Über den Belagerungszustand

Guenter Hack
3 min readMay 4, 2016

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Giorgo Agamben hat über den Ausnahmezustand geschrieben, Carl Schmitt weitergedacht, wirksame Gedanken in die Welt gesetzt. So ist der Ausnahmezustand auch schnell wieder in die politische Praxis der westlichen Demokratien eingetreten, zuerst in Frankreich, dem Land der lateinischen Krise, in dem Präsident François Hollande seine Souveränität beweisen musste. Denn laut Schmitt ist derjenige souverän, der den Ausnahmezustand herbeiführen kann. Ob das noch stimmt, sei dahingestellt. Garant der Souveränität eines Landes ist heute dessen atomare Bewaffnung. Auch wenn Nordkorea wirtschaftlich am Ende sein mag, souverän ist es — aber was bringt das dem Land?

Ausnahmezustand und Souveränität sind laute Begriffe und laute Begriffe überlagern gerne alles andere in ihrer Umgebung. Zum Beispiel die Tatsache, dass die Fiktion eines Belagerungszustands derzeit viel stärker wirksam ist als die des Ausnahmezustands.

Der Belagerungszustand verhält sich zum Ausnahmezustand wie Deleuzes Kontrollgesellschaft zu Foucaults Überwachungsgesellschaft. Der Ausnahmezustand setzt eine innere Disziplin voraus, im Belagerungszustand hingegen fehlt die innere Disziplin, hier wird ein unerträglicher Druck von aussen kommuniziert, um die Machtstrukturen in Form halten zu können. Der Ausnahmezustand ist schrill und vergänglich, der Belagerungszustand dumpf und auf Dauer ausgelegt. In der Tat definiert sich ein erfolgreicher Belagerungszustand dadurch, dass er sein Ende so lange wie nur irgend möglich hinauszögert. Nicht umsonst beschwören die Apologeten des Belagerungszustands immer wieder die muslimische Gefahr herauf, die Belagerung Wiens durch die Türken.

Der Belagerungszustand schafft eine falsche Gleichheit: Die sind da draußen, wir sind hier drin und alle gleich. Wir haben uns alles gut eingerichtet, können lange bequem überleben, während die Feinde mit dem großen weiten Draußen allein sind, in der Unsicherheit, ganz ohne Wehrmauern, die ihnen Form verleihen könnten. Wer es in diese Festung geschafft hat, der will vermeiden, dass weitere Menschen hereinkommen, denn die Vorräte sind erschöpflich, wie die Festungskommandantur unablässig betont. Die Kommandantur muss im Belagerungszustand keine Vorstellungen von der Zukunft der Gemeinschaft entwickeln. Ihre einzige Sorge gilt der Statik der Mauern.

Über den Druck von außen wird auch Konformität im Inneren erzeugt. Im Belagerungszustand ist es unklug, irgendwie aufzufallen. Man könnte vor die Tore gesetzt werden — und dann gnade einem Gott. Praktisch auch: Zum Elend in der Festung gibt es keinen Vergleich mehr.

Die homogenisierende Wirkung des Belagerungszustands soll die marktgesteuerte Zentrifugalkräfte der heterogenen Gesellschaften einfangen. Ohne Diversität würde er daher ironischerweise nicht funktionieren, obwohl seine Apologeten immer wieder betonen, diese Diversität abschaffen zu wollen. Täten sie dies, brächen Vision und Wirkmacht der Belagerungsphantasie sofort zusammen.

Der Belagerungszustand ist ein schwacher Ersatz für eine Disziplinierung, die nicht mehr hergestellt werden kann, nicht mehr erwünscht ist. Wird er aufgehoben, gleiten die von ihm zusammengepressten Massen sofort auseinander.

Der Belagerungszustand ist ein Gefängnis, das von seinen Insassen gebaut, gewartet und weiter optimiert wird, so lange, bis der imaginierte Gegner nicht mehr sichtbar ist und nur noch in der Erinnerung existiert, wobei die Erinnerung außer den Festungsmauern das einzige ist, was im Belagerungszustand noch mit Hingabe gepflegt wird.

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