soziales Tier, wenn diese Interaktion fehlt, verkümmert etwas; aber man merkt das erst nach und nach.

Und damit stellt sich auch die Frage, wie man das merkt, diese Verkümmerung, an sich selbst, an anderen, als Gesellschaft. Mein Freund, der Arzt ist, sagt, dass Covid Gefäßverengungen erzeugt und damit in manchen Fällen auch eine Art von Demenz.

Die Gefäßverengung, finde ich, ist ein ganz gutes Bild für vieles, was gerade geschieht, weil die Folgen von Corona und Covid eben gesellschaftlich genauso wie physisch oder physiologisch sind; der Metabolismus hat sich verändert, die Körper spüren das Fehlen der anderen, die Anforderungen sind gewachsen, das Leben in der Krise zehrt.

Aber all das passiert, scheint mir, mehr und mehr im Stillen; nun, im Stillen ist eigentlich alles passiert in den vergangenen Wochen und Monaten. Was fehlt, das ist der Schrei. Was fehlt, das ist der Schmerz, ein Ausdruck davon, eine Expression.

Auch diese Stille zehrt, weil sie eben verhindert, dass im Austausch auch ein Verständnis entsteht, für andere und damit für sich.

Solidarität, sagen viele, ist eine Folge von Corona; und es stimmt, es stimmt immer noch, dass sich viele Fragen, ökonomische, soziale, ökologisch, gerade anders stellen.

Aber auch Einsamkeit ist eine Folge; und die ist schwer zu fassen.

67

Freitag, 22.5.2020

Gestern war Vatertag. Wir waren am See, wo die Menschen nah beieinander lagen und sich sonnten und ihre Muskeln und ihre Fettpartien zeigten.

Auf der Straße sagte eine Frau, wir sollten bitte weiter auseinandertreten, ein Freund und ich, zwei Meter im Gespräch getrennt, damit sie durch uns hindurch, an uns vorbei gehen könne.

Verschiedene Realitäten gab es immer schon, zurzeit werden sie pathologisch; die Sorge der einen ist die Sorglosigkeit der anderen. Ich frage mich, was im Windschatten von all dem gerade passiert.

Politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Verschiebungen werden durch das Virus beschleunigt. Ich habe verschiedene Geschichten gelesen über die Restaurant-Branche, vor allem aus Amerika, vor allem aus New York, in denen beschrieben wurde, wie sich die Vielfalt der Szene radikal reduzieren wird.

Es wird eine andere Stadt sein, New York, wenn es so kommt, dass viele der wunderbaren Restaurants schließen, die Konzentration auf wenige Große wird auch hier die Ödnis vorantreiben, die ein Zeichen des Kommenden sein könnte.

Dabei ist gerade dieser Bereich, Ernährung, Gastronomie, Kochen, so wichtig für eine Veränderung der Gesellschaft, für eine andere Art zu konsumieren, weil sich hier Landwirtschaft, Ökonomie, Konsum, Alltag, Luxus, Geschmack, Verantwortung, Autonomie, Handwerk, so gut wie alles verbinden lässt.

Wenn die Diversität hier verschwindet, wie auch in anderen Bereichen, wo die großen Unternehmen etwa gerettet werden, während die kleinen Pleite gehen, dann ist das eine Veränderung, die der Ausdifferenzierung der Gesellschaft entgegenläuft.

Auch das schafft weitere Spannungen; die Komplexität unserer Zeit braucht komplexe Muster und Antworten; die Homogenität und der Monopolismus widersprechen dem.

Der Vatertag ist übrigens das Fest der reduktionistischen Männlichkeit.

66

Donnerstag, 21.5.2020

Die Müdigkeit, diese massive Müdigkeit, von der Freunde erzählen und die ich spüre und auch in mir trage. Mein Schlaf schiebt sich quer durch die Tage, als sei ich im Jetlag.

Es ist eine Erschöpfung, die wohl psychisch ist und erst dann physisch. Die Einsamkeit, die Unsicherheit, die Angst, die Anstrengung auch, sich an das neue Leben anzupassen, die Vorgaben anzunehmen, ohne sich selbst aufzugeben.

Ein dauerndes Ziehen, ein Hin und Her zwischen erinnerter Normalität und neuer Praxis. Die Kontraktionen des Sozialen fraßen Kraft, das Verstummen war anstrengend.

Und im Blick nach vorne liegt kaum Trost. Für viele offenbart sich erst jetzt, nach und nach, das Ausmaß der Zerstörung — der beruflichen Existenz etwa — und der Verstörung — das Gefühl, durch das Eis des Erlebten gebrochen zu sein.

Dieses Versinken jedenfalls habe ich gespürt, ein Verschwinden, und es war schwer, dem entgegenzuwirken, sich dem zu widersetzen, diesem Sog in eine andere Realität, die man nicht oder weniger stark steuern konnte als die alte.

Die Erschöpfung nun scheint sich deshalb einzustellen, weil die Annahme herrscht, dass es vorbei sei, was nicht der Fall ist; aber der Körper oder auch der Geist haben Zeichen wahrgenommen, so scheint es mir, und so tritt das deutlicher hervor, was zuvor zurückgehalten wurde.

Diese Selbstkontrolle also, die das Leben beherrscht hat und die ermüdend war, ermüdende ist. Die Ungeduld wächst; die Irritation auch.

Es ist anstrengend, dauernd wachsam zu sein.

65

Mittwoch, 20.5.2020

Wird diese Zeit überhaupt je stattgefunden haben? Es ist wohl wie bei vielen Traumata. Sie werden begraben, wenn die Zeit es zulässt.

Oder ist es gerade so, dass sich aus dem Anekdotischen eine Erinnerung formt? Oder eben aus dem Ressentiment. Aber das braucht eigentlich keine Erinnerung, es ist geradezu erinnerungsresistent.

Jetzt, da das Leben unter Vorgehalt und Vorsicht wiederbeginnt oder zu beginnen scheint, zeigt sich das Fehlen einer Theorie der Pandemie in der täglichen oder medialen Praxis. Es war zu viel bric-à-brac, gedankliches Stückwerk.

Vielleicht kommt das noch, vielleicht entsteht gerade etwas, vielleicht sehe ich es nur nicht. Vielleicht ist das große Schweigen nur in mir, und die Welt redet längst wieder. Das Gefühl der Abgeschiedenheit jedenfalls hält an.

64

Dienstag, 19.5.2020

Und das ist, glaube ich, immer noch eine der zentralen Fragen dieser Corona-Zeit, wie aus dem, was sich aufgetan hat: die Verbindungen von Naturzerstörung und Naturmissbrauch, die mit zum Ausbruch der Pandemie geführt haben, eine Globalisierung, die übermächtig geworden ist, eine gesellschaftliche Schieflage in vielen westlichen Staaten, die vorhandene Angst im System und dem Einzelnen, der Frage der Stellung von Gesundheit und Sicherheit und der wirtschaftlichen Prioritäten etc. etc. — wie aus diesem Schock das Neue erwachsen kann und wird.

Schon jetzt scheint jedenfalls die Verbindung zur Naturzerstörung nicht besonders vielen präsent, falls sie es jemals war. Die Geschichte ist eher die, dass China Schuld daran habe. Es geht darum, ob das Virus aus einem Labor kam oder nicht. Das ist alles einfacher, als anzuerkennen, dass wir es waren, als Menschheit, die die Voraussetzungen geschaffen haben für diese manchmal endzeitlich, manchmal alltäglich wirkende Global-Katastrophe.

Der Blick zurück wird schwierig sein, wenn es nun wieder darum geht, wie wir überhaupt weitermachen können; das ist das Dilemma oder sogar das Drama dieser Situation, wie vielleicht überhaupt solch fundamentale Umbrüche, die nicht mit einem revolutionären Willen verbunden sind. Die Reaktion auf Corona ist nicht an den Grund für Corona gekoppelt, denn der Grund ist eigentlich nicht wirklich etabliert.

Und so fehlt der Debatte oder dem Nachdenken die Basis. Worüber reden wir, wenn wir über Corona reden? Es klafft eine Lücke zwischen Gestern und Morgen, die von ganz unterschiedlichen Antworten gefüllt werden kann.

Und wird.

63

Montag, 18.5.2020

Die Körper haben sich verändert, sie sind feister geworden, scheint mir, auch wenn es viele gab, die joggen waren; die meisten haben eher mehr gegessen, sich weniger bewegt, mehr getrunken, scheint mir.

Der Corona-Bauch also, verbunden mit einer physischen Trägheit, die über das Ästhetische hinausweist; auch in dieser Trägheit liegt ein Moment von Aggression, gegen sich selbst oder gegen andere, eine Taubheit auch, der Welt gegenüber.

Eine ganze Generation, die im Fitness-Studio groß geworden ist, war auch einmal ohne Hantelbank, allein mit Gewichten, Gewicht und Jogamatte; eine latente Verfettung, der nichts Dunkles anhaftet, die aber doch eine Form von Selbstverlorenheit bedeuten kann, verbunden mit der Verwunderung darüber, was in diesen vergangenen Wochen passiert ist.

Eine Spurensuche also am eigenen Körper, der Versuch einer Vergewisserung in der Verdrängung. Denn eigentlich hat diese vergangene Zeit nicht stattgefunden, sie suspendiert, alles war suspendiert, und wenn etwas geschehen ist, dann im Windschatten der Wirklichkeit.

Die Körper nun wiedersetzen sich diesem Verschwinden und Vergessen, sie sind Zeugen dessen, was wir getan haben, wie wir gelebt haben, was wir dachten.

Im Selbsterhaltungstrieb dieser Corona-Zeit erweist sich das Physische als elastischer als das Psychische. Die Hysterie, die manche Menschen ergriffen hat, zeigt sich im Körperlichen eher als Phlegma.

Auch das ist eine Verweigerung der Veränderung gegenüber.

62

Sonntag, 17.5.2020

Wie ein scheuer Käfer kriecht es durch die Straße, ein Taxi mit gelb erleuchtetem Schild auf dem Dach, das Zeichen der Suche, der Verfügbarkeit, das Zeichen, das immer ein Versprechen war, als Mobilität noch ein Versprechen war.

Aber der Geist und auch der Körper, so scheint es, haben sich schon eingestellt auf Bewegungslosigkeit. Die Flüge fehlen und fehlen nicht, weil sie nicht möglich sind und erreichbar. Und so fügt sich der Mensch, so fügen sich viele Menschen in das Neue, das sie spüren, ohne es in allen Konsequenzen zu verstehen.

Der Käfer wiederum ist das Bild dieser Unfähigkeit zu handeln, er ist das Bild der Absurdität, die das Leben immer durchzieht. So hat Kafka uns gesehen in einer Zeit, die ähnlich war wie unsere, weil Zeiten immer ähnlich sind, und ganz anders, weil keine Zeit ist wie die andere.

Kafkas Käfer, das eierschalenfarbene Taxi, es ist ein Panzer, der uns umgibt, die wir leben oder es jedenfalls versuchen. Die Einsamkeit des Käfers, so wie in Kafka gesehen hat, kommt nicht durch den Panzer oder das Käfersein; sie ist in der Welt, sie ist damit auch in diesem Moment. Das Virus macht sie nur größer, diese Einsamkeit, es macht aus dem Existenziellen etwas Vorübergehendes.

Damit unterliegen wir gerade einer Täuschung. Nicht die Unterbrechung ist das, was uns vom Leben abhält. Es ist das Leben selbst, das die Unterbrechung ist.

Leben auf Bewährung.

61

Samstag, 16.5.2020

Die Brüchigkeit der Menschen. Sie sehen aus wie vorher. Sie sehen heil aus und ganz. Sie sind es aber nicht mehr, glaube ich, und diese Brüche werden lange da sein, sie werden nicht mehr ganz weggehen. Die Menschen werden stärker geprägt sein von dem, was sie erlebt haben in den vergangenen Wochen, als es der Schein von Normalität suggeriert.

Sie haben erlebt, wie leicht es ist, dass man ihnen das wegnimmt, was ihr Leben ausmachte. Was sie jedenfalls für ihr Leben hielten. Und wenn nun die Freiheiten wiederkehren, dann wirkt es bislang nicht so, dass sie mit einer Erleichterung oder Elan zurückkehren. Es wirkt eher so, als sei eine Scham in ihnen, dass sie es zuließen, dass das Leben so geschrumpft wurde.

Sie wissen, die allermeisten, dass es notwendig und vernünftig war, glaube ich. Und dennoch ist es wie ein Trauma, was nachwirkt. Die Vollbremsung des Alltags, all das, was man nicht mitbekommt, an Gewalt oder Wut oder Frustration im Haushalt, in den Familien, die wachsende Not und Sorge darüber, wie es weitergeht, finanziell, persönlich, gesellschaftlich.

Die Möglichkeit, die Notwendigkeit der Veränderung ist deutlich geworden. Aber erst einmal scheint eine Müdigkeit die Menschen ergriffen zu haben, die Anstrengungen der vergangenen Wochen und Monate sind noch nicht vorbei, die Angst steckt noch in ihnen, vielleicht wächst sie sogar auch, so scheinen jedenfalls die Begegnungen oder die Blicke, die nicht freier geworden sind, befreiter, sondern eher skeptischer, besorgter.

Es ist schwer zu sagen, was wirklich passiert. Es bleibt die Beobachtung, im sehr eingeschränkten Rahmen. Das Unbehagen war schon vorher da. Nun findet es seine Form. Sie werden mit ihrer Brüchigkeit umgehen, die Menschen, aber sie werden sich erinnern, an dieses Gefühl von Verletztheit und Verlorenheit, es wird in ihnen bleiben, wie ein Schmerz.

60

Freitag, 15.5.2020

Das erste Lunch nach der langen Abwesenheit, und es fühlte sich an, als seien wir andere Menschen geworden, meine wunderbarer Freund und ich, als wir in dem Restaurant saßen, das wir mögen, und Austern aßen und Wiener Schnitzel und zu viel Wein tranken.

Die Kellner trugen Masken, die Gäste waren rar und ruhig, sie scheinen sich erst langsam wieder vorzutasten in eine Welt, die sie nicht mehr kennen, der sie nicht mehr trauen. Sie waren fort, und weil sie fort waren, haben sie gemerkt, dass keiner keinem fehlt oder alle allen, was nicht das Gleiche ist.

Es war, sagte einer von uns, als sei es der erste Tag nach dem Ende des Krieges, als sei der Frieden endlich da, aber auch damals schien es nur so, als seien die Menschen heil, nur weil sie äußerlich unverletzt waren.

Was also macht Trauma mit einem? Und Trauma war es; ist es immer noch. Das Leben, komplett in Frage gestellt. Was hast du gemacht, habe ich meinen Freund gefragt: I was self-medicating, sagte er, was doppelt lustig ist und gleichzeitig die Wahrheit; er verwendet Substanzen; aber auch der Rest der Gesellschaft schien narkotisiert.

Und bleibt es. Willkommen zurück, sagte der Chef des Restaurants, und als wir die zwei Flaschen Wein getrunken hatten und wieder gingen, da waren die Augen, denn nur die Augen konnte ich sehen, zugleich fröhlich und traurig. Er war froh, dass wir da gewesen waren; und er wusste nicht, ob wir wiederkommen würden.

Ich weiß es auch nicht. Ich weiß nicht, wie das Leben sein wird, nun, da es wieder anfangen kann, langsam, sehr langsam. Ich weiß nicht, ob ich Lust habe, so zu tun, als sei nicht etwas in unser aller Leben eingebrochen, das wir nicht verstehen; wir verstehen nur, dass wir verletzt wurden.

Wir wissen aber nicht, wo genau, wie genau, und wie es wieder heilt.

Und so blieb von diesem Lunch, dem ersten der neuen Zeitrechnung, vor allem das Gefühl, dass dieses Anderssein, das wir mitgebracht hatten, gar nicht so falsch war; mein Freund hatte sein Leben in den vergangenen Monaten durch Kompromisse in eine Form gebracht, die die alten Grenzüberschreitungen weit entfernt schienen ließen.

Warum sollte er wieder zurück? Warum sollte überhaupt jemand zurück? Die gemeinsame Erinnerung an diese Zeit, die hinter uns liegt, ist eine Verbindung, die bleibt, die aber auch trennt.

Es ist diese Scham, die in uns steckt. Denn Corona oder Covid-19 ist nichts, was man mit Freude hinter sich lassen kann. Die Last bleibt, auf uns allen, für sehr lange Zeit.

59

Donnerstag, 14.5.2020

Die Leere, einerseits, das Vakuum, das durch den Zusammenbruch des Sozialen entstanden ist, durch das Anhalten des Alltags, durch die Unsicherheit, die Angst, die Ratslosigkeit, wie es weitergeht.

Und andererseits dieser Druck an Neuem, die Veränderungen in der Kommunikation, die Verlagerung ins Virtuelle, Digitale, was auch Konsum angeht, Restaurants, weite Teile des Alltagslebens, bis hin zu der Frage, ob arbeiten, wie es bisher üblich war, auch weiterhin die Praxis sein wird.

Homeoffice forever also? Ist das nun Freiheit oder ein weiterer Schritt in der Verlagerung der Verantwortung von gemeinschaftlich und gesellschaftlich oder in diesem Fall betrieblich organisierten Formen hin zu individueller Praxis, also konkret: eigene Kosten für Raum, Mobiliar, Kaffee etc?

Es herrscht, so fühlt es sich an, gerade gleichzeitig eine große Unter- und Überforderung. Ich komme nicht nach mit dem Lesen und Denken, scheint mir, Ideen, Texte, Menschen, Gegenwart, vieles bleibt liegen, während ich gleichzeitig spüre, wie sehr sich vieles verlangsamt hat, erlahmt ist, keine Lesungen mehr, Premieren, Konzerte, Kinos, Kongresse, Konferenzen, Reisen.

Langsam holt also die Absonderlichkeit von allem uns ein. Er habe gerade keine Ideen mehr, er wisse einfach nicht, was er sagen solle, schrieb gerade Jamelle Bouie, der wunderbare Kolumnist der New York Times — das Gefühl, gleichzeitig überrumpelt und überrannt zu sein und wie liegen gelassen, ausgelaugt, ausgepowert, durch was?

Das emotionale Gewicht dieser Tage, auf die einzelnen Körper, auf die Gesellschaft als Ganzes, es wird immer deutlicher. Und wir sind gerade erst am Anfang, die Wirtschaftskrise kommt erst noch, in einem Umfang, wie zuletzt vor 100 oder 300 Jahren oder überhaupt.

Wann ist denn Corona endlich vorbei, fragt mein kleiner Sohn; wenn Corona vorbei ist, was noch lange dauern wird, wird die Welt eine andere sein, krisenhafter, zerklüfteter, auch wenn sie aussieht, von außen betrachtet, wie die alte.

Ich höre wieder mehr David Runciman, den klugen Politikwissenschaftler aus Cambridge, nicht die aktuellen Podcasts auf Talking Politics, sondern seine Serie über politische Denker*innen, die er wichtig findet: Thomas Hobbes vor allem, von der er vieles ableitet, die Rolle, Bedeutung und Gestalt des Staates, der gleichzeitig Freiheit nimmt und Freiheit gibt, ambivalent in seiner Natur und daher nicht naturgegeben.

Die Geschichte der Moderne und ihrer Revolutionen führt Runciman immer wieder zurück auf Hobbes und die Frage danach, wie die Gewalt, die Gesellschaft immer ist, gerechtfertigt werden kann.

Es bleibt die offene Frage auch unserer Zeit.

57

Mittwoch, 13.5.2020

Die Eisheiligen. Und die kalte Sophie. Die Kälte, immer noch, die die Tage bizarr gefangen hält; aber als der Freund am Telefon diese Worte sagt, da öffnet sich eine Tür in mir, da sehe ich auf den Grund meiner Kindheit und höre die Stimme meiner Mutter.

Wie lange habe ich diese Worte nicht mehr gehört, die Eisheiligen, die kalte Sophie. Das Schöne an diesen Worten ist, dass sie eine Ordnung schaffen, einen Zusammenhang, eine Kohärenz, wo sonst nur kaltes Wetter ist.

Wenn aber oft an diesen Tagen die Temperaturen fallen, dann ist die Ausnahme auf einmal die Regel; es war ein Gefühl von Heimat, das sich für mich mit diesen Worten verband, eine Erinnerung an München, die mir Berlin noch einmal unwirtlicher erscheinen ließ.

Ich vermisse diese Stadt meiner Kindheit eigentlich kaum, würde ich sagen, und auch jetzt vermisse ich sie nicht; sie fehlt mir aber in solchen Momenten, etwas in mir ist dann nicht hier, an diesem Ort, sondern in einer anderen Zeit, in einem anderen Körper.

Es ist eine fremde Vertrautheit, die mich dann befällt, und vielleicht ist es auch die Dünnhäutigkeit in dieser Krise, die dieses Gefühl befördert. Dieser Taumel, der mich dann ergreift, weil alles so wirkt wie in Watte gepackt, ohne Geräusche, was die Wahrnehmung verwirrt.

Und gleichzeitig die zunehmende Überforderung, weil die Rückkehr des Rhythmus in das Leben mit so viel Verunsicherung verbunden ist. Die Schule der Kinder etwa, die wieder beginnt, aber nur einen Tag, dann ist wieder Schluss, „bis Ende Mai“, sagt mein Sohn, aber Genaues weiß er auch nicht.

Diese Wattigkeit also, dieser nur symbolische Wiederbeginn, es hat etwas Automatisiertes, etwas Ferngesteuertes und wenig Autonomes, dieses Vorgehen.

Auch das verstört.

56

Dienstag, 12.5.2020

Ich glaube nicht, dass aus diesem Phantasma eine reale politische Gefahr wird; aber das Phantasma weißt auf einen Grad an Verstörung in der Gesellschaft hin, dessen Wirkung nicht klar abzusehen ist.

Im größeren Kontext sind die Zahlen gering, das Denken der Verschwörung ist marginal. Aber, wie beim Virus, so scheint es auch in diesem Fall möglich, dass die Konsequenzen größer sind als der eigentliche Anlass.

Bei Corona zeigt sich langsam das Dilemma jeder Pandemie: Wird es katastrophal, waren die Maßnahmen zu gering, geht es glimpflich aus, waren die Maßnahmen zu streng. Wenn die Politik es also richtig macht, untergräbt sie im Ergebnis ihre eigene Autorität.

Das könnte die Regierung ja aber kommunizieren, diese Ambivalenz oder Unsicherheit. Stattdessen kommuniziert sie sehr wenig, und so entsteht eine Ratlosigkeit über das weitere Vorgehen.

Ein wenig wirkt es so, als würden die Menschen langsam wie aus einem langen Schlaf erwachen. Ab Freitag werden die Restaurants wieder geöffnet sein. Die Frage bleibt, wie es für die Kunst weiter geht, klassische Musik, das Theater, Kinos. Da gibt es nur Schweigen von Seiten der Regierung und auch von Seiten der Kunst.

Die Sprachlosigkeit also ist geblieben, die seit Anfang an diese Krise begleitete; in manchem ist sie darin begründet, dass man tatsächlich nicht wusste, was kommen würde; in manchem aber ist sie auch unnötig gewesen, eine Fixierung auf wenige Akteure wie den Virologen Drosten, die Verengung also des Diskurses, eine Enge, die überhaupt das Leben ergriffen hat.

Die Tage gehen immer noch ineinander über, die Konturen zeichnen sich nicht viel stärker ab als noch vor einigen Wochen. Die Routine in der Krise hat das Neue ersetzt und auch den Schock. Was jetzt kommt, das ist der Kater.

Wir schauen uns um und staunen: Was, das waren wirklich wir.

55

Montag, 11.5.2020

Auf was sie aufbaut, diese Paranoia? Sie baut auf der Entpolitisierung auf, die in den 1990er Jahren begann. Sie baut auf dem Sicherheitsdiskurs auf, der nach 2001 begann. Sie baut auf der Angst auf, die sich in den Jahren danach als das dominante Gefühl etablierte.

Die Paranoia unserer Tage ist damit die Kehrseite einer neoliberalen Verzerrung, die Narzissten, die ihre eigene Sorge mit der Sorge um die Welt verwechseln, sind das Janus-Gesicht der Egoisten, die die Welt in Gewinner und Verlierer einteilen und alle mit einem moralischen Makel belegen, die auf der falschen Seite stehen.

Diese Entpolitisierung hat ein Vakuum hinterlassen, das sich nun mit Angst füllt, Angst, die genutzt werden kann und genutzt wird.

Das Ausmaß an Angst, das in dieser Gesellschaft vorhanden ist, ist aber doch überraschend, selbst wenn man bedenkt, wie prekär, das war ja das Wort, viele Verhältnisse schon vor der Corona-Krise waren. Aber es geht ja um mehr als um wirtschaftliche Not und Sorgen.

Die Angst, die sich derzeit in der Gesellschaft zeigt, in Reaktionen von Einzelnen, auch Freunden, Bekannten, und in den Demonstrationen nicht nur in Deutschland, diese Angst hat einen tieferen Grund.

Es scheint mir, dass so ziemlich alles zusammen, was sich in den Jahren aufgestaut hat, in diese Angst mit einspeist, ein Leben in Disruption, aus der Balance geworfen von neuer Technologie, neuen Möglichkeiten, neuen Chancen und Gefahren, verwirrend, herausfordernd, und wenn die Einzelnen ohne Halt sind, ohne Strukturen, auf die sie sich verlassen können, dann schaffen sie sich selbst welche, zur Sicherheit.

In der Angst wird also, glaube ich, auch ein demokratisches Versagen deutlich, dieses System zu sein, das die Menschen hält. Nun ergreift sie ihre eigene Besessenheit, aus der Unklarheit, Unüberschaubarkeit, auch Ungerechtigkeit dieser Zeit, dieses Corona-Moments ein System zu bauen, das von versteckten Mächten gesteuert wird.

Es gibt diese Mächte, es gibt ein System, es gibt verschiedene Mächte, die miteinander konkurrieren, es gibt verschiedene Systeme, die miteinander konkurrieren, es gibt Intransparenz und Geheimnisse, das ist das Wesen der Menschen und damit der Welt — was es nicht gibt, ist die eine Macht, und die Sehnsucht nach dieser Erklärung ist meist Zeichen eines autoritären Charakters.

Die Reduktion der Wirklichkeit, auch als Erklärung, nicht nur als Programm, trägt das Autoritäre in sich, als Anspruch, als Ansatz, dann, recht leicht, eben doch als Programm. Und so wird aus dem Widerstand, wie er sich nennt, ein politisches Phantasma.

54

Sonntag, 10.5.2020

Um es etwas klarer zu formulieren: Die frei flottierende Paranoia unserer Tage hat eine Vorgeschichte, sie ist nicht aus dem Nichts entstanden, sie baut auf das auf, was Menschen gesehen, gedacht, erlebt haben, im Dickicht von Verunsicherung, Verlust, Verdacht und Wohlstand.

Es ist eine Haltung, die nicht klar politisch zuzuordnen ist, weil viele der politischen Kategorien des 20. Jahrhunderts im 21. Jahrhundert keinen Sinn mehr ergeben.

Sind sie rechts, diese Menschen, die denken, dass Bill Gates die WHO benutzt, um seinen Reichtum zu vermehren, indem er eine Krankheit in die Welt setzt?

Im klassischen Sinn sind sie es oft, phänotypisch die gekränkte, einsame, rastlose, gefährliche Männlichkeit, unterstützt von Frauen, die in ihrem Fanatismus der männlichen Enttäuschtheit kaum nachstehen, im Gegenteil, sie scheinen sie oft anzutreiben.

Sind sie links, diese Menschen, weil sie linksradikale Sänger wie Hans Söllner mögen, Drogen und Rasta womöglich inbegriffen?

Wieder, im milieuhaften Sinn ja; es sind Biographien, die in eine Zeit zurückreichen, die anders kodiert war, als kulturelle Prägungen die politischen Haltungen zu ersetzen begannen und sich die Frage nach richtig und falsch und dem Außen im Kapitalismus nicht mehr zu stellen schien.

Alles war innen, auf einmal, das war das Gefühl von Entropie, das aus den späten 1990er Jahren ins neue Jahrtausend hinüber lappte, ein Weltinnenraum, wie es Peter Sloterdijk einmal nannte, glaube ich, aber auch das Ungefähre, das Vage, das Vermutete und nur Gefühlte ist ein Signum dieser Zeit.

Geblieben ist ein Narzissmus, der bereit ist, auf jede Kränkung zu reagieren. Geblieben ist ein Verlust von politischen Kategorien, der durch Emotionen ersetzt wurde. Geblieben ist ein Gefühl von Machtlosigkeit im Lauf der Dinge, das damit zu tun hat, dass die Analyse von Macht aufgegeben wurde, womit auch die Form von Machtkritik abhandenkam, die notwendig ist, um sich selbst autonom zu sehen, als Bürger, als Mensch.

Geblieben ist das Ressentiment.

53

Samstag, 9.5.2020

Der selbsterklärte Widerstand. Aber woher kommt diese Wut? Sie ist in den Gesichtern, sie ist in den Gesten. Es sind Körper in Auflehnung, am Alexanderplatz, an anderen Orten im Land. Sie wehren sich, weil sie sich wehren wollen; im Grunde, so scheint es oft, ist ihnen egal, wogegen.

Der Akt an sich reicht ihnen. Sie fühlen sich bestätigt in der Ablehnung. Sie suchen die Abgrenzung. In der Differenz sehen sie ihren Sinn.

Das macht sie nicht harmlos, im Gegenteil. Sie sind viele, und es sind noch mehr unter denen, die nicht marschieren, die sich nicht aufbäumen gegen eine Bedrohung, die sie imaginieren, die sie sich formen aus den Teilen der Wirklichkeit, so wie sie sich ihnen darstellt, so wie sie sie sehen wollen.

Es ist eine Mischung aus Hysterie und Autoritarismus, die sie antreibt, es ist das Zucken in der Zeit, das sie durchfährt. Sie sind verstrahlt, sagt ein Freund über sie, es ist schade, sagt er, dass man nicht radikal sein kann, ohne verstrahlt zu sein.

Was also ist es, das sie durchfährt? Es ist alt, so alt wie die Menschen. Sie sprechen in vielen Zungen, sie sehen Gebilde aus Luft, sie sehen eine Ordnung, wo vorher nur Chaos war. Die Sehnsucht danach, dass heil wird, was gebrochen war. Ein Fanatismus, der sich langsam steigert; und der Quell ist nicht immer trübe.

Das ist das Seltsame, wie sich vermischt, was vorher getrennt schien. Die Wut wächst in den verschiedensten Gefilden, sie wächst unter denen, die in den richtigen Viertel leben, und unter denen, die in den falschen Vierteln leben, sie breitet sich aus, anders als der Virus, das sie verleugnen, das sie verbindet, sie ist eine Konstante, die eine jeweils andere Form annimmt.

In Gestalt derer, die sich heute versammeln, weil sie denken, dass Bill Gates es auf ihr Geld und auf ihre Gesundheit abgesehen hat, zeigt die Gegenwart sich fratzenhaft und doch sehr klar, weil die Fratze das enthüllt, was normal schien; in der Abkehr dessen, was akzeptiert ist, zeigt die Normalität ihre dunkle Seite.

Das heißt nicht, dass sie Recht haben; nach allem, was ich sagen kann, haben sie auf eine Art und Weise nicht recht, die mir Angst macht.

Es heißt nur, dass sie eine Geschichte haben, alle, die gekommen sind, eine verschlungene Geschichte, und gemeinsam wird aus diesen Geschichten, gemeinsam, wenn sie sich finden, gemeinsam wird es eine Gefahr, nicht deshalb, weil es von links oder von rechts kommt, sondern deshalb, weil es weder links noch rechts ist.

Die autoritäre Persönlichkeit erkennt ihresgleichen; das ist ihr perveres Privileg.

52

Freitag, 8.5.2020

Der Tag der Befreiung, vor 75 Jahren; es wurde, trotz all der Kriegs-Rhetorik zuvor, nicht über Corona gesprochen, jedenfalls habe ich es nicht wahrgenommen.

Präsident Steinmeier hat eine Rede gehalten, die ich nicht gehört habe. Ich habe ein wenig von dem Streit mitbekommen, den es um den Satz gab, dass man nur mit gebrochenem Herzen an Deutschland denken kann, wie ein Echo habe ich es mitbekommen, wie so vieles dieser Tage.

Die Worte „gebrochenes Herz“ und „Deutschland“ in einem Satz finde ich auch gewagt, aber das war nicht die Kritik daran; mir ist die Vermischung zwischen dem Privaten und dem Politischen an diesem Punkt zu weitgehend, mein Herz gehört ganz sicher nicht diesem Land.

Was ich aber dabei merke, bei der Schwierigkeit, einen historischen Diskurs zu führen etwa, das ist wieder diese Wolke, die über allem hängt, die das Licht verdunkelt, die Konturen dimmt, die zu Schablonen reduziert, wo vorher so etwas wie Klarheit war.

Alles, so scheint es jedenfalls, alles ist unter dieser Corona-Wolke verschwunden, was ja aber nicht wahr ist, was nicht sein kann, und vielleicht ist es auch meine Wahrnehmung allein. Es ist auch nicht so, als ob ich dauernd an Corona denken würde; es ist mehr so, dass ich dauernd nicht nicht an Corona denke.

In Berlin war es ein Feiertag, im Rest des Landes nicht. Das Wetter war frühlingshaft, endlich, tastend, fast verschämt, so wie es die Menschen sind, die sich in der Sonne versammeln, ein Glas Wein in der Hand am frühen Abend, zurück im Leben.

Vielleicht ist es auch nur eine Projektion, das mit der Scham.

51

Donnerstag, 7.5.2020

Die langsamen Lockerungen, die nun angekündigt sind, zeigen eine Gesellschaft in Verwirrung, nicht in Erleichterung. Der Schock sitzt tief, dass all das möglich war, und die Verletzungen, die Unsicherheiten, die Probleme sind ja nicht weniger, sie sind nicht gelöst.

Die Schulen zum Beispiel sind selbst überrascht von dem Tempo der Öffnungen, die Reaktion ist unklar, es geht nicht anders vielleicht, aber es ist doch seltsam, wie unvorbereitet es wirkt, nach all den Wochen, in denen sie sich hätten überlegen können, wie sie sich die Rückkehr vorstellen.

Aber es war eben genau das, der Zusammenbruch der Vorstellungen, der Vorstellungsgabe sogar, der sich in der Krise gezeigt hat, und das ist so bestürzend und bleibt wie eine leere Stelle im Denken dieser Zeit.

Wir waren nicht in der Lage, das zu sehen, was kommen würde, wir waren nicht vorbereitet auf das, was passierte, obwohl es aus den Entwicklungen der vergangenen Jahre und Jahrzehnte abzulesen gewesen wäre, und dann fehlte und die Gabe zu sehen, was getan werden könnte, müsste, um aus dieser Situation das Beste zu machen.

Vielleicht ist diese Einschätzung zu pessimistisch, vielleicht sind die Veränderungen da, vielleicht haben sie begonnen. Das ist das Ringen um eine andere Gesellschaft, Wirtschaft, Politik, das jetzt möglich wäre. Aber die Akteure sind ja dieselben, die Hierarchien sind dieselben, die Prioritäten, in vielem, sind es auch.

Der Mangel an Vorstellungskraft wird gesellschaftlich problematisch, wenn die Vergangenheit mehr Plausibilität erhält als die Zukunft.

An diesem Punkt stehen wir nun. Als Gesellschaft, aber auch als Individuen.

50

Mittwoch, 6.5.2020

Was ist weniger als Niemand? Weniger als Niemand sind die Wenigen, die unterwegs sind, und die Abwesenheit der anderen umso deutlicher machen.

Am Hauptbahnhof etwa ist der Rhythmus zum Erliegen gekommen. Einzelne schieben sich über den Vorplatz, seltsam richtungslos, ohne Antrieb, ohne Eile auch. Es ist, als sei ihnen ihr Ziel abhandengekommen. Sie sind zögerlich, tastend, angstvoll vielleicht. Sie fühlen sich ausgesetzt, dem Virus oder den anderen, denn der Unterschied ist ja nicht so groß.

Der Zusammenbruch des Sozialen also, der anhält. Gerade jetzt, wo der Lockdown langsam gelockert wird, bleibt diese Ferne, die Entfremdung ein Element dieser Zeit, eine Erfahrung, die bleiben wird, weil sich die Körper erinnern, wie losgelöst sie waren voneinander, weil die Menschen nicht vergessen, wie sie einander ausgewichen sind, auf der Straße, im Geschäft, ein Schritt zur Seite, aus Verdacht mehr als aus Vorsicht.

Auch die Gesichter bleiben fremd, versteckt hinter den Masken, eingehüllt in eine katastrophische Ästhetik, die zum Alltag geworden ist, integriert fast ohne Probleme von den allermeisten, mit Ausnahme jener, die in der Maske das Zeichen der Verschwörung sehen, der Unterdrückung und Entrechtung.

Aber die gab es immer, sie suchen sich ihre Feinde, wo sie sie finden; und es ist womöglich ein Zeichen und auch ein Problem der mediatisierten Gesellschaft, dass sie, eine wirkliche Minderheit, auch wenn sie sich in die Mitte fortschreibt, eine überproportionierte Aufmerksamkeit erfahren.

Was eigentlich viel überraschender ist, ist die Ruhe, mit der die Menschen ihre Masken tragen; man kann das als Ergebenheit sehen, wenn man will, man kann es auch als Einsicht sehen, beides ist wahr, glaube ich, es ist Anpassung wie Vernunft und Verantwortung, und die Interpretation dessen, was geschieht, ist möglicherweise weniger wichtig als das, was tatsächlich geschieht.

Die Wahrnehmung also, das Gelten-Lassen in dieser Situation; dieses Gefühl, das Zittern in der Luft.

49

Dienstag, 5.5.2020

Die Kälte immer noch, die einen draußen umfängt und drinnen nicht loslässt; es ist eine Mischung aus Verwirrung und Lähmung, die in mir ist und wohl auch in den Menschen, so scheint es mir, die sich wie an Fäden gezogen durch die Stadt und ihre Straßen bewegen.

Und so steuere ich mit dem Fahrrad, ohne wirklich damit zu rechnen, dass da Autos kommen könnten, aus einer Seitenstraße auf die Torstraße, sonst ein Messer von einer Straße, und gleite hinüber, mit der Selbstverständlichkeit des Pandemie-Radlers.

Es sind immer die gleichen Wege, immer die wenigen gleichen Wege, die ich nehme, und jedes Mal fühlt es sich gleichzeitig an wie gestern und wie morgen, weil ich weiß, dass ich wieder hier lang fahren werde, so wie ich hier lang gefahren bin, und genau das ist dieses Gefühl, das an mir und in mir zerrt, confusion and numbness, wie ich meinem amerikanischen Freund sage, der nur nickt.

Die Grundlage seines Lebens hat sich fundamental verändert, das auf Bewegung angelegt war, es ist auch die Grundlage meines Lebens gewesen und das fast aller meiner Freunde: Die Praxis des Wissensaustauschs durch Gespräche in Restaurants in den verschiedenen Städten Europas und der Welt, der Fluss der Gedanken, der nun gestoppt ist.

Denn im Digitalen entstehen Gedanken anders, zielgerichteter, enger vielleicht auch. Es werden eher Sachen abgearbeitet, scheint mir, struktureller geht es zu, aber nicht unbedingt kreativer oder freier. Die Zufälligkeit wird eliminiert, was die Ergebnisse befeuert, aber Ergebnisse wozu, Antworten worauf?

Diese Ratlosigkeit bleibt, Projekte und Pläne scheinen ins Nichts zu gehen. Es ist klar, dass das nicht stimmt, es ist klar, dass etwas wieder anfangen wird, irgendwie, anders, aber es wird wieder anfangen.

Ich sage das meinem Freund, der verzweifelt ist, weil er nicht mehr Klavier spielen darf vor Publikum, und den es verletzt, wenn Menschen, die er für seine Freunde hielt, diesen Schmerz, die auch eine Not ist, nicht verstehen.

Warum verstehen sie es nicht? Warum fehlt ihnen dieses Grundmaß an Empathie, an Einfühlung?

Ich kann seine Verletztheit verstehen, weil die individuelle Schwäche, wenn sie einem ein Mal, zwei Mal, drei Mal begegnet, eine gesellschaftliche Realität wird.

48

Montag, 4.5.2020

Und so stehen sie nun in Schlangen, draußen vor dem Supermarkt an der Tür, bewacht von einem jungen Mann vom Sicherheitsdienst und mit schwarzer Schutzweste, als ob jemand auf ihn schießen könnte, und drinnen im Supermarkt an der Kasse, hier arbeiten sie mit Schutzkonstruktionen aus durchsichtigem Plastik, die sich wie ein halber Zylinder vor das Gesicht klappen lassen; die Laune war auch schon mal besser.

Trotzdem sind sie ruhig, sie sind geduldig und auch ein wenig wie erdrückt, als ob die Luft zum Atmen ihnen genommen ist, durch die Masken, denn es ist ja anstrengend, so längere Zeit zu atmen, und durch die Verhältnisse des Virus, der der Zeit ihre eigentliche Dimension gibt, nach vorne, ins Ungefähre, Ungewisse, aber doch Mögliche; nun ist die Zeit zusammengefaltet wie eine Ziehharmonika.

Der gesellschaftliche Grundzustand ist damit einer des Wartens geworden, deutlicher und drastischer als zuvor und übergreifend als Metapher für ein Gefühl von Richtungslosigkeit, in dem sich die einzelnen Wochentage auflösen und auch die Vorstellung davon, was nach der nächsten Woche, nach dem nächsten Monat oder 2021 sein könnte.

Es ist eine Versuchung, im Kopf schon mal in dieses Jahr zu reisen, wo es womöglich besser sein könnte, als es gerade ist; aber wer weiß das schon wirklich? Andererseits, die Rede davon, dass das alles nicht vorauszusehen war, Corona, ist auch nicht richtig. Die Zerstörung der Umwelt und vor allem des Lebensraums für viele Tierarten sind wesentlich verantwortlich für diese und kommende Pandemien, wie etwa auch schon für Sars oder Schweinepest.

Die Rede also, dass das alles nicht vorstellbar war, ist falsch; richtig ist vor allem, dass wir es uns nicht vorstellen konnten. Das ist weniger ein Mangel von Information als von Imagination.

Freud hätte Verdrängung dazu gesagt.

47

Sonntag, 3.5.2020

Die langsame Rückkehr des Bekannten verstärkt das Bewusstsein der Radikalität des Augenblicks. Der Schock verwandelt sich in Routine.

Eine neue Phase beginnt, nach knapp zwei Monaten Lockdown. Erst war es neu, verwunderlich, abstrakt, absurd, schwer oder kaum oder gar nicht vorstellbar, wie das sein würde, wie das sein könnte, eine Gesellschaft ohne Gesellschaft.

Dann wurde das Soziale zu einer entfernten Realität, und die Realität definierte sich durch die Abwesenheit des Alltags. Ein neuer Alltag begann, zwischen Homeschooling und dem Horten von Toilettenpapier, von dem erst zu lesen war, dann wurde es wahr, als Wirklichkeit der leeren Regale.

Diese Bilder bleiben, diese Erfahrung des Abgleichens der eigenen Vorstellungen mit den Gegebenheiten einer Pandemie, die das Außergewöhnliche gewöhnlich werden ließ.

Und so tragen die meisten jetzt, wo sie wieder in die Öffentlichkeit gehen, ihre Masken mit größerer Selbstverständlichkeit als zuvor. Die meisten fragen sich nicht, so scheint es, wieso das so ist; die Masken hätten sie schon all die Wochen tragen können, nun tun sie es eben.

Die Resignation, so scheint es mir, nimmt zu; aber ich kann mich auch täuschen. Körper sind langsam, zu spüren, was geschieht, der Geist ist es auch. Die Vollbremsung, die Corona bedeutet, wird im Abstand der Wochen immer deutlicher.

Fremdheit und Vertrautheit nehmen zu.

46

Samstag, 2.5.2020

Das Leben, reduziert auf ein paar Straßen, Ecken, langsam wieder Cafés, die die Getränke durch die Tür reichen, irgendwie schelmisch improvisiert oder doch trotzig oder einfach nur am Alltag und Überleben interessiert.

Der Besitzer des Cafés sagt, dass er es schaffen wird, irgendwie. Dass er am Samstag hier steht, damit dann, wenn es wieder losgeht, die Menschen kommen, weil sie sich erinnern, dass er offen hatte. Gelerntes Verhalten in der Katastrophe.

Aber wann das sein wird, oder wie das sein wird, das ist die Frage, die niemand beantworten will; und die Unzufriedenheit der einen trifft sich hier mit der Hilflosigkeit der anderen. Gerade in der Krise verstärkt die Unklarheit der Kommunikation die Effekte der Unsicherheit.

Und so wird das, was erst eine Pandemie war, zu Ideologie. Aus dem Virus wird eine Krankheit, wie sie die Geschichte in Ansätzen immer kannte. Entfesselte Irrationalität, sonst zurückgehalten von Alltag, Routine, wohl auch Normen, die kaum jemand ausbuchstabieren könnte, auf die sich wohl niemals auch nur die paar Leute einigen könnten, die sich nun in der schwachen Sonne versammelt haben.

Normen aber, die gelten, weil sich die Menschen an sie halten, aus der Praxis eher in die Theorie überführt, weniger andersherum; nun also, wo sich der Widerstand regt, zirkuliert diese Irrationalität, diese Wut auf die Verhältnisse. Die Frage ist, wohin diese Stimmung verschwindet, wenn die Normalität wieder zurück ist; falls sie je normal war oder je zurück sein wird.

Was die Menschen nun tun, sie stehen Schlange, vor der Bäckerei, am Supermarkt, an der Kasse, überall stehen sie Schlange, wo vorher Eile war. Und sie lachen, wenn überhaupt, hinter ihrer Maske, was dazu führt, dass man eh niemanden erkennt, weil wir nicht gelernt haben, Menschen anhand ihrer Augen zu identifizieren.

Aber wenn sie lachen, diese Augen, wenn sie einen wenigstens kurz anstrahlen, dann immerhin merkt man, dass man diese Person hinter ihrer Papiermaske kennen könnte.

So vergehen nun die Tage. Am Abend dann Ergebenheit in Erschöpfung. Die übrig gebliebenen Hipster sind verschwunden, die den Tag über herumstanden und Wein tranken, 50-jährig und in Bomberjacken, und auch die mit den Barbour-Jacken, die vor allem von Rendite reden, sind nicht mehr da.

Was bleibt, sind Gebäude, Lichter, Leere. Auf dem regennassen Asphalt spiegelt sich Berlin.

45

Freitag, 1.5.2020

Es zerrt an den Menschen; sie müssen sich, so scheint es, extrem zusammennehmen, sie haben es all die Wochen geschafft, und nun, dadie Maßnahmen gelockert werden, zeigen sich die Anspannungen umso mehr.

Die Spielplätze jedenfalls sind wieder offen, aber die Kinder kommen eher zögerlich, als könnten die Eltern es noch nicht ganz glauben, als würden sie dem Ganzen nicht trauen; aber die rot-weiß-gestreiften Bänder sind verschwunden, erst einmal.

Ob es je Sinn gemacht hat, die Spielplätze zu schließen; ob es nun Sinn macht, sie zu öffnen: Die Debatten fangen gerade erst an, und die Menschen sind schon zu müde, sie sind erschöpft, sie wollen nicht mehr reden, sie wollen nicht mehr zuhören, manche jedenfalls, deren Geduld am Ende ist.

Es sind die Leerstellen in der Wirklichkeit dieser Krise, die manche Leute nun mit dem füllen, was sie haben, Vermutungen, Verdächtigungen, Wut auf die Verhältnisse.

Und so laufen sie durch die Straßen mit den Cafés, wo der Cappuccino mit Hafermilch drei Euro und zwanzig Cent kostet, sie versammeln sich vor der Volksbühne, empfangen von der Polizei, eine Mischung aus spirituell Erleuchteten oder Verlorenen, da ist der Unterschied manchmal nicht zu groß, einsamen alten Männern und einsamen jungen Männern, eine Phalanx derjenigen, die wissen, dass es einen versteckten Plan gibt oder eine Verschwörung gegen sie.

Und die Verwirrung, die sie in sich tragen, entlädt sich an diesem Tag, sie versickert im Viertel, sie bleibt als Rückstand, als sie wieder verschwunden sind, in die anderen Teile der Stadt, ein Unbehagen, das auch manche von denen ergriffen hat, die andere oder sie selbst die Mitte nennen.

Was wird man später einmal über diese Tage, diese Wochen und Monate sagen, später, wenn man weiß, wie diese Sache ausgegangen ist?

Es waren nur wenige, die da demonstrierten, einige hundert vielleicht. Es gab Gewalt, habe ich später gelesen, Gewalt gegen Journalisten.

Ein strahlender, kalter, deprimierender 1. Mai war das. Die Straßen voller Polizei. Die Sinnlosigkeit, mit Händen zu greifen.

44

Donnerstag, 30.4.2020

Alle tragen jetzt Masken; alle tragen immer noch keine Masken. Beide Sätze sind wahr für Berlin; die Widersprüchlichkeit ist das Signum dieser Tage.

Es klaffen ganz einfach große Lücken in der Realität, und es gibt recht wenig Menschen, die sich die Mühe machen, diese Lücken zu schließen; leider ist es auch nicht so, dass sich viele in der Politik oder der politischen Kommunikation diese Mühe machen.

Da bleibt die Logik des Vollzugs; und so steigt das Unbehagen, eigentlich grundlos, denn auch die Vorläufigkeit des Wissens könnte man ja kommunizieren, wenn man nur kommunizieren wollte. Stattdessen wird die eigene Selbstüberforderung auf andere übertragen; das ist das Muster der Hierarchie-Abwälzung.

Und so sagt der oder die eine etwas, ohne wirkliche Wissensgrundlage, der oder die andere wiederholt das und gibt es weiter, und immer so fort, eine Kaskade des Ungefähren, Kadenzen der Unschärfe, verbunden mit dem Gestus des Zupackens und der Autorität.

Auch Journalismus funktioniert mittlerweile manchmal auf diese Art, relativ wirklichkeitsbefreit, eher aus dem eigenen Gefühl heraus, Projektionen von eigenen Ängsten oder Wünschen als gesellschaftliche Realität, sehr weit entfernt von Introspektion, Analyse oder tatsächlicher Deutung.

Verbunden mit dem individualistischen Ansatz, also dem Fehlen von übergreifenden systemischen Veränderungsgedanken, versickern solche Texte in einem Sumpf aus Selbstgefälligkeit, das Gegenteil von dem für die Demokratie so wichtigen Diskurs.

Das Juste Milieu driftet; es legt sich selbst bloß und gibt die Ränder frei.

Was mich an den großartigen Text „Berlin oder Juste Milieu“ von Carl Sternheim erinnert, der vor genau 100 Jahren erschien und die Behäbigkeit beschreibt, mit der sich diese Stadt und eine ganze Gesellschaft in der Gedankenlosigkeit eingerichtet hatte.

„Der Mensch, im gewaltigen unentrinnbaren Naturmechanismus gefesselt, ohne Rest eigener Aktion im Entscheidenden, betäubt sich innerhalb starrer Scharniere durch Fessellosigkeit, die ohne Beispiel ist“, schreibt Sternheim.

„Jäh sieht man Verwandtschaft zur Marionette. Holt er riesig aus, bleibt es gleichwohl ein Schlenkern, weil er schließlich ins gefügte Gelenk zurückbricht. Predigt, ruft er mit Worten an, ist es ein Lallen, weil letzter Begriff, ein Urteil vorher gesetzt war.“

Den Text durchzieht ein Lachen, das einem Erschrecken gleicht; es hallt aus 100 Jahren zu uns herüber.

43

Mittwoch, 29.4.2020

Die Sonne weckt immer noch das Misstrauen; das Wetter spielt eine Rolle in Pandemien, weil es das gesellschaftliche Verhalten mitbestimmt. So beschreibt das auch Camus in der „Pest“, wo der Wind, die Wärme, die Kälte einen stummen Hintergrund abgeben für das Drama, das sich im Vordergrund ereignet.

Wenn nun die Menschen also wieder mehr und mehr nach draußen gehen, zumindest in dem Teil der Stadt, in dem ich wohne; wenn sie sich auf Mauerbänke setzen und eine Flasche Wein dabei haben und reden und lachen; wenn sie sich in das Leben zurückfinden oder -fühlen, das sie aufgegeben hatten, für eine Weile — welches Verhältnis von Schuld und Misstrauen, von Projektion und Angst stellt sich dabei ein?

Mir scheint es, dass gerade nichts, was jemand tut oder sagt, unschuldig ist, weil der Druck so hoch ist, eine Antwort zu finden, wo es keine gibt, jedenfalls keine klare, einheitliche, aufhellende. Und in diesem Zustand wird individuelles Handeln das Prisma für unterschiedliche Projektionen.

Die Menschen wirken so, als würden sie das spüren. Es bleibt ein Raum um sie, der gefüllt ist mit Unsicherheit und Fragen. Darf ich das? Soll ich das? Es ist weniger Trotz zu spüren, als ein Zittern in der Zeit, ein Zaudern im Zusammenstehen. Eine Fremdheit hat sich eingestellt.

Und eigentlich ist das ein guter Zustand, diese Fremdheit, diese Frage danach, wer ich bin, in dieser Situation, in dieser Zeit. Das hat weniger mit der Frage nach Normalität zu tun, eher schon nach Norm und Namen, nach der Bedeutung also, die ich dem gebe, was ich tue, wer ich bin.

Aus diesem Zustand der Selbstentfremdung könnte etwas Neues entstehen. Wir müssen uns erst verlieren, um uns zu finden.

42

Dienstag, 28.4.2020

Die Normalität, so heißt es, kehrt zurück; und weil die Frage, was Normalität ist, immer schon mit bestimmten Grundannahmen über das Leben aufgeladen ist, sind die Antworten so unterschiedlich wie erhellend.

Gibt es also eine Normalität? Und wessen Normalität wäre das? Die Normalität des Müllmanns, der seit Wochen genau das macht, was er immer macht? Die Normalität der Restaurantbesitzerin, die seit Wochen nicht mehr schlafen kann? Die Normalität der Kindergärtner*innen, die bald wieder Kinder auf ihrem Schoß sitzen haben, ohne Maske, ohne Abstand? Die Normalität der Geflüchteten, der Illegalen, all derer, die eingesperrt sind und warten, in Moria und anderswo?

Die Rede von der Normalität ist so falsch, weil sie von einer verzerrten Vorstellung von Realität geprägt ist: Es gibt nicht die eine gesellschaftliche Realität; sie scheint aber für viele notwendig zu sein, vor allem die politisch Handelnden, um eine Basis für Entscheidungen, Aussagen, Wahrheitspropositionen zu haben.

Realität und Normalität also sind nicht relativ, sie sind aber zumindest relational, sie verhalten sich je individuell zu Leben, Biographie, Hoffnung der Einzelnen; die Konstruktion von Normalität ist ein Machtmittel, und in der langsamen Öffnung der Gesellschaft, der Geschäfte, der Schulen und Kindergärten, wird sich das wieder nicht zeigen, dieses Machtgefälle.

Was bedeutet das aber für Aussagen über die Gestalt dieser Gesellschaft? Manche verwenden gerade den Begriff des „new normal“, wobei nicht klar ist, ob das eher negativ oder positiv konnotiert ist, ob wir uns also auf die einschneidenden Maßnahmen eingestellt haben und sie akzeptieren und in unser Leben integrieren, oder ob wir das Veränderungspotenzial nutzen, das in dieser Krise steckt, und eine neue Normalität schaffen, die, wenn man das so sagen kann, besser ist als die alte.

Beides ist möglich; an manchen Tagen bin ich optimistisch, an manchen Tagen bin ich es weniger.

Das ist gerade meine Normalität.

41

Montag, 27.4.2020

Die Verwirrungen gehen weiter. Es gibt ein Milieu, so muss ich das leider nennen, das sich in einem seltsamen Aggressionszustand befindet, ohne dass ich genau verstehe, woher die Aggression kommt.

Wenn etwa jemand, den ich eigentlich immer für eher freundlich gehalten habe, Fotos von Menschen auf Twitter veröffentlicht, die sich bei Sonnenschein in einem Park versammeln, und darunter seine Wut und Abscheu dokumentiert, dann ist das vielleicht Triebabfuhr, aber wohl eher kein wirklich konstruktiver Diskussionsbeitrag zu Corona.

Was sich bei all dem oft zeigt, und es sind ja Menschen aus dem links-liberalen Teil der Gesellschaft, das ist ein als Solidarität kaschierter Narzissmus, denn tatsächlich, so scheint es mir, geht es diesen Menschen oft vor allem um ihre eigene Sicht, ihre eigene Angst, ihre eigene Geschichte.

Das ist einerseits verständlich und nachvollziehbar; andererseits sollten sie dann vielleicht nicht so lauthals andere kritisieren, vor allem nicht dafür, dass sie sich Sorgen machen darum, wie es in ihrem Leben oder Beruf weitergehen soll.

Wolfgang Schäuble hat in einem Interview darauf hingewiesen, dass dem Schutz des Lebens nicht alles andere untergeordnet werden sollte, er sprach davon, dass das Grundgesetz die Würde des Menschen schütze, nicht das Leben an sich; eine Diskussion, die an die Frage der öffentlichen Gesundheit anknüpft, wie sie in anderen Ländern geführt wird, aber hier offensichtlich sehr viel Widerstand oder wenigstens Reizbarkeit erzeugt.

Ist diese Haltung der Abwehr des Nachdenkens über Alternativen zum gegenwärtigen Lockdown also nur eine andere Seite des Provinzialismus, der in diesem Land seit Jahren so sehr zunimmt? Interessant finde ich dabei auch, dass es gerade eigentlich politisch sehr wache Menschen, nach meinem Empfinden jedenfalls bisher, sind, die nun ziemlich unpolitisch denkend sich die Diskussion über die Rolle der Virologen in der Gesellschaft verbitten.

Wie gesagt, ich verstehe es nicht genau, aber vielleicht hat es auch, wie vieles, was Corona zutage bringt, mit Entwicklungen der vergangenen Jahre zu tun; oder sogar Dingen, die noch weiter zurückreichen, Prägungen einer Politik der Mitte, die letztlich eine Entpolitisierung war, weshalb den Kindern dieser Zeit nun auch der politische Instinkt fehlt, die Sensibilität zu sehen, was der Stoff der Gesellschaft ist, im Größeren, nicht nur auf sich selbst bezogen und ihre Sehnsüchte, Lebensgewohnheiten und Ängste.

Heute war auch Tag eins der Maskenpflicht, in öffentlichen Verkehrsmitteln und auch in Läden. Warum erst jetzt? Es ist vieles inkonsistent an den Maßnahmen, das muss es auch sein, weil sie Experimente sind.

Es wäre gut, diesen Charakter der Vorläufigkeit zu erhalten, wenigstens in der Sprache, im Denken, denn das ist es, was uns zu Menschen macht.

40

Sonntag, 26.4.2020

Tag vierzig dieses Tagebuchs, damit wäre eigentlich die Quarantäne vorbei. Sie dauerte, wie das Wort sagt, 40 Tage. Die Praxis kam im Venedig des späten 14. Jahrhunderts auf, die Dauer war ohne wissenschaftliche Grundlage gewählt.

Die Zahl 40 geht dabei auf die Bibel zurück. In Levitikus 12 heißt es: „Der HERR sprach zu Mose: Sag zu den Israeliten: Wenn eine Frau empfängt und einen Knaben gebiert, ist sie sieben Tage unrein, wie sie in der Zeit ihrer Regel unrein ist. Am achten Tag soll man die Vorhaut des Kindes beschneiden und dreiunddreißig Tage soll die Frau wegen des vergossenen Blutes im Zustand der Reinigung bleiben. Sie darf nichts Geweihtes berühren und nicht zum Heiligtum kommen, bis die Tage ihres Reinigungszustands vorüber sind.“

Interessanterweise dauerte die Zeit der Unreinheit eine Woche länger, wenn die Frau eine Tochter geboren hatte.

Das hat nichts mit dem Text zu tun, den ich heute gelesen habe und der mich auf eigenartige Weise berührt hat, die Geschichte des Restaurants Prune in New York und dessen Ende, erzählt von der Besitzerin selbst, in einem schönen, traurigen, klaren Text für das Magazin der „New York Times“; es ist eine Szene vom Ende einer Welt.

Das Prune war ein sehr kleines und enges Lokal im East Village, fast unten an der Houston Street. Ich war das erste Mal dort mit meinem Freund Hilton, der immer sehr genau weiß, wo man gut isst. Ich war dann noch öfter dort, wenn ich in der Stadt war, die Stadt schien nah, je niedriger die Flugpreise wurden, und die Selbstverständlichkeit, mit der viele und auch ich einen kurzen Trip nach New York machten, scheint heute in vielerlei Hinsicht vorbei oder fragwürdig.

Vor Corona war es das Klima, die Verbindung dieser beiden Phänomene finde ich immer noch unterreflektiert im öffentlichen Diskurs, und die Verdrängung der Klimafrage im Lebensstil der 1990er- und 2000er-Jahre, bis fast heute, ist ein Schlüssel für diese Zeit und das Scheitern meiner Generation, das Scheitern, Verantwortung zu übernehmen und an Alternativen zu arbeiten.

Und dennoch, denn das wollte ich ja sagen, und dennoch ist die Erinnerung an das Prune eben vor allem schön, das Lokal scheint so nah, die Zeit damals scheint so, als könnte ich sie jederzeit wieder beginnen, als könnte ich am frühen Abend ein Glas Wein an der Bar trinken und auf einen freien Tisch warten und dann ein paar fried oysters bestellen und einen treviso salad und dazu einen Leo Stehen Jurassic Chenin Blanc.

„My Restaurant Was My Life For 20 Years”, so lautet die Überschrift dieses Textes. “Does the World Need It Anymore?”

Diese Frage, genau diese Frage stellen sich viele gerade. Braucht uns diese Welt noch? Oder anders: Was wäre eine Welt, in der wir gebraucht werden?

39

Samstag, 25.4.2020

Außerhalb der großen Stadt wirkt es, als sei ein Komet eingeschlagen; die Dörfer liegen leer und brach in der kühlen Frühlingssonne; der Wind weht durch die Straßen, als sei das Leben weitergezogen.

In seinem Roman „Die Pest“ schreibt Albert Camus, dass die Menschen in der isolierten Stadt Oran, weil sie nicht dauernd an den Tod denken konnten, schließlich an gar nichts mehr dachten; diese Verbindung aus Überdruck und Unterdruck spüre ich auch gerade.

Camus schreibt weiter: Man kann nicht gleichzeitig heilen und wissen. Lasst uns also heilen, so schnell wir können, schreibt er. Das ist das Dringendste.

Heilen und Wissen, Heilen und Nicht-Wissen, Nicht-Heilen und Wissen, Nicht-Heilen und Nicht-Wissen — irgendwo zwischen diesen vier Zuständen befinden wir uns gerade, als Gesellschaft, als Einzelne, und das Verhältnis zwischen Sicherheit und Solidarität, zwischen Gesundheit und Offenheit, zwischen Angst und Empathie justiert sich dabei beständig neu.

Camus beschreibt weiter, wie sich die Menschen immer mehr verändern, je länger die Pandemie dauert und der Lockdown, manchmal sprunghaft, manchmal schleichend, wie sie mehr zu denen werden, die sie sind oder die sie sein wollen oder die sie nicht sein wollen.

Es sind Häutungen, wenn die Verhältnisse wegfallen oder sich verändern, der Alltag, die Gewohnheiten, die Routine, die Zwänge, die uns zu denen machten, die wir waren.

Und so liegt in dieser Krise, wie in allen Krisen, ein großer Moment der Wahrheit, die wiederum, wie bei Wahrheiten oft der Fall, erschreckend sein kann; oder erhellend, was manchmal das Gleiche ist.

38

Freitag, 24.4.2020

Es ist Freitag, und im Internet demonstriert sie wieder, die Jugend, die vor ein paar Monaten noch durch die Straßen gezogen ist und gerufen hat: „Wir sind hier, wir sind laut, weil ihr uns die Zukunft klaut.“

Gemeint waren die Älteren, also alle, die in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten verantwortlich dafür waren, dass Energieverbrauch, Mobilität und Konsum auf eine Art und Weise praktiziert wurden, die mehr und mehr die Lebensgrundlagen des Menschen auf diesem Planeten gefährdeten.

Die Jugend, das waren damals die Ankläger, die Älteren, das waren die Angeklagten — und es ist eine der überraschenden Wendungen der Corona-Krise, dass sich diese Dynamik mit einem Mal umgedreht hat: Nun sind es die Älteren, die geschützt werden müssen, und es kann sein, dass der Roll-Back, der den wirtschaftlichen Wiederaufbau nach der Krise begleiten könnte, zu Lasten der jungen Generation geht, wenn er nicht nachhaltig und verantwortungsvoll und klimaneutral unternommen wird.

Die Generationendynamik ist also durch diese Krise noch einmal durcheinandergeraten, und auch das ist ein Teil der Verwirrung bis Apathie dieser Tage, der Visions- und Alternativlosigkeit, die das Agieren und die Sprache in vielem prägt, im Alltag, den Medien, der Politik; da sind sich alle ähnlich gerade.

Wie also soll dieses Verhältnis funktionieren, wie soll es justiert werden? In der Klimakrise wurde deutlich, dass es eine chrono-politische Wende geben könnte oder sollte, also die Einsicht, dass möglicherweise die Interessen der heutigen Jugend oder der kommenden, noch ungeborenen Generationen wichtiger sein könnten als die Interessen der heute Lebenden.

Das sind komplizierte und wichtige Diskussionen, bei denen es um ganz praktische Fragen geht wie das Wahlalter — warum also etwa Sechs-Jährige nicht auch wählen dürfen, wenn die heutigen Entscheidungen sie doch umso länger betreffen — und eher abstrakte ethische Probleme wie das der Zukunftsgerechtigkeit.

Wie also findet man konkrete und moralische Antworten auf die Doppelherausforderung Klimakrise und Corona, die die Interessen der Lebenden wie der Kommenden berücksichtigt; Interessen sehr weit gefasst als Summe aller Möglichkeiten und Ansprüche?

Die Fragen und Forderungen der Jugend jedenfalls lassen sich nicht dadurch beantworten, dass man mit Rettungspaketen eine Welt am Leben erhält, Energie, Mobilität, Konsum, die sich selbst zerstört.

37

Donnerstag, 23.4.2020

Verstreut sitzen die Parlamentarier im Bundestag, die Reihen gelichtet, was der Optik ihre Dringlichkeit nimmt, obwohl sie dadurch eigentlich noch verstärkt wird: Political Distancing.

Angela Merkel spricht, und später wird ein Bundestagsabgeordneter, mit dem ich mich treffe, sagen, dass die Pandemie noch lange dauern wird; er mochte, sagt er, obwohl er einer durchaus anderen Partei angehört, ihre Ansprache, wenigstens die ersten zehn Minuten.

In diesen ersten Minuten fällt dann auch der Satz, der oft als Überschrift für die Berichte über Merkels Regierungserklärung dient: „Diese Pandemie ist eine demokratische Zumutung“, sagt sie, „denn sie schränkt genau das ein, was unsere existenziellen Rechte und Bedürfnisse sind.“

Zwei Gedanken dazu: Ich finde, dass es eher eine demokratische Herausforderung ist, zur demokratischen Zumutung kann man die Pandemie höchstens machen; und wenn die Kanzlerin das meinte, dann hätte sie es ja auch sagen können.

Sie wollte aber, glaube ich, durch das Wort Zumutung eine Kritik aufnehmen, die sie kommen sieht, je länger die Pandemie noch dauert; aber man erklärt nichts, indem man einfach das Vokabular der Gegenseite übernimmt.

Und zweitens: Es ist nicht die Pandemie, die unsere Rechte und Bedürfnisse einschränkt, sie ist kein Akteur, sie ist erst einmal Natur, etwas, auf das man reagieren und das man gestalten kann; es sind schon noch die Menschen, die Rechte einschränken und Beschlüsse treffen.

So eine Sprache also, und das ist meine Kritik, so ein Denken fördert nicht das Vertrauen in das Agieren der Mächtigen in einem Möglichkeitsraum; und diesen Raum gibt es immer: Es gibt nicht nur den einen Weg, der richtig ist oder falsch, es gibt immer Alternativen. Die können richtig oder falsch sein; aber es gibt sie.

Es war nur ein Satz in einer Regierungserklärung, in der Merkel sonst die Dinge zum Teil klar und richtig benannte, ihrer europapolitischen Verantwortung mal wieder nicht gerecht wurde und auch sonst systemische Fragen im Kleinen zerfasern ließ; vor allem fehlte ihr, wie auch, eine Sprache, die von Hoffnung durchdrungen war.

Sie widersprach sogar direkt dem „Prinzip Hoffnung“, von dem Ernst Bloch schreibt, ein Buch, das ursprünglich einmal „The Dreams of a Better Life“ heißen sollte; auch hier ist Merkels Sprache und Denken unpräzise, denn sie meinte ja nicht das Prinzip Hoffnung, sondern einfach Hoffnung als Ersatz für konkrete Maßnahmen.

Davon redet aber auch niemand, jedenfalls sehe ich das nicht; worum es geht, ist aber durchaus im Sinne von Ernst Bloch eine sehr konkrete Überlegung, wie eine Welt aussehen könnte, die der unseren ähnelt, aber anders ist, besser, auch mit dem Virus, der nicht alles stoppen muss, was bislang galt, der womöglich sogar genutzt werden kann, um Veränderungen, im durchaus utopischen Sinn, zu beschleunigen.

Aber von diesem Denken sind wir derzeit sehr weit entfernt; eine Zukunft, die im Zeitalter der kapitalistischen Alternativlosigkeit als abgeschafft galt, lässt sich nicht so leicht wieder erschaffen.

36

Mittwoch, 22.4.2020

Eine der bleibenden Erinnerungen an diese Zeit, das vergangene Jahrzehnt, wird die schlingernde Beziehung von Teilen des linken oder linksliberalen Milieus zu Angela Merkel sein. Hier spiegelt sich vieles der verlorengegangenen politischen Zuordnungen, eine gewisse Ratlosigkeit auch der Linken und eine Schwierigkeit, das Gelungene vom Grundsätzlichen zu trennen.

In diesen Tagen ist das wieder einmal zu beobachten. Die Haltung Merkels in der Corona-Krise wird gelobt, sie sei eine Wissenschaftlerin, heißt es, die weiß, wovon sie redet, rational, klar, ohne Umschweife; und die, die das, was Merkel sagt und tut, als paternalistisch empfinden, sind am lautesten auf der Rechten. Aber eben nicht nur.

Aus anderen Gründen und mit anderen Argumenten und Zielen gibt es solches Denken auch bei Menschen mit einer macht-skeptischen Ausprägung, und es ist ein weiteres Bestandteil dieser Krise, dass diese verschiedenen Formen der Kritik an den gegenwärtigen Maßnahmen oft nicht klar und differenziert gesehen werden.

Was wiederum bei dem umfassenden Merkel-Lob ausgeblendet wird, auf Seiten der Linken, sind die Widersprüche ihrer Haltung — etwa ihre destruktive Politik in Bezug auf Europa, die ein schweres Versäumnis ihrer Kanzlerschaft bleiben wird, von der rapiden Entsolidarisierung in der Euro-Krise bis zu, in ganz ähnlichen Worten und Argumenten, der Neid-Debatte, die durch Corona auf die EU zukommt.

Dieses Zitat etwa hat heute einen Freund erst zu Tränen und dann in Wut gebracht: „Wenn etwa Künstler mit Steuergeld gerettet werden sollen“, zitiert die „Frankfurter Allgemeine“ Merkel, „werde man dies in Spanien und Italien vermerken und darauf verweisen, dass Deutschland offensichtlich über genug Geld verfüge.“

Fast jedes Wort in diesem Zitat kann man zur Grundlage einer Fundamentalkritik dieser Art von Denken und Rhetorik nehmen:

Schon die Verbindung von „Künstler“ und „Steuergeld“ — als ob die einen liederlich sind, das andere seriös ist; als ob man um Steuergeld, das von den Bürger*innen kommt, als Bürger*in, ob Künstler*in oder nicht, bitten oder betteln müsste, eine Art Gnadengabe; als ob Künstler*innen eben nicht „systemrelevant“ seien, wie es jetzt immer heißt.

Was sich hier spiegelt, und was die ganze Diskussion um die Corona-Gesellschaft durchzieht, ist eine Sicht auf das Leben, die die Schönheit, den Zweifel, die Musik, die Farben, die Worte, den Ton der Kultur ausblendet, also all das, was das Leben mit Wärme, Würde, Weite versieht; eine Reduktion auf einen Begriff von Leben, das nackter ist und ärmer und übrigens auch nicht Grundlage des Menschenbildes des Grundgesetzes.

Und dann, im gleichen Satz, die Verbindung mit der Europa-Politik, die auf Neid und Missgunst, auf Verdacht und Konkurrenz beruht, wie sonst wäre es zu erklären, dass man gegenüber Partnern etwas verschleiern und verbergen muss: Es ist ein Europa der Egoisten, das so kreiert wird, durch solche Worte, durch solches Denken.

Spanien und Italien also sollen sich bloß nicht einfallen lassen, dass Deutschland „über genug Geld“ verfügt — über dieses Wort genug allein könnte man lange reden, weil sich so viele Wertefragen daran anschließen, was genug ist, für das gute Leben, genug aus Haushaltssicht, genug für die, die es brauchen.

Merkel schafft es in einem einzigen Zitat die ganze Fülle ihres Desinteresses an Fragen der sprachlichen Kommunikation zu offenbaren.

So funktioniert Merkels Sprache, nicht nur in diesen Tagen, und es überrascht mich, mit wie viel Bereitwilligkeit diese spröden Worte voller Widersprüchlichkeit empfangen werden. Vieles ist im Diskurs der vergangenen Jahre verloren gegangen, unter anderem eine Sprachkritik der Macht.

Und so kann ich die Wut meines Freundes verstehen, der lange keine Konzerte mehr spielen wird. Die gleichen Leute, das ihn sonst dafür feiern, wenn er sich für Geflüchtete einsetzt oder gegen Rassismus, zeigt sich nun narzisstisch und empathie-frei in ihrer Sorge um andere, Alte, Gefährdete — die dabei andere, und das sehen sie nicht, verletzt.

Ganz genau weiß ich immer noch nicht, warum das so ist, warum sich so viele gerade so verhalten, wie sie es tun. Aber es wird ja noch lange dauern, dieses gemeinsame Experiment, vielleicht wird es mit der Zeit etwas klarer, wohin das alles führt.

35

Dienstag, 21.4.2020

Die Elektro-Roller sind zurück. Sie lehnen dort, wo seit Corona ein Vakuum war, verlassene, freie, friedvolle Bürgersteige; ein Vakuum, erst entstanden durch die Flut dieser Roller, die niemand kommen sah und niemand vermisste, als es sie noch nicht gab, aber als sie weg waren, war das ein weiteres Zeichen einer stillgelegten Gesellschaft.

Jetzt sind sie wieder da; sie stehen dort, noch etwas scheu. Sie sind Boten des Kommenden, der langsamen Rückkehr, ein wenig wie Vögel auf dem Meer, die man auch sieht, lange bevor das Land erreicht ist.

Die Stadt, leer geräumt von Menschen, wird damit zu einer Bühne von großer Klarheit. Die andere Erscheinung: Cluster von Schwarzgekleideten, in Gruppen zu sechs bis acht stehen sie dort im Kreis und warten, im Abendlicht vor dem Bode-Museum. Polizist*innen, die wirken wie Surfer*innen, die jenseits der Brandung vor Paso Dobles auf die perfekte Welle warten.

Paso Dobles gibt es natürlich nicht, glaube ich jedenfalls. Aber einmal nicht googlen, das fühlt sich schon fast wie eine Erleichterung an in diesen engen, engen Tagen.

Wie eng sie bleiben werden, darüber herrscht nun Streit. Die einen sind entsetzt über Meldungen von Grill-Partys, Corona-Partys, als ob jede Überschreitung schon die Rückkehr des Virus bedeuten würde, das, ich weiß, noch lange, lange nicht weg sein wird.

Aber angesichts der leeren Straßen, der Disziplin, mit der sich die Menschen an die Maßnahmen halten, wirken diese kleinen Transgressionen nicht nur in gewisser Weise normal, so holen sich die Menschen eben langsam etwas von ihrem Leben wieder; es hat auch etwas Unangenehmes, wenn darüber mit der Aufgeregtheit der Pandemie-Experten gesprochen wird, zu denen nun alle geworden sind.

Eigentlich, denke ich, müsste die Stille jeden Tag Schlagzeile sein. Diese Ruhe. Werden wir uns vor dem Lärm erschrecken, wenn er wieder da ist? Werden wir uns an die Ruhe erinnern?

Und durch all das zieht in diesen Tagen der Wind, der weht, als sei Berlin in der Bretagne und die Steppe hinter den Grenzen der Stadt der Ozean. Es ist nicht Frühling; es ist warmer Winter, das Messer im Anschlag.

34

Montag, 20.4.2020

Teil der Verwirrung, jedenfalls derer, die arbeiten und sich jeden Tag aufs Neue fragen, wohin die Zeit verschwunden ist, bei all den Videokonferenzen, ist diese Daueranwesenheit bei Dauerabwesenheit.

Menschen sind dafür nicht gemacht, so scheint es; alleine vor einem Computer, in ständiger Kommunikation, Termin an Termin, Meeting an Meeting, Konversation an Konversation, ohne Übergang, ein ständiges, eckiges Gleiten. Man könnte auch sagen, das Call-Center erreicht die Mitte.

Auf jeden Fall schwindet die Arbeitskraft, es schwindet die Aufmerksamkeit, es schwindet die Genauigkeit, es schwindet so vieles gerade, was fest und verlässlich zu sein schien. Die Verführung der Technologie ist, auch in diesem Fall, dass alles möglich ist und es doch nicht ist. Die Suggestion der Apparate ist der Vollzug, die Erledigung, das Ergebnis.

Nicht der Prozess. Aneinandergereiht geben all die Zoom-Calls und Teams-Meetings und Skype-Konversationen vielleicht so etwas wie eine Kette von Ereignissen, in ihrer Intensität unterschiedlich; aber zusammengenommen bleiben sie doch Stückwerk, Einzelheiten, kein Fluss in der Veränderung. Es wirkt, als würde das Bestehende hier eher bestätigt.

Und so zerfallen die Tage auch von innen heraus, weil sich die Abläufe auffressen, ineinander verhaken, weil das Hineinfallen in verschiedenartige Welten, Diskurse, Interieurs für Menschen schwerer ist als für Kameras. Ton an. Round of introduction. Es ist ein optischer Ringelreih, der am Ende immer etwas von einem Kindergeburtstag hat.

Natürlich entstehen auch Möglichkeiten, Zusammenhänge, und richtig genutzt ist die Technologie eine machtvolle Kraft, auch zum Besseren. Aber im Moment, in dieser ziel- und zügellosen Ballung, in diesem Sich-Ergeben in die Abfolge von Stimmen, Aufträgen, Abläufen, verschwindet tatsächlich ein Teil dieser Welt in dem Gerede mit den anderen.

Wer steht schon auf und geht hinaus? Es sind Anständigkeits-Exzesse. Es ist ein Bear Market für Grenzüberschreitungen. Es herrscht endlicher Spaß.

33

Sonntag, 19.4.2020

Wenn sich die Konturen einer zukünftigen Gesellschaft gerade herausprägen, dann kann es leider sein, dass die freie Presse, der Journalismus, die aufgeklärte Öffentlichkeit dabei keine zentrale Rolle mehr spielt.

Ich bin ja ambivalent, was die Form und vor allem die Performance mancher etablierte Medien angeht, ich sehe da Verzerrung und Voreingenommenheit, speziell wenn es um die Politik der Austerität geht, um Europa, um deutsche Interessen, um die Geflüchteten, um die Toten im Mittelmeer, um die Klimakrise, um die wirtschaftliche und soziale Ungerechtigkeit, um so manches eben.

Und ich bin auch sehr interessiert daran herauszufinden, wie sich aus der Krise der bestehenden Institutionen neue Möglichkeiten ergeben. Ich bin, aus eigener Erfahrung in vielen Medienhäusern, eher skeptisch, dass sich diese Institutionen, wie auch andere Institutionen, wirklich so sehr verändern oder verändern lassen, dass sie den Notwendigkeiten und Prämissen dieser neuen Zeit gehorchen.

Aber auch diese neuen Formen von Öffentlichkeit müssen erst einmal entstehen, müssen eine Wirkmacht erlangen, eine Qualität in der Breite, nicht nur in der Tiefe, das ist bereits vorhanden. Und es könnte sein, dass die Zeit dafür nicht ausreicht, wenn sich gleichzeitig einerseits die etablierte demokratische Öffentlichkeit massiv unter Druck sieht, Kurzarbeit fast überall, und andererseits die anti-demokratischen oder autoritären Bewegungen zunehmen.

Es ist eine fatale Situation, die durch die wirtschaftliche Krise, die Corona längst ist, noch verstärkt wird. „It’s a bloodbath“, sagte eine französische Freundin, die in England lebt, in Deutschland herrscht Kurzarbeit bei Zeitungen und Zeitschriften, ein Gefühl von Endzeit, genau in dem Moment, wo die Bedeutung von Information auf dringliche Weise deutlich wird.

Aber das ist nur einer von gefühlt 1000 Widersprüchen in dieser Situation, was den Schwindel dieser Tage nur antreibt. Dass diese Krise, die an die gesellschaftliche Substanz geht, eine wesentliche Säule dieser Demokratie nachhaltig schädigen könnte, zeigt, wie sehr Corona diese Welt mit einem kräftigen Schubs in Richtung Mitte des Jahrhunderts vorantreibt; oder eben zurück, je nachdem, wie man es sieht, je nachdem, was genau geschieht.

Der Keim des Neuen ist da; auch wenn man es sich manchmal sehr laut selbst vorsagen muss. Als sei man selbst taub geworden in diesen Tagen, taub für die eigene Welt, taub für die eigene Stimme. Taube Tage.

32

Samstag, 18.4.2020

Die Sonne, wieder einmal die Sonne, die Wärme spendet und die Kälte nicht nimmt, in diesen Tagen; sie dringt nicht durch und dörrt doch aus, das Land, wo der Boden vertrocknet, in der Stadt, wo die Menschen, so fühlt es sich an, ähnliches erleben.

Die Autobahn ist leer, wo sonst die Berliner zu den Seen drängen, in die Wälder, aber sie verbieten es sich, obwohl es eigentlich gar nicht verboten ist. Familien könnten doch rausfahren. Aber sie tun es nicht. Es schwankt immer noch zwischen Vorsicht und Vernunft, dieses Verhalten.

Die Natur jedenfalls, aus der die Gefahr kommt, wird damit auch zur Metapher, obwohl Metaphern immer etwas sehr Trügerisches sind. Es ist unklar, wozu sie wirklich dienen, denn die Dinge, die sie ausdrücken sollen, lassen sich meistens auch anders, klarer sagen.

Was ist es dann? Diese Verbindung durch Sprache zu einer anderen Realität. Literatur, sagen manche dazu, Poesie. Was bedeutet es in dieser Krise, dieser Situation? Schreiben gerade viele an ihren Romanen, Erzählungen? Gibt es einen Schwung Corona-Romane? Oder gerade nicht? Weil diese Situation auch eine Art Verkrümmung im Inneren ist?

Verbindend scheint, für manche, mit denen ich spreche, jedenfalls der Mangel an Zeit, das Gefühl des Gehetztseins, ohne eigentlich zu wissen, von wem und wovon. Eine innere Unruhe, die sich mit der äußeren Bedrohung trifft. Aber auch ganz real ein Überhandnehmen der digitalen Kommunikation, in ihren Möglichkeiten wie in ihren Limitationen.

Diese Dürre also, die sich für das Land ankündigt, wo die Felder schon staubig sind, wenn sie nicht vom Raps bewachsen sind, in seiner gelben Heiterkeit vollkommen aus der Zeit gefallen, diese Dürre, die für immer mit diesem Corona-Frühjahr verbunden sein wird und eine Schattengeschichte, eine Doppelbelichtung dieser Krise ist, Corona und Klima, das doppelte Bedrohungsszenario, doppelte Transformationsnotwendigkeit.

Am Abend machen wir ein Feuer; es lodert weit in den hellen Himmel über Brandenburg.

31

Freitag, 17.4.2020

Der Fuchs.

Von der Kleinen Hamburger Straße kommend, verharrt er kurz zwischen zwei Autos, schleicht dann beim veganen Restaurant Freia, wo sie abfallfrei kochen, ums Eck und setzt seinen Weg selbstbewusst scheu die Torstraße entlang fort.

In der Einsamkeit des Augenblicks ist seine Präsenz beunruhigend, weil sie die Fremdheit noch steigert und der Evidenz ihren Auftritt ermöglicht: Es gibt Leben, nach uns.

Das war immer klar, das ist die Prämisse des Anthropozäns und auch vieler Diskussionen über die Erwärmung der Erde durch den Menschen — der nicht den Planeten zerstört, sondern, neben der massenhaften Ausrottung von Spezies, vor allem seine eigene Lebensgrundlage.

Der Planet wird weiterbestehen, viele Milliarden Jahre noch, die Mikroben, die Ameisen, die Füchse wohl auch; und sicher die Viren. Für den Menschen ist diese Pandemie ein Angriff der Zukunft auf die übrige Zeit, weil sie das Ende der Spezies in den Alltag einführt.

In Paris laufen Hirsche durch die Straßen, ich habe ein Foto davon gesehen; in Venedig schwimmen Haie durch die Kanäle, dieses Foto wiederum sah nicht unbedingt echt aus. Aber wer weiß, es könnte sein, und schon die Möglichkeit ist etwas, das die Gedanken bewegt.

Wie wird sie also sein, die Zeit danach? Die Zeit nach dem Virus, wenn es ein „nach dem Virus“ gibt? Und die Zeit nach uns?

So viel Dunkelheit ist gerade. Auch.

Wer führt Buch über den Verlust? Wohin streben die Gedanken, wenn sie keinen Ausweg haben? Was geschieht, wenn nichts geschieht?

30

Donnerstag, 16.4.2020

Dauer, Müdigkeit, Lethargie, Vernunft als Apathie. Was geschieht eigentlich hinter den erleuchteten Fenstern? Und wie klingt Unglück, wenn alles still ist?

Anders gesagt, es herrscht radikale Ruhe, während das Knarzen der Zukunft deutlich zu vernehmen ist. Wenn es so lange dauert, bis alles wieder ein wenig in Gang kommt, werden die Wunden bleiben; und die, die heute so ruhig sind, werden sich diese Ruhe nicht mehr leisten können.

Die Stadt überspannt immer noch ein leuchtend blauer Himmel, jeden Tag aufs Neue, auch hier gleitet eins ins andere. Dass der Regen fehlt, wird schon gar nicht mehr wichtig, weil es eh seltsam entrückt erscheint, dass so etwas wie Jahreszeiten, der Gang der Dinge, die Logik der Natur ihre Geltung haben.

Wenn der Stillstand zum umfassenden Gefühl wird, bleibt für die Zukunft kein Platz. Das ist die politische Gefahr dieses Augenblicks. Es ist unklar, wie wir auf diese Wochen und Monate zurückblicken werden, in einem Jahr, in fünf Jahren, in zehn. Dann werden wir wissen, was aus der Ruhe geworden ist.

Zurzeit bedeutet die Abwesenheit von Aktionen, Aktivitäten, die Verlässlichkeit der Maßnahmen, dass die Exekutive ihren Moment hat; die Regierung gewinnt allein dadurch, dass sie an der Macht ist. Selbst ein Versagen, wie im Fall von Trump, bedeutet nicht, dass diese Macht schwindet.

Es findet sich immer ein Schuldiger, und seien es die Chinesen, die nun im populistischen Furor wegen Reparationen angegangen werden, ausgerechnet von einem deutschen Chef-Redakteur. Man kann sich manche Sachen gar nicht ausdenken, so niederschmetternd sind sie in ihrer bedeutungsvollen Nichtigkeit.

Auch dieser Tag endet in leeren Straßen, alles gedimmt, eine Kühle legt sich über die Stadt; es ist noch nicht Sommer und noch kaum Frühling.

29

Mittwoch, 15.4.2020

Der Tag der Verkündung: 4. Mai.

Ein Datum also als Ersatz für vieles; die Regelungen im Speziellen bleiben unübersichtlich. Wann fängt die Schule wie wo an? Kita geschlossen bis in den Sommer. Großveranstaltungen verboten bis mindestens 1. September.

Das trifft die Kultur. Das trifft einen wesentlichen Teil dessen, was wir sind oder waren. Es ist nicht mal ironisch, dass sich die Biologie über die Kultur erhebt, weil es stärker ist gerade, das Leben und nicht was für ein Leben.

Kultur ist die Frage, wer wir sind, in all dem, Schmerz, Schönheit, Liebe, Hoffnung, Einsamkeit, Niederlage, Leiden. Es gibt, glaube ich, keine Kultur des Sterbens, die für den aktuellen Moment passt.

„Die Bilder des Sterbens sind furchteinflößend, anonymisiert, industriell, es ist eine Maschine, die funktioniert oder auch nicht.“ Das ist ein Satz, den ich heute in der Zeitung geschrieben habe.

Und weiter: „Diese Bilder wirken, direkt, sie wirken politisch, sie schaffen eine gesellschaftliche Realität. Für mich tat sich dabei, je länger diese Krise dauerte, ein Widerspruch auf: Man kann sagen, glaube ich, dass manche der Reaktionen auf das Virus damit zu tun haben, dass diese Frage des Todes auf eine Art und Weise geklärt wird, geklärt werden soll, womöglich in vielen Fällen notwendigerweise, die das Leben in der Fülle seiner Facetten außer Acht lässt.“

Was wäre das für eine Kultur des Sterbens? Sie müsste erst einmal ein Bild des Lebens haben. Und je mehr vom Leben an sich die Rede ist, das ist die seltsame Dynamik, desto weniger klar ist dieses Bild des Lebens in seiner Fülle und Substanz.

Charles Eisenstein nennt das, was wir gerade erleben, einen „Krieg gegen den Tod“. Soweit würde ich nicht gehen. Aber in der geschichtlichen Perspektive hat er, glaube ich, recht. „Ich habe gesehen, wie die Fragen von Sicherheit, Gesundheit und Risikovermeidung in der Gesellschaft immer wichtiger wurden“, schreibt er.

Vor allem die Kindheit, Abenteuer, Freiheit, Risiko, meint er, würde von diesem Sicherheits-Dogma überwölbt. Die Konsequenz ist, dass Schmerzen, Leid, letztlich Freiheit und Tod einer Art Verdrängungsprozess ausgesetzt waren und sind.

Eisenstein nun zeigte mir eine mögliche Art, über diese Krise, diese Zeit nachzudenken: Seine Grundannahme ist, dass diese Gesellschaft durch den technischen Fortschritt ein Bild des menschlichen Lebens geschaffen, das allzu leicht auf das Biologische reduziert wird.

Es ist nicht das „nackte Leben“, wie es der Philosoph Giorgio Agamben genannt hat — es ist vielmehr das gerettete Leben, also die Vorstellung davon, dass Rettung an sich mit allen Konsequenzen richtig ist.

Und hier, glaube ich, fängt das Problematische in der gegenwärtigen Situation an: der Automatismus der Maßnahmen, die möglich sind, und deshalb durchgeführt werden, nun als gesellschaftliche Grundannahme und Grundlage für konkrete politisches Handeln.

Ich glaube, dass in dieser Krise vieles von dem deutlich wird, was wir als Gesellschaft in der Vergangenheit verpasst haben und was falsch gelaufen ist, ökonomisch, ökologisch, infrastrukturell, sozial, an Wertschätzung und Wertschöpfung.

Aber nicht nur das: Wir haben etwa auch zu wenig besprochen, was die Prämissen des Todes sein sollten. Wie wollen wir sterben?

Das Sterben ist eine Geschichte vom Leben. Und umgekehrt. Das heißt nicht, dass eine Gesellschaft nicht alles unternehmen sollte, was medizinisch möglich ist. Es heißt aber schon, dass man das zusammen mit Würde, Autonomie und der Suche nach dem guten Tod diskutiert.

Und dann kommt man am Ende möglicherweise zu einer Antwort bei der Frage nach der richtigen Strategie in dieser Krise, die eine virologische genauso wie eine ethische ist.

28

Dienstag, 14.4.2020

Es ist surreal, Ursache und Wirkung der Corona-Krise in ein Verhältnis zu setzen, auch weil die Zahlen abstrakt sind und jeder Tod so konkret.

Die Krankheit ist gleichzeitig überall und sehr weit weg. Gesellschaftliche Realität und persönliches Schicksal klaffen auseinander und werden doch in eins gesetzt. Die Notwendigkeit der Maßnahmen für alle erklärt sich aus dem Schicksal des Einzelnen.

Anders gesagt, das Schicksal des Einzelnen wird verbunden mit den Regeln für alle. Das ist selten so, fast nie, in freien Gesellschaften, daher kommt auch das Unbehagen von manchen, glaube ich.

Was also ist Verantwortung, was ist Freiheit? Wie wichtig ist das eine, das andere? Kann es sein, dass sich die Angst des Anfangs, dieses Misstrauen, das sich auch zeigte, auf der Straße, im Supermarkt, verwandelt in etwas anderes, tatsächlich in Offenheit, Empathie?

Es ist noch zu kurz, diese Zeit im Lockdown, um das zu sagen, obwohl sie viel zu lang ist, diese Zeit im Lockdown. Es ist ein großes Experiment, in verschiedener Hinsicht.

Ökonomisch kracht es schon, viele sind verzweifelt, weil ihnen die Grundlage des Lebens genommen wurde; um die politische Zukunft dieser Demokratie wird noch lange gerungen werden, obwohl die Ruhe, die Stabilität, da schwanke ich gerade, auch ein positives Zeichen sein könnten.

Dieses Schwanken aber, so scheint mir, hat abgenommen in den vergangenen Tagen, Wochen, es haben sich die Lager gebildet, irgendwie seltsam, weil jede Seite ihre eigenen Phantasmen verfolgt. Es liegt auch eine Gereiztheit darin, die mit der Ermattung zu tun hat, die sich aus dem Umstand ergibt, dass ein Ende kaum abzusehen ist.

Die Frustration also, wenn Virologen oder die Vernunft regieren. Was ist es aber nun? Und vor allem immer die Frage: Wie würde es anders gehen?

In Finnland machen sie kein Homeschooling, habe ich gelesen, ab neun Uhr morgens sitzen die Kinder alle in ihren Teams-Sitzungen, es ist das virtuelle Klassenzimmer, sehr viel klarer, strukturierter, fortschrittlicher als in Deutschland.

Gesellschaftliche Regression zeigt sich dann eben auch sehr stark in dieser Krise. Wie würde es anders gehen? Geht es nach vorne? Geht es zurück?

Was verlieren wir gerade, womöglich unwiederbringlich?

27

Montag, 13.4.2020

Die Haare werden immer länger. Und die Straßen werden immer ruhiger. Es scheint, dass sie sich mehr und mehr fallen lassen, die Menschen, weil sie es brauchen, weil sie können und dürfen und weil sie es sich nehmen, die Freiheit zu fallen.

Spüren sie, dass sie fallen? Oder scheint es ihnen, als ob sie fliegen? Steigen? Schweifend? Während sie verharren, in sich, bei sich, ein Heim, das sie nicht kannten, Menschen, von denen sie nicht wussten, wie sehr sie sie brauche?

Was bedeutet also diese Zeit, die in ihrer Dauer nicht erkennbar ist, nicht spürbar gerade? Und wann wird sie erkennbar, fassbar, diese Zeit, gestohlene Zeit, und es gibt immer jemanden, der bezahlen muss, am Ende?

Ich höre Beethoven, Diabelli, die Fragmente einer Form, die nie erkannt war, eine Vergangenheit ohne Gestalt, eine Gegenwart als Versuch, als Suche. Fragil, hysterisch, traurig, abwesend, innig und vertraut, liebend, schnaufend, wütend.

Musik für diese Zeit. Ich höre einem Freund zu, der diese Musik spielt. Ich sehe, wie sehr er sie braucht, diese Musik, die Verbindung, zu sich, zu anderen, den Fragen, dem Rasen, es geht durch seinen Körper hindurch, dieser Körper, der verschwindet, wenn die Musik verklingt.

Auch ich falle, in mir selbst hinab, während ich Beethoven rauschhaftem Lachen lausche; es ist, als würde ich mir selbst folgen, als würde ich hinter mir gehen, der Fremde an einem verlassenen Strand, der, der schießt, und der, der erschossen wird.

Vielleicht lese ich auch nur zu viel Camus; die Musik und ich, Bruchstücke eines Lebens, zukünftige Erinnerungen. Selten habe ich erlebt, wie sehr Ereignisse Erinnerungen erschaffen, Identität, verarbeiteten Schmerz, schon im Entstehen.

„Fuck Corona Times“, summt mein Sohn vor sich hin, wobei er keines dieser Worte wirklich verseht. Aber ich schaue ihn an und weiß doch nicht, was bleiben wird, von dieser Zeit, in ihm und in mir.

26

Sonntag, 12.4.2020

Berlin atmet aus, nun schon sehr lange, und die Frage ist, ob es jemals wieder einatmet.

So fühlt es sich an, am sonnigen Ostersonntag durch jenesViertel zu laufen, das die Leere vielleicht schon immer internalisiert hatte, und nun trifft sich Form und Inhalt im Vakuum von Virus und Verharren.

Der Prenzlauer Berg jedenfalls ist still, die Menschen sind entweder in Brandenburg, was sehr wahrscheinlich ist, denn hier wohnen ja vor allem die, die sich ein zweites Haus und damit eine Distanz zur viralen Routine leisten können, oder sie sind auf ihren Dachterrassen und Balkons.

Tatsächlich gibt es eine Aktion, bei der die Balkone genutzt werden, um Kunst zu zeigen. Die Menschen, die unterwegs sind, sind vor allem Familien. Schon optisch findet ein Rollback der gesellschaftlichen Normen und Praktiken statt, durch die staatliche Vorgabe der Verbindung im Haushalt.

Wann sonst sieht man vor allem Berliner oder jedenfalls solche, die in der Stadt wohnen, Mann und Frau mit ihren beiden 14- und 16-jährigen Kindern durch das Viertel schlendern? Es scheint so, als würden sie es genießen, und die, die es sich leisten können, genießen es ja auch.

Du, ich bin so froh, dass ich gerade nicht mehr so viel zu tun habe, sagt ein bekannter Künstler auf der Straße, und der Einwand, dass es aber anderen gerade recht schlecht geht, die vielleicht nicht so berühmt sind wie er, hört er gar nicht und wiederholt nur noch einmal die Geste, die zeigen soll, wie er es ihn erleichtert, diese Corona-Pause, indem er mit den Händen an sich herunterfährt, als würde er seine Sünden abwaschen wollen.

Merken sie es vielleicht gar nicht, wie hart es sie treffen wird, wenn diese Ferien mal vorbei sind? Die Zahlen jedenfalls sind überraschend. Zwischen einem und zwei Prozent der Berliner sind infiziert. Hatte nicht Angela Merkel gesagt, erst wenn 60 bis 70 Prozent der Bürger die Krankheit gehabt hätten, sei die Pandemie vorbei?

Aber diese Überlegungen treten für viele in den Hintergrund. Sie zeigen eine gewisse Gehorsamsfreude, dass sie eine rapide Komplexitätsreduktion genießen dürfen, und schreien auf Twitter alle an, die sich auch nur Gedanken darüber machen, ob dieser Lockdown in dieser Form sein kann; und wie lange.

Da spaltet sich etwas auf, was nicht direkt politisch zuzuordnen ist, weil es eine bestimmte Art des links-grünen Milieus gibt, die auf verbissene Weise den Lockdown verteidigen, weil sie auf der anderen Seite unweigerlich den altenverschlingenden Kapitalismus sehen.

Ich verstehe die Situation etwas anders, für mich geht es um die Verhältnismäßigkeit, einerseits, vor allem aber um den Diskurs über Alternativen, die Vorbereitung, die so anders hätte laufen können, und die Technologie oder technologischen Denkweisen, die die Bekämpfung des Virus zugleich bodennäher und basisdemokratischer und effektiver gemacht hätten.

Aber irgendwie wollen sie lieber ihre Weltsicht verteidigen, warum, das begreife ich nicht ganz. Es scheint eine Form von Ersatzdeutung zu haben, nun, wo sich die Argumente wieder schön sortieren lassen, kann man sich ideologisch wieder heimisch fühlen.

Damit steckt auch in diesem Ressentiment ein falsches Verständnis von Zugehörigkeit.

25

Samstag, 11.4.2020

Verordnungen; wenn man doch Vorstellungsgabe bräuchte.

Ein Satz aus Der Pest. Ich laufe durch Kreuzberg, ich habe das Bedürfnis, mich zu bewegen, in der Stadt, in diesem Raum, der verschwunden ist, für viele. Ich laufe drei Stunden und höre dabei Die Pest und treffe einen Freund mit seinen drei Kindern und seiner Frau; ich esse ein Focaccia und stoße mir den Kopf an der Decke der Treppe, die hinunterführt in den Focaccia-Laden.

Beim Schlangestehen, der neuen bürgerlichen Realität, reden die Menschen kaum miteinander. Sie stehen auf den Linien, die auf den Boden gemalt sind oder mit Tape markiert, und ich weiß immer noch nicht, ob sie innerlich lachen oder weinen oder einfach nur stumpf sind, während sie sich hier inszenieren lassen in einem Schauspiel zwischen höherer Vernunft und Grausamkeit.

Die Komödie, die in allem wartet, hat sich noch nicht gezeigt; die Komödie mehr im Sinn von Balzac als von Dante: weniger grausam also als genau, weniger Höllenschlund, Strafe, Transzendenz und mehr Alltag, Verstrickung, Selbstaufgabe. Die „Einheit in der Vielheit“ will Balzac zeigen; das erinnert mich an den Satz aus Der Pest, dass das gesellschaftliche Wohl aus dem Wohl aller einzelnen besteht.

Darin liegt, glaube ich, eine fundamentale Unwucht der gegenwärtigen Situation: dass diese Logik umgedreht ist, dass das gesellschaftliche Wohl über das Wohl der einzelnen gestellt ist.

Ich erkannte, schreibt Balzac, „dass die Gesellschaft in dieser Hinsicht der Natur glich. Macht nicht auch die Gesellschaft aus dem Menschen je nach den Umgebungen, in denen sein Handeln sich entfaltet, ebenso viele verschiedene Menschen, wie es in der Zoologie Variationen gibt? Die Unterschiede zwischen einem Soldaten, einem Arbeiter, einem Verwaltungsbeamten, einem Advokaten, einem Müßiggänger, einem Gelehrten, einem Staatsmann, einem Kaufmann, einem Seemann, einem Dichter, einem Bettler und einem Priester sind, wenn auch schwieriger zu definieren, so doch nicht minder beträchtlich als jene, die den Wolf, den Löwen, den Esel, die Krähe, den Hai, die Meerkuh, das Schaf und andere unterscheiden. Es hat also ewig soziale Gattungen gegeben und wird ihrer ewig geben, wie es zoologische Gattungen gibt.“

Die Zoologie, die Biologie, die Virologie der Gesellschaft; das ist dann etwas anderes als der Osterspaziergang von Goethes Faust, dessen Gewimmel im Kreuzberg der Corona-Zeit etwas verhalten war, wenn auch sehr vom Eise befreit; geradezu zum Eis hingezogen, Tahiti-Vanille oder Belgian Chocolate Sorbet, mit einer Scheu jedoch, als ob die Strafe jederzeit drohen könnte.

Eine Pestilenz, schreibt Camus, in meiner freien Übersetzung, hat keine menschlichen Dimensionen, also reden sich die Menschen ein, dass sie nicht wirklich sei, ein schlechter Traum, der enden wird. Aber es endet nicht immer und, von einem schlechten Traum zum anderen, sind es die Menschen, die enden; zuerst die Humanisten, weil sie sich nicht vorbereitet haben.

24

Freitag, 10.4.2020

Ich lese jetzt doch Die Pest. Und Natalia Ginzburg. Was beide verbindet: Die Frage, was man wissen kann, die Zeichen; und der Rückblick und die Erkenntnis, dass man Wissen und Nicht-Wissen nicht trennen kann.

Albert Camus erzählt, kurz nach dem Zweiten Weltkrieg und unter dem Eindruck von Faschismus, Verrat und Vichy, eine Geschichte von grausamer Zartheit und Genauigkeit, in den Figuren, in ihren Geschichten, die Männer, und es sind nur Männer, die Frauen sind abwesend, im Sanatorium, in der Erinnerung, in Paris, wo die Liebe wohnt und wartet oder auch nicht — die Männer also als Menschen in ihren Gedanken und ihrer Alltäglichkeit.

Es ist die Beziehung zum Ort, Oran in Algerien, eine hässliche Stadt, wie Camus betont, mit dem Rücken zum Meer gebaut, ohne Bäume, ohne Grazie; zum Wetter, der Anflug von Hitze, es beginnt im April, also jetzt, und der Absturz dann in einen Sommer voller Delirium; es ist die Stadt, wie sie sich verändert, verschließt, ausgehend von der Verweigerung zu akzeptieren, was man sehen konnte, weil es nicht auszumalen war, wie schlimm es einmal war und wieder werden könnte.

Die Vorstellung also, dass die Geschichte linear ist; Camus’ Erzähler berichtet von den Pest-Epidemien der Vergangenheit, von den 10000 Toten und wie viele Kinos es bräuchte, um diese 10000 Toten zu versammeln, erst als Menschen, dann als Tote; er reflektiert darüber, was die Zahl 100 Millionen bedeutet, so viele Tote waren es, die insgesamt an der Pest starben, über die Jahrhunderte hinweg; wie kann man diese Zahl begreifen, ohne auch nur ein einziges Gesicht zu sehen?

Ist, umgekehrt, das eine Gesicht die ganze Geschichte? Das ist die Art, wie Natalia Ginzburg schreibt, in der gleichen Zeit wie Camus, wie er mit dieser emotional grundierten Klarheit, die Raum lässt für Empathie und doch misstrauisch ist gegenüber falschen Gefühlen, Pathos, Kitsch.

The Little Virtues heißt das Buch, das ich lese, es beginnt mit einer kurzen Geschichte über die Jahre in den Abruzzen, als Natalia Ginzburg gemeinsam mit ihrem Mann und ihren beiden Kindern im Exil lebte, auf der Flucht vor den Faschisten. Es sind die 1940er Jahre, es sind harte Winter und öde Sommer, es ist die beste Zeit ihres Lebens, schreibt sie, im Rückblick, ihr Mann wurde 1944 von den Deutschen ermordet, als sie zurückgekehrt waren, aus diesem Exil.

Sie schreibt nicht, warum sie schließlich zurückkehrten. Das hätte mich interessiert. Sie schreibt auch nicht davon, wie diese Entscheidung mit einem Gefühl von Verantwortung oder Schuld verbunden war. Sie lässt viel aus und erzählt viel.

Was mich berührt, ist die Verbindung von Eingeschlossen-Sein und Ausweglosigkeit, was nur scheinbar das Gleiche ist.

Es ist übrigens Karfreitag.

23

Donnerstag, 9.4.2020

Der Streit der Virologen. Worum geht es da? Der eine, Streeck heißt er, sagt das eine, der andere, Drosten, der berühmte Drosten, sagt etwas anderes. Aber worauf kommt es an?

Mir scheint, es geht bei all dem weniger um die Substanz dessen, was die jeweiligen Forscher sagen, und mehr um das Unbehagen, das viele ergriffen hat, weil sie nicht wissen, wie sie sich innerhalb einer Zeit verhalten sollen, die so viele Maßstäbe verloren hat, die bislang das Leben regelten.

Zum Beispiel Anfang und Ende. Zum Beispiel gut und schlecht. Zum Beispiel Vertrauen, Nähe, Intimität. Zum Beispiel Freund und Feind. Die Wut jedenfalls verpufft, noch, weil der Feind ein unsichtbarer ist.

Was, natürlich, nicht ganz stimmt. Ein Freund erzählt mir davon, wie in Frankreich die Stimmung zu kippen droht. Die Armen in den Vierteln von Perpignan, eingesperrt in Wohnungen ohne Würde, draußen marschiert die Polizei und kaserniert sie, das ist kein unsichtbarer Feind, das ist ein Symbol der Macht, die sich unterdrückt, ökonomisch und überhaupt.

Wie lange wird es also ruhig bleiben? Und was sind die Formen des Protestes? Was sind die Formen von Widerstand? Nicht gegen die gegenwärtigen Maßnahmen, sondern gegen den Lauf der Dinge.

Im Schatten des Virus gerät die Politik an den Rand, weil sie nicht mehr bestimmt, was ist und gilt, sondern reagiert; sie tat das schon bislang, kann man einwenden, aber sicher nicht so deutlich.

Was bedeutet es also für die Klimaproteste etwa, wenn Fridays for Future nun lange Zeit nicht mehr stattfinden wird? Was, überhaupt, für die Frage von Versammlungen, essentiell für den politischen Prozess, für Demonstrationen, immer noch eines der wirksamsten Mittel, friedlich seinen Protest zu äußern?

Es sind ganz grundsätzliche Verwirrungen, die sich nun langsam aus dem Wesen der Maßnahmen ergeben; das erklärt auch den Zweifel an diesen Maßnahmen, berechtigt oder nicht: Im Zweifel wenigstens liegt eine Sicherheit, ein Akt der Autonomie, und sei sie noch so vorübergehend.

Der Trost, der in diesem Zweifel liegt, kommt aus dem Umstand, dass es doch, am Ende, so etwas wie eine Wahrheit geben muss, eine Antwort auf die Unsicherheit, etwas, das eben durch den einen oder den anderen verborgen werden soll.

Verschwörungstheorien sind die Glaubensbekenntnisse von angstvollen Menschen.

22

Mittwoch, 8.4.2020

Wie sich die Menschen bewegen, in der Sonne, in einer Mischung aus Scham und Vorsicht, weil sie wissen, dass das, was sie gerade erleben, jederzeit zurückgefordert werden kann. Sie sind auf Bewährung.

Alles ist auf Bewährung gerade. Alles ist in Frage gestellt. Die sozialen Kontakte in der Schlange an der Bäckerei, die Verkäuferin, die nur ihre Maske nur schwer zu verstehen ist und sich dafür entschuldigt, ihre Augen, die freundlich flackern, sind zu sehen, den Rest des Gesichtes samt seiner Menschlichkeit muss man sich denken.

Sie gibt das Wechselgeld mit Handschuhen, der Verdacht, der in der Ansteckungsgefahr des Geldes liegt, vermischt die tiefsten antikapitalistischsten Gefühle mit der realen viralen Praxis. Wie lange das alles noch dauern wird, das ist die Frage, die immer noch alles überwölbt.

Sind wir wirklich in diesem Zustand, in dieser Lage? Seit wann können wir, die Individualisten, Hedonisten, konsumistischen Widerständler ohne Ideologie und Plan nicht mehr tun und lassen, was wir wollen?

Es bleibt nur das Lassen. Und wenn das Tun einsetzt, dann ist es von Zweifel begleitet. Weniger, aber auch: Ist es richtig, ist es falsch? Ist es verantwortbar, in die Sonne zu treten, oder schon strafbar in einem noch nicht etablierten Sinn von Strafbarkeit?

Mehr: Und was, wenn auch das, was wir gerade haben, dieser Moment, genommen wird? Was, wenn wir das, was wir gerade glauben zu erleben, mit Freiheit verwechseln, während doch die Mikroben und die große Politik etwas ganz anderes mit uns vorhat?

Es ist auch die Rückkehr von Schicksal in eine agnostische Welt, diese Krise, die Katastrophe, dieses Ende einer Welt, jeden Tag aufs Neue.

Die Repetition ist das Ermüdende, die Repetition des Endes. Es nimmt dem Ende seine Schärfe, aber es verhindert auch das Aufatmen des Anfangs.

So kann es nicht weitergehen, denke ich oft; so wird es weitergehen, das weiß ich.

21

Dienstag, 7.4.2020

„Wie üblich“, steht am Eingang eines Weingeschäftes in der Nähe, dürfen nur maximal vier Personen in den Laden, was doppelt verwirrend ist: Warum vier, sonst sind es wahlweise eine oder zwei Personen; und warum „wie üblich“?

Aber es stimmt wahrscheinlich. Wir leben nun im Zeitalter der Üblichkeit, und was vor kurzem noch wie eine absurde Vision wirkte, ist nun schon akzeptierte Realität. Es ist erstaunlich, wie adaptionsfähig der Mensch ist. Wohl im Guten wie im Schlechten. Vielleicht ist es notwendig zum Überleben.

Dieser Adaptionsprozess, den wir gerade erleben, wäre damit eine Art Rückfall in den evolutionären Modus, und vielleicht fühlt es sich auch deshalb so verwirrend an; wir denken ja immer noch, dass wir diese biologische Abhängigkeit hinter uns gelassen haben und uns emanzipiert haben.

Die Kränkung also, die diese Krise auch bedeutet, ist die, dass dieses Freiheitsverständnis sehr deutlich in Frage gestellt wird, fundamentaler noch, als es oberflächlich oder alltäglich wirkt, durch das Eingesperrt-Sein, die geschlossenen Geschäfte, die erlahmte Zeit.

Die Kränkung führt tiefer hinein in einen anthropologischen Zustand, eine Art Ur-Mensch, den das zivilisatorische Projekt doch eigentlich überwunden haben sollte; das Virus holt uns damit in die biologische Welt zurück, auch hier ist ein Zusammenhang zwischen Corona und Klima, dem Verständnis also einer wechselseitigen Abhängigkeit im Ökosystem.

Vor dem Weingeschäft jedenfalls, und auch an den Ecken des Parks, stehen sie nun wieder in der Sonne, die frühlingshaft scheint, und trinken aus leuchtenden Gläsern.

Scheu. Wie wird das Leben sein, wenn es zurückkehrt? Wie werden wir uns erinnern, wer wir waren, in der Krise? Werden wir uns dafür schämen, für die Angst, für die Abwesenheit von Angst, für Verantwortungslosigkeit oder Freiheit?

Sie wartet, diese Antwort; aber später werden wir die Frage vergessen haben. Auch das bedeutet Überleben.

20

Montag, 6.4.2020

Der beste Text, den ich bislang über das Virus und die Folgen gelesen habe, ist eher ein Text über das Virus und die Vergangenheit, also die Voraussetzungen dafür, dass wir in diese Krise gekommen sind. Er heißt „The Coronation“ und ist von Charles Eisenstein.

Eisenstein eröffnet verschiedene Perspektiven, die wie eine Rasierklinge die gegenwärtige Atemlosigkeit durchschneiden. Die Tiefe der Krise lässt sich erst bemessen, wenn man sie im historischen Kontext sieht und im Blick auf die Möglichkeiten, die sich auftun.

Wir unterbrechen das, was wir als Normalität betrachtet haben, und schauen in den Schlund dessen, was wir geschaffen haben. Die Mechanismen, Zwänge, Notwendigkeiten, die das Leben waren, fallen weg, und so stehen wir da und wundern uns darüber, welche Leere entsteht und welche Lügen wir gelebt haben.

Lügen ist kein Wort, das Eisenstein verwenden würde; er ist beschreibender, nicht wertend, was den Text auch so offen und interessant macht. Ein Freund sagte neulich, „this is a bad time for hot takes“, er meinte es auch auf mich bezogen, weil ich im Geschäft der „hot takes“ bin oder war.

Der Journalismus jedenfalls, früher einmal Geschichtsschreibung in Echtzeit, tut sich schwer damit, die ungute Nähe zu den Akteuren und Prozessen der Politischen, die sich in den vergangenen Jahren verselbständigt hat, hinter sich zu lassen und den Blick auf das zu richten, was gerade geschieht, aus der Perspektive des Zukünftigen heraus.

Damit verliert der Journalismus ein Maß an Freiheit, das jemand wie Eisenstein für sich reklamiert. Er sieht die Zusammenhänge des Zivilisatorischen und der Krankheit, die wie jede Krankheit eine Bedrohung auf verschiedenen Ebenen ist, physiologisch für den Einzelnen, psychologisch und damit auch politisch für die Konstruktion der Gesellschaft.

Corona ist ein Moment der Macht, die ihre Handlungsfähigkeit beweisen kann; daher kommt auch die Rhetorik des Krieges. Kriege werden geführt, Kriege werden gewonnen, Kriege definieren eine äußere Bedrohung. So konstituiert sich Macht, auch symbolisch.

Sehr viel schwieriger ist es, Probleme anzugehen, die sich nicht so klar nach außen definieren lassen, in Bezug, im Sinne der Kriegs-Rhetorik, auf einen Feind. Armut etwa oder Ungleichheit lassen sich mit diesem Denken nicht lösen.

Das Agieren der Politik hat daher gerade auch etwas Schales.

19

Sonntag, 5.4.2020

Steuern senken für alle, fordert Markus Söder; für alle, als ob es alle träfe. Das ist Sozialismus der Reichen.

Das Wetter wird wärmer, die Menschen blinzeln in die Sonne. Sind noch andere da? Sind sie selbst noch da? Was machen eigentlich die, die wir dafür gewählt haben, dass sie etwas machen?

Deutschland, so heißt es nun, steht recht gut da; Deutschland, so heißt es auch, wird wieder den Rest Europas verraten, wenn es um dessen Rettung geht. Wie in der Euro-Krise. Es droht die Spaltung Europas in Ost und West und Nord und Süd.

Dennoch freuen sich wieder so viele über Angela Merkel. Sie ist so nüchtern, sie ist so verlässlich. Ja, wenn es das ist. Und Europa zerfällt, weil sie keinen Elan hat, keine Vision, keinen Mut.

Sie glaubte nur an Europa, solange es ihr genutzt hat; das ist ihre Art. So geht Europa an einem mächtigen, untätigen Deutschland kaputt.

Unter anderem. Ich weiß nicht, ob sich die Leute, die da aus ihren verschatteten Wohnungen ins Licht des Sonntags treten, sonderlich für Europa interessieren. Aber womöglich sind es die gleichen, die noch vor ein paar Jahren die blauen EU-Flaggen geschwenkt haben.

Was ist passiert? Die Weltgeschichte hat ihren eigenen Rhythmus, der Tanz und der Hammer, wie eine berühmte und auch natürlich schon berüchtigte Studie über das Virus heißt, die gerade kursiert, viral.

Sie dachten, sie tanzen. Dann kam der Hammer. Sie waren einfach nicht vorbereitet.

Manche sagen, das ist ein „schwarzer Schwan“, ein unvorhersehbares Ereignis. Nassim Nicholas Taleb, der Erfinder des „schwarzen Schwan“, sagt allerdings selbst, diese Krise sei keiner.

Wer das Unvorhersehbare beschwört, will womöglich nur die Verlängerung der Gegenwart in die Zukunft.

Aber die Zeit ist unterbrochen. Etwas Neues entsteht.

18

Samstag, 4.4.2020

Quarantäne, habe ich gelesen, kommt von dem italienischen Wort „quaranta“, also 40 — die Dauer der Isolation, in diesem Fall wegen der Pest, war relativ willkürlich und orientierte sich mehr an biblischen Beispielen als an medizinischen Erkenntnissen.

Das Alte und das Neue Testament sind voller Geschichten: 40 Tagen und Nächten, die 40 Jahre der israelitischen Wanderschaft, die 40 Tage von Pfingsten. Geschichten der Reinwaschung.

Apocalypse heißt die Erscheinung einer versteckten Realität, habe ich gelesen. Es ist etwas anderes als die Katastrophe, die das Ende bedeutet; das Ende einer Welt. In der Apocalypse, die eigentlich auch das Ende einer Welt bedeutet, steckt damit wenigstens noch die Möglichkeit des Neuen.

Und darum geht es ja, auf politischem wie privatem Terrain: Wie verändert die Pandemien Gesellschaften? Was sind die Prioritäten, allgemein und individuell? Wer kann sich neu erfinden? Wer versinkt im Alten?

Ich habe mit Menschen gesprochen, in Verlagen, in Zeitungen, die sich auf das zurückziehen, was sie kennen, was sie können. Verlage machen Bücher, sagen sie. Und scheitern damit gerade. Ich verstehe nicht, warum sie nicht sehen, dass sie Wissen produzieren und die Form, in der sich dieses Wissen verteilt, verändert.

In der Krise zeigen sich Institutionen so, wie sie sind; am Selbsterhalt interessiert. Was mehr oder weniger sicher zum Scheitern führt.

17

Freitag, 3.4.2020

Corona ist eine Geschichte vom Tod. Wie der Tod in unser Leben kam. Das ist jedenfalls eine Möglichkeit, die Geschichte zu erzählen.

Die andere Möglichkeit ist die, dass der Tod nie fort war. Dass wir ihn nur nicht sehen wollten. Dass wir ihn mehr und mehr verdrängt haben. Dass er, auf der hellen Seite der Wissenschaft und der Medizin, wie der Gegner erschien, der Feind, den es zu bekämpfen galt. Der Tod als etwas anderes als das Leben. Dabei ist der Tod Teil des Lebens.

In diesen Zeiten nimmt der Kampf gegen den Tod die oberste Priorität ein. Ihm wird alles untergeordnet. Der Tod darf nicht sein. Das ist verständlich, denn die Mittel, den Tod zu verhindern, sind ja, scheinbar, vorhanden. Das Problem wird, wenn der Tod wichtiger wird als das Leben.

Aber wie kann man das entscheiden, wie kann man das diskutieren? Es gibt eine Art Automatismus des Heilungs- oder Rettungsversprechen, das mit dem Hippokratischen Eid verbunden ist. Wir tun alles, was möglich ist. Wir versuchen es jedenfalls. Koste es, was es wolle.

Und da fängt es an, schwierig zu werden: Denn es stimmt ja nicht. Wir setzen nicht immer ein, was wir nur können, koste es, was es wolle. Wir, also diese Gesellschaft, die deutsche, entscheidet sich, oder einige wenige entscheiden, wann dieser Fall gekommen ist und für wen die Mittel eingesetzt werden sollen.

Das Pathos also, das in dem „koste es, was es wolle“ steckt, ist insofern ein künstliches Pathos, weil es an eine konkrete Interessenssituation gebunden ist. Wir, also diese Gesellschaft, haben nicht getan, was getan werden musste, koste es, was es wolle, als die Geflüchteten 2015 unsere Hilfe brauchten.

Es waren Einzelne, die das taten. Nicht „koste es, was es wolle“; sondern einfach das menschliche Notwendige.

Damals und auch in den Jahren davor begann eine Diskussion darüber, was das menschliche Leben wert war. Ziemlich wenig, das war die Antwort der Mehrheit, denn die Rettung von Leben von Geflüchteten wurde immer schwieriger, wurde kriminalisiert, nicht erst durch Salvini und die Regierung Macron, sondern schon davor. Es gab einen pan-europäischen Konsens der Menschenrechtsverletzungen.

Das muss man mitbedenken, wenn es nun heißt, dass Menschen gerettet werden müssen, koste es, was es wolle. Das menschliche Leben wurde eben gesellschaftlich entwürdigt. Das kann man nicht einfach wieder zurückholen. Das hat man damals schon so gesagt, schon so gemeint. Helfen. Oder soll man es lassen?

Dieser Tabubruch, das massenhafte Sterben im Mittelmeer, geduldet und in manchen Fällen unterstützt von Europa, das hat seinen Preis. Deshalb wirkt das jetzige Todes-Pathos auch seltsam forciert.

Es ist keine Lüge. Es ist nur die Lücke zwischen Wahrheit und Wahrheit.

16

Donnerstag, 2.4.2020

Wenn mein Sohn „Corona“ sagt, dann klingt das so, als ob er das Wort testen würde. Ob es hält. Wie es sich anfühlt. Es ist fast wie ein Gegenstand, den er in seiner Hand hin und her wiegt.

Manchmal scheint es schwer zu sein, das Wort, dann schüttelt er den Kopf, weil die Kinos zu sind oder der Zoo geschlossen. Er versteht schon, das soll das Kopfschütteln bedeuten. „Ich glaube, das ist deshalb so, damit sich die Tiere nicht anstecken“, sagt er.

Für ihn, wie für seine beiden älteren Geschwister, scheint eine Logik oder Evidenz zu geben, der sie sich fügen. Sie nehmen den Lockdown als das, was er ist, eine Tatsache ihres Lebens. Die Verwunderung darüber, dass der Kindergarten oder die Schule geschlossen ist, scheint verwunderlich gering.

Dabei ist es natürlich identitätsstiftend. Die Reaktion auf das Wort Corona zeigt meinem kleinen Sohn, wer er selbst ist. „Ich kann das Wort Virus schon sagen, weil ich schon so alt bin.“ Im Juni wird er vier Jahre alt. Corona ist sein Eintritt in die Weltgeschichte.

15

Mittwoch, 1.4.2020

Das Zappeln, das Ziehen nimmt zu. Ich sollte laufen, rennen, joggen, aber mich langweilt das, hat es immer schon. Ich brauche einen Ball, damit mir Sport Spaß macht. Außerdem habe ich keine Laufschuhe gerade. Und alle Geschäfte sind geschlossen.

Der Körper bekommt in der Krise eine besondere Bedeutung. Das Verhältnis zu anderen bestimmt das Verhältnis zu einem selbst. Und das eigene Körpergefühl bestimmt, wie man sich unter anderen und mit anderen fühlt. Das fällt jetzt weg.

Auch das ist eine Verunsicherung. Viele laufen jetzt. Oder backen Brot. Es ist dieses Tun, das sich brauchen, weil es etwas hinzufügt zu dem, was man ist, in sich, aus sich heraus. Die Tätigkeit ist die Erweiterung des Seins.

Das kollabiert gerade. Viel dramatischer in anderen Teilen der Welt. Das ist auch Teil der Scham, hier ist alles so viel mehr in Ordnung, noch. Wie viele Tote sind es schon? Ich weiß es gar nicht genau. Ich schaue nach. Unter 1000. In Spanien werden es bald 10000 sein. In den USA, so heißt es 100000.

Ich glaube nicht, dass das reicht. Es werden mehr sein. Schon 100000, lese ich, sind mehr als die Toten der Kriege in Korea und Vietnam zusammen.

Was bedeutet das also für die USA? It’s over? Das höre ich immer wieder. Eine weitere Versicherung in vielem, die nun wegfällt, ein Fixpunkt einer Ordnung, wie auch immer man sie letztlich bewertet.

Die Gegenwart ist jetzt schon in jedem Moment historisch, sie ist permanent Vergangenheit, weil sie nur noch unter der Prämisse einer künftigen Deutung gelebt wird.

Geschichte ist konstruierter Zusammenhang, Kontinuität mit Plausibilität, notwendig für Kohärenz; wenn sie kollabiert, entsteht ein Vakuum, in das Neues oder Altes stoßen kann.

Die Nervosität also, das Zappeln, hat im Großen alle ergriffen. Sie rennen nicht. Sie warten. Alle warten, scheint es.

Was nicht stimmt. Die, die schlau sind, agieren schon. Man sieht sie nur gerade nicht.

14

Dienstag, 31.3.2020

Eine Freundin schickt eine WhatsApp-Nachricht mit einem Link. Es rumort in der Ruhe, scheint es. Der Link führt zu einem französischen Video, das in fünf Tagen knapp 400000-mal angeklickt wurde. Es heißt: Les chiffres sont faux, die Zahlen sind falsch.

In maximal ruhiger Stimme erklärt ein Mann in dem Video, dass gerade mal ein Prozent aller Corona-Toten an Corona sterben. Die anderen, so die Stimme, 99 Prozent, sterben an einer anderen Krankheit. Das Video ist beklemmend, weil der ruhig sprechende Mann mit einer solchen schwer greifbaren Beharrlichkeit etwas klarstellen will, das eigentlich nicht klar gestellt werden muss oder kann.

Es ist aber auch beklemmend, weil die Freundin eigentlich klar und klug ist. Wie kommt sie auf die Idee, dass da bewusst und systematisch gelogen wird? Was entsteht da gerade für eine Spannung, für eine neue Spannung, in eigentlich aufgeklärten Kreisen? Oder, das wäre wahrscheinlicher, ist diese Spannung schon länger da, und sie findet hier nur ihren Anlass?

Die Frage jedenfalls, was nach Corona kommt, zeigt sich schon jetzt, mitten in Corona. Die Unsicherheiten, die systemisch sind, werden individuell, und umgekehrt werden die Verstörungen der Einzelnen zunehmend eine Belastungsprobe für die Gesellschaft werden.

Ein Freund schreibt auf Twitter, dass ihn die Situation an die ersten Tage der Pariser Kommune erinnert. Er bezieht sich auf die Überschrift der „New York Times“: „40 Prozent der New Yorker Mieter werden womöglich ihre Miete nicht bezahlen“.

Wie Menschen vor Corona waren, schreibt eine andere Freundin auf Twitter, verstärkt sich noch durch Corona. Das gilt auch für Gesellschaften. Revolutionen, würde das bedeuten, ereignen sich durch die Verschränkung von individuellem Leiden und kollektiver Notwendigkeit.

Andererseits: Noch selten, soweit ich mich erinnern kann, schien ein revolutionäres Gefühl oder Pathos so weit entfernt. Es kann ja auch gar nicht entstehen, weil alles wie erfroren wirkt, erstarrt, erschöpft.

Das die Menschen einfach zu Hause bleiben, weil es so sein muss, so sein soll, vernünftig ist; ja. Aber vielleicht sind sie auch froh, ziehen sie sich gern zurück, weil sie dort wenigstens ein Maß an Kontrolle haben, wie auch immer die sich ausgestaltet.

Verschwörungstheorien sind am Ende vor allem das: Kontrolle über die Wirklichkeit, die einem sonst entgleitet. Widerstandsreduktion.

Sie sind damit das Gegenteil von Widerstand. Oder Revolution.

13

Montag, 30.3.2020

Mit dem Lärm weicht auch die Zeit. Die Tage gleiten ineinander über, die Stille des Sonntags ist die Stille des Montags, der Anfang der Woche verschwindet, er muss hergestellt werden im Kopf, ohne die äußeren Signale der Stadt, der Verdichtung der Aktivitäten, der Zunahme der Geschwindigkeit, der allgemeinen Beschleunigung des Arbeitens, des Denkens, der Alltags.

Aber die Ruhe ist, natürlich, trügerisch. Die Kräfte malmen schon längst, sagt eine Freundin am Telefon. Es ist die Zeit zwischen Gestern und Morgen. Jetzt entscheidet sich, wer über die Zukunft regiert.

Geht es also zurück, wie in Ungarn, wo Orban nun mit diktatorischen Kompetenzen regiert? Geht es zurück zu einer Form von Kohlekapitalismus, der jetzt mit Staatsmitteln gestützt wird, obwohl seine Verwüstungen allgegenwärtig sind und offensichtlich, jedenfalls bis zur Krise, die einen nach vorne katapultieren kann oder nach hinten?

Es gibt so viel zu tun, sagt die Freundin, sie spürt so eine Energie in sich und in anderen. Sie hat Urlaub kommende Woche, was auch immer Urlaub heißt in diesen Zeiten. Aber eigentlich will sie gar keinen Urlaub. Sie will arbeiten. Sie will dagegenhalten, wenn die Kräfte des Status Quo und der Reaktion den Fortschritt vernichten, der im Bereich von Klima, Energie, einer anderen Form von Wirtschaft gemacht werden könnte.

Wenn Lobbyisten Gitarristen wären, dann wären die Rückkoppelungen ihrer Instrumente in der gesamten Stadt zu hören.

Es sind die Verheerungen des Kommenden, die sich da andeuten, eine andere Welt. Die Verlage sind in Panik, in Kurzarbeit, sie verschieben Bücher, straucheln dem Abgrund entgegen. Und wenn das das Ergebnis wäre, dass nun diese Form von Zivilisation verloren gehen würde, eine Wüste bliebe, wo vorher Vielfalt war?

Die Kraft der Differenzierung ist im Schwinden. Ist sie das wirklich? Zwei Schritte vor, zwei Schritte zur Seite, zwei Schritte zurück. Es ist ein Tanz am Rande der Rationalität.

Die Freundin, die für das Neue streiten will, geht erst einmal mit ihren Kindern zu den Ponys auf der Wiese.

Es ist schwer abzuschalten, dieser Tage; andererseits fühlt es sich häufig so an, als sei man längst abgeschaltet.

Der Puls ist ruhig, dann wieder schnell. Es fühlt sich an wie erhöhte Temperatur. Ist es aber nicht.

Kein Virus. Nur Nervosität.

12

Sonntag, 29.3.2020

Die Stille. Es ist, als ob die Stadt verloren gegangen ist. Die Stadt entsteht im Lärm, sie entsteht aus den Menschen, sie entsteht nicht aus sich selbst heraus. Heute ist die Stadt nur Luft und Stein.

Am Alexanderplatz, keine Fußgänger, keine Radfahrer, keine Rollstuhlfahrer, keine Armen, keine Reichen, keine Bettler, keine Jongleure oder Musiker oder Zeichner, keine Jugendlichen, die in Gruppen warten, bis sie älter sind, keine Eltern ohne Zeit, keine Menschen ohne Ziel; und auch keine Elektroroller.

Gestern ging es besser, gestern schien die Sonne, es hat derzeit viel mit dem Wetter zu tun; heute ist es wieder schlechter. Heute scheint die Richtungslosigkeit umfassend. Der Abfall von Energie ist enorm, mit der Stille erlahmt auch der Körper.

Diese Krise verläuft in Wellen, die Stimmungen gehen hoch und gehen runter, von einem Tag auf den anderen. Die Fragilität nimmt zu. Dann nimmt sie wieder ab. Es wird ein Tanz werden, sagt ein Virologe, er meint damit, dass das Virus wiederkehren wird, im Herbst, und dass dann die Maßnahmen immer wieder angepasst werden müssen, ein Schritt nach vorne, einer zur Seite, einer zurück.

Dann schneit es auf einmal, und die Kälte von außen und die Verwirrung von innen wirbeln einen durcheinander. Ein Gefühl von Verlorenheit, Ortlosigkeit.

Ohne Kontakte verliert sich die soziale Versicherung des Selbst. Zu viele Kontakte, online, ersetzen diese Versicherung nicht, im Gegenteil.

Der Abend beginnt, wie so oft, mit einem Konzert von Igor, mal live bei ihm im Wohnzimmer, heute live auf Twitter.

Der Unterschied ist minimal; der Unterschied ist himmelschreiend.

11

Samstag, 28.3.2020

Es wird wärmer. Die Menschen kommen nicht aus dem Haus. Wie leicht ist es, Menschen zu kontrollieren?

Es wird noch etwas wärmer. Ein paar Menschen kommen aus dem Haus. Sie gehen über die Straße, bleiben stehen, schauen sich um, schauen die anderen an, schauen weg. Scheue Scham.

Unklar ist, wovor sie sich schämen und wofür. Dass sie so lange weg waren? Dass sie schon wieder da sind? Sie tasten sich vor, sie tasten sich zurück, in ein Leben auf Abruf. Es ist der Versuch von Alltag als Ausnahme.

Wir sitzen in der Sonne, ein Freund und ich, wir essen, was wir beim Koreaner zum Mitnehmen bestellt haben. Es sind erste Schritte, viel zu früh, und schon stellt sich die Melancholie ein, die künftige Erinnerung daran, wie unerwartet, wie grausam für viele, wie vernichtend diese Zeit gewesen sein wird.

Die Sonne wird wieder schwinden, der Abend wird kommen, die Ruhe wird sich senken über die Stadt, in der die Menschen eingesperrt sind, in Angst vor anderen und damit auch vor sich.

Denn das ist die Übertragung. Wir sind ja verbunden. Die kollektive Angst frisst sich in den Einzelnen und bleibt dort drinnen, eine Weile jedenfalls. Wie lange wohl die Inkubationszeit ist?

Es entstehen auch neue Worte. Die Sprache scheint einerseits zu verkümmern, zu verhärmen, sich abzuschwächen, andererseits oder auch damit verbunden nehmen neue Begriffe den Platz der alten Realität ein, Begriffe wie Spuckschutz und Herdenimmunität, die einer neuen Wirklichkeit ihren Raum geben.

Die Worte sind harsch und hässlich, die Konsequenzen für die Betroffenen sind es noch viel mehr. Es sei wie Ertrinken, heißt es in den Medien, ein schrecklicher, langsamer, qualvoller Tod.

Ertrinken, schreibt dazu ein Freund per SMS, das erinnere ihn an die Geflüchteten im Mittelmeer, Tausende Tote in den vergangenen Jahren; Teil, wie er es nennt, einer „übergeordneten göttlichen Tragödientheorie“ unserer Zeit.

Ich weiß nicht, ob das die richtigen Worte dafür sind; ich weiß gerade sehr vieles nicht. Aber da geht es mir wie allen anderen, glaube ich.

10

Freitag, 27.3.2020

Zoom forever. Jeden Tag gibt es jetzt Videokonferenzen, und meistens funktionieren sie gut, aber wenn sie vorbei sind, dann scheint es leicht, als ob das, was gerade geschehen sei, entgleitet. Die Anwesenheit ohne Präsenz schafft eine andere Aufmerksamkeit, die man erst erlernen muss.

Zum Beispiel dieser digitale Workshop, von neun bis fünf Uhr nachmittags. Die Teilnehmer*innen in ihren Wohnungen, eine Haltung von Privatheit im nicht-privaten Raum, was dem Gespräch etwas Unscharfes gibt. Die Konzentration auf den Bildschirm, an die Blicke abprallen. Und gleichzeitig die Möglichkeit, tatsächlich mit mehr als 20 Menschen in den verschiedensten Teilen der Welt zu sprechen. Der Ausnahmezustand wird langsam Normalität.

Und der Körper genauso wie der Geist oder besser: das Gehirn stellen sich darauf ein. Der Körper ist etwas heruntergefahren, wie die Welt dort draußen eben auch. Das Gehirn hat sich schon angepasst an die neue Situation. Wenn alles geschlossen hat und die Stadt leer ist, wenn der Alltag angehalten ist und die normalen Abläufe unterbrochen sind, das Soziale verebbt, die Stühle der Restaurants auf den Tischen gestapelt, dann verändert das ziemlich schnell die Synapsen, so scheint es.

Abends jedenfalls, beim Schauen der Netflix-Serie „Giri Haji“, ein japanischer Mafia-Krimi voll existentieller Angst und Einsamkeit, überrascht es schon, wenn das Leute davon reden, dass sie ins Restaurant gehen. Es ist fast ein Schock. Diese Möglichkeit, und wie sehr sie entfernt scheint, heute. Wenn die Restaurants wieder offen sind, wie wird dann die Erinnerung sein an diesen Zustand? Wird es sich merkwürdig anfühlen, wieder einen Raum zu betreten, in dem mehr als zwei, drei andere Menschen sind? Und wie lange wird diese Verwunderung anhalten?

Es ist ein großer Menschenversuch, an dem wir hier alle teilnehmen, und es geht auch um die Adaptionsfähigkeit der Spezies. Die Zumutung ist gewaltig, aber die Bedrohung ist es auch. Die Maßnahmen sind sichtbar, spürbar, und sie werden es für lange Zeit bleiben. Das Virus ist unsichtbar. Die Regelungen werden die Grenze verwischen, zwischen dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren. Sie werden das eine, die Bedrohung, in das andere, das Ritual, verwandeln.

Schon jetzt ist die alte Welt im Schwinden. Die neue wird sich anders anfühlen, andere Normalität kennen, andere Sicherheiten, Unsicherheiten, Abläufe. Flughäfen haben sich verwandelt in den Jahren seit den Anschlägen vom 11. September 2001. Sie wurden zu grundrechtsbeschränkten Räumen eines umfassenden Sicherheitstheaters, verbunden mit einem ebenso umfassenden oder noch umfassenderen Konsumversprechen.

Wenn sich der Vorhang langsam hebt, wird sich die Welt so ähnlich darstellen. Eine große Sicherheitszone voll Misstrauen und Kontrollen.

Lockdown.

9

Donnerstag, 26.3.2020

Regnet es eigentlich noch irgendwo? Seit Wochen, so scheint es, spannt sich ein Hochdruckgebiet über Europa, das mit dem Virus gekommen ist. Kalt und klar sind die Tage, der Himmel ein fahles Blau. Es ist, als ob eine eisige Hand den Frühling zurückhält.

Ich treffe mich mit einem Freund, weil wir ein paar Dinge besprechen wollen. Lass uns doch einen Kaffee zusammen in der Sonne trinken, sage ich, und es braucht ein paar Sekunden, bis er versteht, dass das eine reale Möglichkeit ist. Gibt es denn Cafés, die offen sind, fragt er. Nein, aber wir können Kaffee mitnehmen, sie verkaufen ihn im Pappbecher, to go, wie man früher sagte, vor dem Virus, als to go noch eine Referenz oder Notwendigkeit der Mobilität war, die nun massiv eingeschränkt ist, für wie lange noch?

Wir trinken dann doch keinen Kaffee, weil wir beide hungrig sind. Alle kochen nun daheim, aber einige Restaurants bieten auch Essen zum Mitnehmen an. Wir bestellen zwei Pizzen und warten in der Sonne darauf, dass sie herausgebracht werden. Die Tische, die auf dem Bürgersteig stehen, sind frei, ein paar handgeschriebene Schilder verweisen darauf, dass es nicht erlaubt ist, sich zu setzen. Wir gehen, mit den Pizzen im Karton, zu dem kleinen Park auf der anderen Seite der Straße und setzen uns, einen Meter fünfzig voneinander entfernt.

Das Gespräch ist nicht ganz so sprunghaft, wie es manchmal zwischen uns ist. Wir sind beide ruhiger, wir sind beide etwas heruntergefahren. Ich lese nicht so viel, wie ich will, er denkt nicht so viel, wie er könnte. Es ist etwas gedimmt, aber auch das ist ein Zustand, der neu ist und real, die gesellschaftliche Gedimmtheit.

Als wir fertig sind, sagt mein Freund, sehr erstaunt, wie gut es sich anfühlt, mit jemandem zu reden. Er sitzt seit Tagen zu Hause mit seiner kleinen Familie. Er hat sich nicht getraut, in die Sonne zu gehen, oder er hat es einfach nicht getan, aus Vernunft, aus Vorsicht, aus Verantwortung.

Es ist schwer zu sagen, wo die Grenze verläuft dieser Tage. Die Pandemie wird nicht weiter eskalieren, wenn sich zwei Freunde zu einer Pizza in der Sonne treffen. Aber natürlich gibt es eine gesellschaftliche Dimension. Es gibt die Frage nach dem kollektiven Verhalten. Und danach, warum sie Menschen so benehmen, wie sie sich benehmen.

Das Verhältnis zwischen individuellem Verhalten und gesellschaftlicher Verantwortung muss täglich neu ausgehandelt werden; es scheint aber gerade so, als werde viel von dem, was systemisch geregelt werden müsste, auf den Einzelnen abgewälzt.

Was auch dem Geist unserer Epoche entspricht.

8

Mittwoch, 25.3.2020

Viele reden vom Ende. Das Ende Amerikas. Das Ende des Liberalismus. Das Ende des Lockdowns. Das Ende ihrer Karriere. Das Ende ihres Business. Das Ende der Welt, wie wir sie kennen. Alles wird anders sein, das ist allerdings die Umkehrung des anarchistischen Wunsches oder Versprechens, dass alles anders sein könnte. Insofern beschleunigt dieses Virus, für manche, auch das Ende des utopischen Raumes.

Ob das so stimmt, das ist eine der Fragen, das ist eine der Kämpfe der kommenden Zeit. Es könnte auch umgekehrt sein, dass diese Krise die Schwächen des Systems zeigt, strukturell, ökonomisch, im Entscheidungsprozess, in der starren Reaktionsweise, in der Verstärkung von Ungerechtigkeiten, die längst etabliert und akzeptiert sind, so scheint es.

Es gibt also die Räsoneure des Endes und die Visionäre des Anfangs. Ist es der Beginn des chinesischen Jahrhunderts? In gewisser Weise, ja. Ist es der Beginn eines anderen politischen Bewusstseins, einer alternativen Sicht auf die Möglichkeiten politischer Gestaltung? Zweifelhaft, möglich, schön wäre es. Der Mangel an Perspektiven war schon vorher schwer zu ertragen, nun könnte es sein, dass er verstärkt wird oder gebrochen.

Was aber wird nach der Krise kommen? Adam Tooze hat schon mal vorgerechnet, dass die Euro-Krise im Vergleich zu der Krise, die nun auf uns wartet, recht überschaubar war. Das Ende des Euro also? Und gleichzeitig sind die Auswirkungen dieser letzten wirtschaftlichen Krise mit verantwortlich für die Konsequenzen für die Menschen heute, in Spanien, in Italien. Kaputt gesparte Länder, arme Krankenhäuser, Tote auf Kosten der Austerität.

Dass Deutschland bislang relativ gut dasteht, mit 29 Intensivbett pro 100000 Einwohner, bekommt damit eine ganz andere Bedeutung. Zehn Jahre ist der Beginn der Schuldenkrise her, zwölf Jahre, und die Art und Weise, wie sich Deutschland damals unsolidarisch, egoistisch, gewinnfixiert gezeigt hat gegenüber Europa, hallt immer noch nach, hat immer noch Folgen für die Menschen. In Italien werden neue Todesrekorde gemeldet, es sind fast 1000 Tote an einem Tag, die Zeitungen in Bergamo drucken und drucken, in Schwarz, Namen auf Namen.

Was nun klar ist: Das Fußballspiel von Atalanta Bergamo gegen Valencia ist für Hunderte, Tausende Tote verantwortlich, es hätte nie stattfinden dürfen. Genauso wenig wie das Spiel von Atletico Madrid gegen Liverpool. Aber es schien so schwer, sich den Bruch in der Normalität vorzustellen. Die Notwendigkeit der radikalen Maßnahme. Es bleibt diese Kluft, zwischen dem, was denkbar schien, und dem, was nötig war. Es bleibt die Frage nach den eigenen Limitationen.

Die Enge also, die im Kopf entsteht, die Enge, die sich vom Körper aus ausbreitet, die Enge, die mit dem unmöglichen Anfang, dem ungelebten Ende, mit der Zeit ohne Perspektive verbunden ist. Es ist, als ob die Grenze dessen, was möglich ist, etwa einen Zentimeter innerhalb des eigenen Schädels verläuft.

Ein geistiges Ersticken fast, wenn diese Metapher nicht zu grausam wäre angesichts des tausendfachen Erstickens täglich in Krankenhäusern, Wohnungen, Altenheimen. Es ist auch, in gewisser Weise, das Ende der Metaphern.

7

Dienstag, 24.3.2020

Gesteigerte Einsamkeit. Der gleiche Ort wie vor einer Woche, die gleiche, nur kältere Sonne, die Tagen werden länger und kürzer zugleich. Es hat sich eine Art von Normalität eingestellt, die so viel Unsicherheit birgt, dass sie noch lange nicht normal sein wird, auch dann nicht, wenn sie längst vergangen ist, eine Erinnerung nur an dieses Ereignis, das unsere Pandemie war.

Dieser Zeitpunkt, an dem die Gegenwart Vergangenheit ist, war selten so attraktiv, er war auch selten so schwer zu erreichen, im Kopf, als eine Reise an den Horizont der Katastrophe und darüber hinaus. Aber diese Reisen sind wichtig, die Imagination ist etwas, das den Menschen ausmacht, das ihn am Leben hält. Wenn dieser Möglichkeitsraum fehlt, leidet der Mensch.

Die Ruhe also, die überall herrscht, hat also noch eine andere Dimension. Sie weist über die einzelnen Einsamkeiten hinaus. Sie ist ein anthropologisches Problem und doch auch eine Chance. Es wird darauf ankommen, wie diese Ruhe, diese Leere gefüllt wird, mit neuen Ideen, neuer Imagination, nicht erst, wenn die Krise vorbei ist.

Denn ein Dilemma dieser Situation ist, dass die Kräfte der Rettung, ökonomisch, gesellschaftlich, möglicherweise die Probleme nur verschärfen, die teilweise zu dieser Krise geführt haben. Was Donald Trump gesagt hat, das Heilmittel darf nicht schlimmer sein als die Krankheit, gilt hier umgekehrt.

Trump meinte, dass die Wirtschaft wichtiger sei als menschliche Leben; umgekehrt ist die Frage, ob der Wiederaufbau dieser Wirtschaft im Angesicht des Öl-, Mobilitäts-, Konsum- und Wachstums-abhängigen Kapitalismus nicht genau der Fehler ist, den es zu vermeiden gilt.

Wenn jetzt all die Milliarden über Milliarden dazu verwendet werden, genau das System zu rekonstruieren, das sich durch diese Krise als fehlgeleitet erwiesen hat, in vielen Bereichen, dann wäre die Chance auf Veränderung, die in großen politischen Projekten wie dem Green New Deal steckt, vertan.

In der seltsamen, sonnigen Kälte dieser Tage liegt deshalb auch eine übergeordnete Frage, über die zunehmende Angst der Freunde hinaus, der Restaurantbesitzer*innen, freien Philosophen*innen, Musiker*innen und wer noch alles von dem Lockdown unmittelbar wirtschaftlich betroffen ist — die Frage betrifft die Möglichkeit der Veränderung, die eben gerade in der Krise so groß ist wie selten.

Die Herausforderung ist es, die Rettung mit der Reform zu verbinden, klug und wach genug zu sein, die alten Fehler nicht panisch zu wiederholen. Ich sehe gerade nicht, wo diese Stimmen im politischen Diskurs zu finden sind, aber vielleicht kommen sie ja noch, kommen bald.

Es ist Zeit.

6

Montag, 23.3.2020

Die Woche beginnt, aber nichts beginnt. Ich fahre durch die Stadt, um mein Auto in die Werkstatt zu bringen. Mein Sohn ist dabei. Ich erzähle ihm von meinem Vater. Er fragt, ob die Kinos wieder aufmachen, wenn das Virus weg ist, und ob dann immer noch „Lassie“ läuft. Er ist knapp vier Jahre alt.

Wenn das nun ein Generationenereignis ist, oder mehr, welche Generation wird das dann sein? Für mich waren es vier einschneidende Ereignisse in meinem Leben, politisch, von außen: Der Fall der Mauer, der Angriff auf das World Trade Center, die Finanzkrise, die Migranten und Europa. Das alles hat mein Denken geprägt und verändert, manches mehr, manches später, manches hat mich in die Irre geführt, manches hat mich entschiedener gemacht.

Aber das hier ist kein politisches Ereignis. Jedenfalls noch nicht. Es zeichnet sich schon ab, dass die Reaktionen darauf, natürlich, politische sein werden. Erst einmal jedoch ist es der Einbruch des Unheimlichen, der unsichtbare Tod, die schleichende Angst. Die Psyche schon der Erwachsenen ist wund. Wie geht es den Kindern damit?

Der Druck nimmt zu, überall, aber das heißt nicht, dass die Menschen brechen. Nicht unbedingt. Noch nicht. Vielen, so hört man, geht es jetzt schon schlecht. Wie geht das weiter? Mir scheint, ich höre so wenig. Ich sehe so wenig. Geht es anderen auch so? Dass sie abgeschnitten sind? Natürlich geht es ihnen so. Führen sie auch solche inneren Monologe? Wahrscheinlich. Wie lange geht das noch?

Und trotzdem, die Arbeit, es geht weiter. Die Rechnungen kommen, der stille Strom der Notwendigkeit, in einem sonst so zeitleeren Raum. Der Widerspruch dieser beiden Größen, Bewegung und Lähmung, das eine fließt, das andere sackt, verharrt, zieht sich zurück, versickert, leise.

Für den Moment bedeutet das, dass er sich ausdehnt und gleichzeitig verschwindet. Zeit in Kontraktion. Zukunft in Abstraktion. Gegenwart in Negation.

Abnehmende Wahrnehmung. Abnehmende Wirklichkeit.

5

Sonntag, 22.3.2020

Deutsches Denken: Wenn die Bürger sich nicht benehmen, sagte sinngemäß Helge Braun, der Kanzleramts-Chef von Angela Merkel, dann müsse man zu härteren Maßnahmen greifen. Bewährung in Oberlehrerart.

Ich habe eigentlich draußen nur Menschen gesehen, die sich benommen haben, wenn man das so sagen will. Kaum jemand auf der Straße, im Café nur Kaffee zum Mitnehmen, zwei Meter Abstand, bitte draußen warten, Bekannte huschen aneinander vorbei und grüßen sich scheu, als schaue ihnen jemand zu, eine unheimliche Macht, die alles sieht; Sicherheitsabstand als mentale Kategorie.

Die Ausgangsbeschränkungen kommen dann doch, und Angela Merkel muss in Quarantäne, weil ihr Arzt positiv getestet wurde. Es kursiert ein Foto, auf dem die Kanzlerin einem Supermarkt zu sehen ist, wie sie sich Wein und wenigen Lebensmitteln eindeckt, ein Glas, womöglich Gurken oder Oliven. Sie steht hinten an der Kassenschlange.

Warum wird so wenig getestet? Warum wird stattdessen verboten? Es sind zwei verschiedene Ansätze, so scheint es, die sich natürlich nicht ausschließen müssen. Aber die Kommunikation, auf was Wert gelegt, was betont wird.

Die Genauigkeit der Tests, die Nachvollziehbarkeit der Maßnahmen und Anweisungen, unmittelbar und an Personen geknüpft, das scheint doch sehr transparent und demokratisch; die recht pauschalen Anordnungen, die nun ergehen, maximal zwei Personen, nur Familie, Wohnung, Gemeinschaft, fördern andere Narrative, sie bleiben in den Köpfen, der Ausnahmezustand schafft seine eigenen Erzählungen.

So ist der Mensch, er lebt in seinem Kopf. Manchen ist das ein Paradies, manchen ein Kerker. So wird es in den Häusern und Wohnungen sein. Manche starren an die Wand, und die Wand schreit zurück; manchen dehnt sich der Verstand, und sie finden einen Horizont, den sie kaum ermessen können.

Verwirrt, so scheint es, bleiben alle.

4

Samstag, 21.3.2020

Da ist das Private, und da ist das Politisch, und in diesen Tagen vermischt es sich, aber auf andere Weise, als es sich diejenigen gewünscht hatten, die dadurch eine, ihre Revolution kommen sahen.

In diesen Tagen ist es anders. Die Politik agiert auf einer Ebene, der der Beschlüsse, der Ausführungen und Anordnungen. Es ist ein Sieg der Exekutive, es ist das Zeitalter des Vollzugs. Das fragile Gebilde der Gewaltenteilung gerät aus dem Gleichgewicht. Vielen ist das gleichgültig, manchen nicht, in den Zeitungen, auf den Webseiten sind die Verteidiger von Freiheit in der Minderheit.

Es ist die Sicherheit, die die Menschen wählen und wollen, mehrheitlich wohl gerade, es ist die Gesundheit, es ist das Leben in seiner unmittelbaren, nackten Form. „Biopolitik“, so hatte der italienische Philosoph Giorgio Agamben das vor Jahren genannt, aber er hat gerade nicht viele Freunde in den Feuilletons, so scheint es. Klar ist: Die Abwägung, die hier stattfindet, ist fundamental, und sie wird die kommenden Jahre und Jahrzehnte prägen.

Wer ist also im Lead, wie man heute sagt? Sind es die Politiker, die offensichtlich nur reagieren? Oder sind es die Experten, denen das Vertrauen von vielen gilt? Im Zuge der Staatsschuldenkrise im Euro-Raum gab es in den vergangenen zehn Jahren ein paar Versuche, Expertenregierungen zu installieren, in Italien etwa war das der Fall, und die Demokratie nahm schaden. Ist das anders, wenn es um Gesundheit geht, das öffentliche Leben, alle?

Aber geht es um alle? Die Abwägung ist ja auch eine von Alt versus Jung, von Existenzen, von Leben, das noch gelebt wird, und Leben, das gelebt wurde. Zeit spielt hier eine Rolle, gesellschaftliche Macht, Einfluss. In den USA waren es die Studenten der Nuller-Jahre, die sich ihrer Zukunft beraubt sahen und dagegen protestierten, Occupy Wall Street war das Ergebnis, eine Bewegung, die vieles bewegt hat, ohne klar zu greifende Erfolge.

Wie wird es dieses Mal sein? Die 35-jährige Restaurantbesitzerin, der 42-jährige Geisteswissenschaftler, der von Vorträgen lebt, der 52-jährige Schuster, die 62-jährige Schauspielerin, Geigerin, Sängerin, was werden sie sagen? Ihre Existenz ist gefährdet, nicht so greifbar in der Substanz des Lebens, dafür nachhaltiger. Sie können wiederkommen, freilich. Aber werden sie das, unter welchen Bedingungen?

Der Diskurs ist zaghaft, nicht stillgestellt. Wenn man auf Twitter fragt, ob es noch abweichende Meinungen gibt, wird man angebrüllt. Es sind Verschwörungstheoretiker, die solche Fragen stellen, heißt es dann; aber was bedeutet so ein Satz für die Vernunft?

Auch um den Virologen Drosten gibt es nun Streit, das konnte auch gar nicht ausbleiben. In einem Interview hat er sich missverständlich ausgedrückt, er beteuert, dass er es nicht so gemeint hat. Unabhängig von der Substanz dessen, was er gesagt hat, zeigt sich hier doch die Ambivalenz in der Technokratie, die die Expertenherrschaft immer ist.

Drosten regiert nicht, in der Berichterstattung sind es die Männer, die Angela Merkels Job wollen, die in ihrem Gerangel im Vordergrund stehen. Da ist nicht nur die Traurigkeit solcher Ambitionen in einer solchen Situation, da ist auch ein politischer Journalismus, der das antreibt. Rauchzeichen des alten Regimes, in gewisser Weise, taumelnd.

3

Freitag, 20.3.2020

Wir sind nicht allein. Die Menschen klatschen abends aus den offenen Fenstern, um sich dessen zu vergewissern. Sie hängen Zettel auf kaufen füreinander ein. Es scheint, dass viele solidarisch sind.

Jedenfalls die, die es sich leisten können. Oder ist so ein Satz falsch? Womöglich. Wahrscheinlich. Was würde er bedeuten? Wahr ist aber wohl: Diese Situation, mit immer mehr Ausgangsbeschränkungen, verschärft bestehende Ungleichheiten. Der Klassenaspekt, Exklusion von Minderheiten, Armut, Migranten, Menschen ohne gültige Papiere, sie alle werden von der Krise viel härter getroffen als die, die in dem Viertel, in dem ich wohne, aus den Fenstern heraus Beifall klatschen.

Trotzdem. Allein sind wir nicht, auch deshalb nicht, weil wir natürlich nicht die ersten sind und auch nicht die einzigen, die sich so einer Situation ausgesetzt sehen. Das mag tröstlich sein oder auch nicht. Es schafft aber zumindest einen Raum für das Denken, und diese Räume werden ja gerade täglich, stündlich immer enger.

Kunst schafft diesen Raum, unter anderem, und so sind es Stimmen der Literatur etwa, die gerade fehlen, in der Stille, die sich ausbreitet.

So schrieb etwa der amerikanische Schriftsteller F. Scott Fitzgerald in einem Brief 1920, er war im Süden Frankreichs in Quarantäne, wegen der spanischen Grippe: „Es war ein klarer, trostloser Tag, wie an einem Korb, der von einem einsamen, öden Stern baumelt.“

Die Blätter, die draußen vom Wind gegen die Mülltonnen getrieben werden, klingen „wie Jazz in meinen Ohren“. Die Straßen sind verlassen, die Menschen sind es auch. Sogar die Bars sind leer, sagt Fitzgerald seinem Freund Ernest Hemingway, aber der boxt ihn nur in den Bauch, worauf Fitzgerald fragt, ob er sich auch die Hände gewaschen hat.

Hat er nicht. Fitzgerald und seine Frau Zelda haben sich, auf Anraten der Behörden, für einen Monat mit dem Notwendigsten eingedeckt: Rotwein, Whiskey, Rum, Wermut, Absinth, Weißwein, Sherry, Gin und, „Gott, wenn wir es brauchen, Brandy. Bitte bete für uns.“

Und dann beschreibt er dieses Gefühl, das sich allen menschlichen Instinkten verschließt, dieses Gefühl, das sich auch jetzt wiedereinstellt, diese Zeitlosigkeit, dieses Vakuum vor uns, das es unmöglich macht, zu planen und sich selbst in einen zeitlichen Kontext und damit in einen Wandel zu stellen. Stille.

“Du solltest den Platz sehen”, schreibt Fitzgerald. “Oh, es ist schrecklich. Ich weine, wenn ich an die verdammten Eventualitäten denke, die die Zukunft birgt. Die langen Nachmittage rollen langsam vorwärts, angetrieben von nie endenden, eleganten Highballs. Z. sagt, dass es keine Ausrede fürs Trinken gibt, aber ich kann meine Hand nicht stillhalten. In der Entfernung, von meinem grüblerischen Ausguck, ist die Küstenlinie in einen dumpfen Nebel gewickelt, ich kann eine unerbittliche Strafe erkennen, die lange schon auf uns zuzieht, sehr lange schon. Und doch, zwischen der zerrissenen Wolkenlinie des verhangenen Abends, erscheint mir ein einzelner Lichtfaden, der mich fort ruft zu einem besseren Morgen.“

Die Zeit zerreibt sich. Sie zerrinnt. Und löst sich auf. Konturenlos.

2

Donnerstag, 19.3.2020

Tag zwei. Oder Tag drei? Oder drei Tage vor der Ausgangssperre? Oder zwei Tage?

Es ist ein Tag wie unter Wasser. Das Leben ist entwichen, die Menschen sind verschwunden. Innen eine große Leere, außen auch. Die Fragen breiten sich allerdings aus, ob das, was passiert, das Richtige ist, das einzig mögliche? Das Notwendige, ja, aber zu welchem Preis?

Ein Freund schickt diese Passage aus „Überwachen und Strafen“ von Michel Foucault: „Wenn es wahr ist, dass die Ausschließungsrituale, mit denen man auf die Lepra antwortete, bis zu einem gewissen Grad das Modell für die große Einsperrung im 17. Jahrhundert abgegeben haben, so hat die Pest das Modell der Disziplinierungen herbeigerufen. (…) Der Leprakranke wird verworfen, ausgeschlossen, verbannt: ausgesetzt (…). Die Pestkranken hingegen werden sorgfältig erfasst und individuell differenziert (…). Die Verbannung der Lepra und die Bannung der Pest — das sind nicht dieselben politischen Träume. Einmal ist es der Traum von einer reinen Gemeinschaft, das andere Mal der Traum von einer disziplinierten Gesellschaft.“

Welche Träume träumt die Macht in diesen Tagen? Wie wach sind wir? Was werden wir sehen, wenn wir die Augen wieder öffnen?

Es scheint leicht, die Ängste zu kommandieren und damit die Disziplinierung zu erreichen. Die Kanzlerin sprach davon, und alle, fast alle haben sie gelobt. Das ist verständlich. Aber ist es richtig? Die Verstörung passiert im Stillen, die Leiden sind nicht zu hören, nicht zu sehen. „Die Außenansicht des Lebens“, schrieb John Maynard Keynes 1919, „lehrt uns noch nicht, auch nur zu fühlen oder zu verstehen, dass ein Zeitalter zu Ende geht.“

Kommt nun also das chinesische Zeitalter? Es hat nicht viel gebraucht, damit wir, die wir uns anders wähnten, widerständiger, selbständiger, uns dem ergeben, was in China mit mehr Konsequenz und wohl auch mehr Erfolg vollzogen wurde. Die Disziplinierung im Zeichen von Sicherheit, Gesundheit, Schutz des Lebens. Aber welches andere Leben wird nicht geschützt? Welches andere Leben wird sogar riskiert? Welche Existenzen werden hier gegeneinander aufgewogen?

Gibt es dazu einen gesellschaftlichen Diskurs? Oder gibt es nur den Vollzug?

Politiker*innen, die Stärke zeigen, die Durchgreifen, gewinnen an Profil. Ein anderer Freund schickt mir einen Text von Carl Schmitt. Es ist die Zeit, in der viele Menschen vieles noch einmal lesen, weil sie verstehen wollen, was gerade geschieht. Es ist nicht einzigartig, das ist gut zu wissen; es gab schon Beispiele; es ist, in vielem, die menschliche Natur, es ist aber vor allem die Form, die die Politik für diese Natur erfindet.

Sie sind nicht vernünftig, sagen die, die für die harten Maßnahmen sind, und es ist mehr als eine Aussage über das Verhalten der Menschen, sie geht zum Kern ihres Wesens; der Mensch ist gut, das ist der Glaube an die Möglichkeit der Emanzipation, der Mensch ist schlecht, das ist die Begründung der Notwendigkeit der Kontrolle. Links und rechts.

Der Text von Carl Schmitt, den mir mein Freund schickte, handelte nicht vom Ausnahmezustand, der eine Art Perpetuum Mobile des autoritären Denkens ist, weil er denjenigen, der über ihn entscheidet, wiederum mit der Macht ausstatten, diesen Ausnahmezustand zu verwalten oder zu erhalten; das ist auch die Skepsis mancher, die die recht einfache Einschränkung von Grundrechten jetzt beklagen und sich fragen, was damit für ein Präzedenzfall geschaffen wird.

Der Text war die „Theorie des Partisanen“, und weil so viele Staatsmänner und -frauen von Krieg reden, wenn es um Corona geht, hallt dieser Text, selbst für Carl Schmitt, besonders dunkel nach. Es geht um Freiheit, Widerstand und die Etablierung einer restaurativen Ordnung durch den Wiener Kongress von 1814/1815.

Es sind diese Referenzen in der Gegenwart, die einen Raum eröffnen, den schon andere vor uns ausgemessen haben. Wir sind nicht allein, das hören wir oft in diesen Tagen. Das ist wahr, auf verschiedenen Ebenen; aber auch anders, als wir realisieren.

1

Mittwoch, 18.3.2020

Die Einsamkeit. Bilder von einzelnen Menschen. Am Brandenburger Tor der Rischka-Fahrer, der auf Touristen wartet, die nicht kommen. An der Philharmonie ein Handwerker, der Pause macht, mit einem Becher voll Kaffee in der Hand, aber wer hat ihm diesen Auftrag gegeben und wozu? Der verlorene Elektro-Roller auf dem Asphalt, und die Sonne strahlt, als wolle sie sich erinnern, aber sie schafft es nicht, sie ist zu grell und zu schwach zugleich. Auch der Wind weht wehmütig, manchmal trotzig, teilweise aggressiv.

Es ist Tag zwei in der Stadt, oder ist es Tag eins? Ist es immer Tag eins, von nun an? Das Leben ist angehalten, wie auf Kommando. Es scheint fast, als hätten die Menschen darauf gewartet, so leicht geht das. Das Elend, die Not, die Sorgen von Ruin, Krankheit, Einsamkeit, Gewalt im Haus, wohin man nun gezwungen wird, die sieht man nicht, wie fast immer. „Die Maßnahmen, die getroffen werden, sind nichts Natürliches“, schreibt Cihan Sinanoglu auf Twitter, „sondern beruhen auf einem Machtverhältnis, das bestimmte gesellschaftliche Gruppen stärkt.“

Die Klassenfrage. Und kaum jemand denkt an Moria, die Geflüchteten und die Frage, was Solidarität in diesen Tagen wirklich bedeuten würde.

Ein paar Menschen sitzen in der Sonne, sie essen zu Mittag. Dürfen sie das? Toxischer Hedonismus. Sie reden und lachen. Es sind fünf. Sind sie gut gelaunt oder verantwortungslos? Und wer entscheidet das? Sie sind auf jeden Fall verdächtig. Es gibt so wenige wie sie. Das allein ist suspekt. Sie halten sich nicht an die Regeln, obwohl sie sich an die Regeln halten. Wie lange wird das noch so gehen? Wird der gesellschaftliche Druck zunehmen? Was passiert dann mit dem Denken, dem Fühlen, dem Leben?

Das Virus ist schwer, sagt Christian Drosten, der Virologe, auf den jetzt alle hören. Das ist eine gute Nachricht. Das Virus sinkt. Es fällt. Es sei denn, es sitzt auf einer Türklinke. Dann lebt es 72 Stunden, heißt es in einer amerikanischen Studie.

Wie kommt das also? Keiner ist draußen, obwohl sie es dürften. Es herrscht auch Angstlust. Nur die Natur lässt sich nicht aufhalten. Die Blumen blühen, die Bäume schlagen aus. Bald ist Ostern. Die Wiederauferstehung fällt dieses Jahr aus. Das Virus ist die Natur. Wir sind es auch und wir sind es nicht. Das ist Teil der Erkenntnis. Das verbindet das Coronavirus mit der Klimakrise. Unter anderem. Im „Guardian“ stellen sie die Frage, ob die Zerstörung der Natur dafür mitverantwortlich ist, dass wir Covid-19 haben. Die Vernichtung von Habitat und Biodiversität könnte bedeuten, dass das hier nur die erste von vielen Pandemien ist.

Es ist mild geworden. Die Kälte ist gewichen. Der erste echte Frühlingstag.

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