Der rechte Schuss zur rechten Zeit

Dieses falsche Foto — erstellt mit ChatGPT — zeigt ein Fahrzeug der deutschen Wehrmacht, gefahren von drei jungen Soldaten, das in einer Märznacht des Jahres 1945 auf einer einsamen norddeutschen Landstraße von einer SS-Streife gestoppt wird, Kurz bevor es zum Feuergefecht kommt.

1945: Fahnenflucht als Volkssport

In den letzten Monaten des Krieges, wird Fahnenflucht in den Nazi-Armeen zu einem Massenphänomen. Hunderttausende Soldaten verlassen ihre Einheiten und versuchen sich nach Hause durchzuschlagen. Tausende von ihnen werden gefasst. Die Vorschriften verlangen, dass Deserteure zum Tode zu verurteilen und hinzurichten sind: durch Erschießungskommando oder Erhängen. Ausnahmen gibt es kaum.

1944 sterben so fast 9000 deutsche Soldaten, und allein zwischen Januar und der Kapitulation im Mai 1945 noch einmal 8000, viele von ihnen Jugendliche. Die Leichen der Erhängten lässt man zur Abschreckung tagelang, wochenlang an Lampen- und Strommasten hängen.

Dennoch gehen immer mehr das Risiko ein. Der Vormarsch der Alliierten scheint unaufhaltsam. In den letzten zwei Monaten des Krieges desertieren über 100 000 Soldaten aus der deutschen Wehrmacht. Zu den jungen Männern, die sich nicht noch so kurz vor der Niederlage für eine verlorene Sache verheizen lassen wollen, gehört WM.

WM bei der Wehrmacht

Wie es dazu kommt, wie seine Kriegsjahre verlaufen, lässt sich nicht mehr vollständig rekonstruieren. Ein autobiographisches Zeugnis mag existiert haben, ein Radio-Text, den WM am 6. Dezember 1955 an den NWDR schicken wird. Die Bundesrepublik ist gerade der NATO beigetreten und erlangt damit ihre Souveränität zurück. Mit der Gründung der Bundeswehr beginnt, nur ein Jahrzehnt nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, die deutsche Wiederbewaffnung . In der Bevölkerung ist sie politisch höchst umstritten. WMs Text entsteht aus diesem Anlass. An seinen Redakteur schreibt er:

„Auch ich gehe mit der Zeit und überreiche Ihnen meine Kriegserinnerungen. Schon im Sommer habe ich damit angefangen. Das Deutsch ist manchmal nicht ganz schön — das war die Absicht des Künstlers. Als Verfasser würde ich vorschlagen, auch den im Text angegebenen Namen zu verwenden: Obergefreiter a.D. Rainer Maria Schulze. In case, natürlich, dass es Ihnen überhaupt gefällt und mit der Politik des Senders zu vereinbaren ist.“

Die beigelegten Erinnerungen sind verschollen. Der an Rilke gemahnende Kunst-Name des Protagonisten legt freilich nahe, dass es sich bei dem Text ohnehin um keinen autobiographischen Tatsachenbericht handelte, sondern — angesichts der bundesdeutschen Aufrüstung — um eine der bitterbösen Satiren, die damals schon WMs Markenzeichen sind.

In späteren Jahren, als er zu einer Person des öffentlichen Lebens geworden ist, viel interviewt und portraitiert, äußert sich WM meist nur andeutungsweise und stets spöttisch; so etwa 2004 im TV-Gespräch mit Günter Gaus:

„Ich war ja bei der deutschen Wehrmacht tätig ein paar Jahre lang, ohne großen Erfolg bedauerlicherweise. Denn ich bin ja nicht mal Gefreiter geworden, was glaube ich keinem Menschen gelungen ist — so lange dabei zu sein, ohne zumindest Obersoldat zu werden …“

Auch WM geht früher nach Hause

Nicht minder lakonisch kommentiert er das Ende seines Wehrdienstes:

„Ich war etwas früher nach Hause gefahren. Mir schien die Sache unheimlich zu werden, weil — da näherten sich die Russen vom Osten, die Amerikaner vom Westen …“

Ähnlich hat Wolfgang schon 1987 meine Fragen beantwortet.

„Nun”, sagt er damals, in seiner Sylter Hängematte schaukelnd, „ich bin verwundet worden und war im Lazarett. Und dann bin ich etwas vorher nach Hause gefahren.“

„Wie darf ich das verstehen?“ frage ich.

„Na, wie nennt man das? Fahnenflucht oder so. Ich wollte natürlich immer weg, aber ich wollte meine Eltern nicht in Gefahr bringen.“ Er stockt und blickt hinauf in den hellblauen Himmel. „Und als ich sah, dass das nicht mehr der Fall war, weil eh alles zusammenbrach, bin ich abgehauen und habe mich versteckt.“

Aber verliefen der Wehrdienst und dessen Ende wirklich so ereignislos?

Aus einem amtlichen Dokument des Jahres 1946 — einem Gnadengesuch an die Hamburger Staatsanwaltschaft, von dem noch die Rede sein wird — geht hervor, dass der knapp 21-jährige nicht nur das Eiserne Kreuz Erster und Zweiter Klasse besaß, also Orden für außerordentliche Tapferkeit, sondern ebenfalls eine Nahkampfspange. Sie erhielt man für besondere Leistungen im Kampf Mann gegen Mann.

Woher stammt WMs Nahkampfspange?

Andererseits mögen diese militärischen Auszeichnungen auch schlicht auf die Kunstfertigkeit seines besten Freundes zurückgehen. Denn dessen Tochter Sabine Hering schreibt, WM sei im Mai 1945 „von Bernd Hering, der als Kunststudent über die notwendigen handwerklichen Fähigkeiten verfügt, aus der Wehrmacht entlassen“ worden. Diese ‚offizielle‘ Legitimierung der Anwesenheit des Fahnenflüchtigen in Hamburg besiegelt ein „Stempel, der aus einem Korken originalgetreu geschnitzt ist“. WM ist begeistert, berichtet Hering: „Voller Übermut möchte er in den Entlassungspapieren auch noch den Vermerk einer Auszeichnung bekommen und lässt sich das Eiserne Kreuz Erster Klasse hineinfälschen.“

Sabine Hering, 1947 geboren und WMs Patenkind, verdanken wir das meiste Wissen, über das, was damals geschah — oder geschehen sein mag. Kurz nach Wolfgangs Tod hat die emeritierte Sozialwissenschaftlerin die Erinnerungen ihrer Eltern dokumentiert, der „letzten noch lebenden Zeitzeugen aus Wolfgang Menges ‚wilden Jahren‘“. Die Anekdoten, die Bernd und Ruth Hering 2012 zu Protokoll geben, kennt ihre Tochter seit Kindertagen. In der Familie waren sie „auf Grund ihres Unterhaltungswertes häufig Gesprächsthema“. Die dokumentarische Integrität der Erzählungen ist freilich gebrochen, wie Sabine Hering betont. Denn in ihnen mischen sich vor Jahrzehnten Erlebtes mit Hörensagen — mit den Selbstdarstellungen WMs in der Kriegs- und Nachkriegszeit gegenüber engen Freunden.

Unbestritten ist, dass WMs Einheit 1943 in Polen stationiert ist. Der 19-jährige trägt Gift bei sich, das er sich von einem befreundeten Arzt besorgt hat. Im Zweifelsfall möchte er bestimmen, wie er stirbt. Denn die Lage ist brenzlig. Im August haben die deutschen Truppen zwar den Aufstand im Warschauer Ghetto mit ungeheurer Brutalität niederschlagen können. Doch der Partisanenkampf der Armia Krajowa, der polnischen Heimatarmee, bringt die Nazi-Besatzer zunehmend in Bedrängnis. Gleichzeitig rückt die Rote Armee zügig gen Westen vor. Im Juli 1944 erreicht sie die ostpolnische Grenze.

Der Trickster im Kessel

Anderthalb Jahrzehnte später, in einer Synopsis zur Verfilmung eines Kriegsromans, wird WM die „Wirklichkeit des Kriegs“ beschreiben, „seine blinde Brutalität, seine gnadenlose Gewalt“.

Sowjetische Truppen kesseln WMs Einheit ein. Er wird leicht verwundet und entschließt sich zu einem Trick. Als ein Flugzeug landet, um Schwerverletzte zu evakuieren, schreibt er sich einen großen Zettel: Er bedürfe dringender Behandlung. Diesen Zettel hängt er sich um den Hals und läuft scheinbar verwirrt um das Flugzeug herum. Bis ein Offizier ihn erblickt und anherrscht:

„Nun steigen Sie doch endlich ein!“

WM gehorcht und gelangt in ein schlesisches Lazarett. Seit seinen frühesten Teenage-Jahren als hartnäckiger Liebhaber des weiblichen Geschlechts bekannt, freundet er sich schnell mit einer Krankenschwester an. Sie besorgt ihm ein Attest, dass er schwerkrank sei. Für eine Weile ist er in Sicherheit.

Doch die Front rückt näher. WM muss genesen und wird einer neuen Einheit zugeteilt. Anfang 1945 erreicht die Rote Armee Schlesien, im März nähert sie sich der österreichischen Hauptstadt. Um die gleiche Zeit überschreiten amerikanische und britische Truppen den Rhein und dringen nach Norddeutschland vor. Hamburg ist ihr strategisches Ziel, um Zugang zu Nord- und Ostsee zu erlangen. Die Stadt liegt unter beständigem Bombardement. Operation Gomorrha. Das Haus, in dem WMs Eltern und die kleine Schwester wohnen, wird getroffen und unbewohnbar. Die Familie flieht aufs Land, an die Ostseeküste.

“Auch ich habe mal einen umgebracht ...”

Als er die Nachricht erhält, befindet sich WMs Einheit in der Nähe von Wien. Nun führt er durch, was er lange schon plante. Zwei Kameraden machen mit. Zusammen stehlen die drei einen Kübelwagen. Zwischen der amerikanisch-britischen und der russischen Front versuchen sie nach Hamburg zu gelangen. Ihr gefährlichster Feind sind jedoch nicht die Alliierten. Aller Vorsicht zum Trotz gelingt es einer SS-Streife, sie zu stellen.

Welches Schicksal Deserteure erwartet, ist den dreien bekannt. Fronterfahren eröffnen sie das Feuer. Und treffen tödlich.

„Das Leben geht seltsame Wege“, wird WM zehn Jahre später, Oktober 1955, im Manuskript einer Radiosendung schreiben, aus Tokio und wohl auf die Toten der Atombombenabwürfe anspielend, wenn auch mit falschen Zahlen:

„Da kann man 480 000 Menschen umbringen und wird dafür mit Orden und Ehren überschüttet und ein anderer, der sich mit einem oder zwei begnügt, wird gebeten, auf einem Stuhle Platz zu nehmen, der mit elektrisch geladenen Drähten versehen ist. Auch ich habe mal einen umgebracht, aus einem Meter Entfernung. Gottlob ist das nie herausgekommen. Unglücklicherweise habe ich noch viel mehr auf dem Kerbholz als das. Niemand wird es mir verübeln, wenn ich die einzelnen Fälle übergehe, sondern nur diese Tatsache allgemein feststelle, in der sicheren Überzeugung, dass mir auch so geglaubt wird.“

Seine Nahkampfspange hat WM sich so oder so verdient.

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Vorheriges Kapitel:
3
Zwischen den Kriegen–Jugend im Dritten Reich

Nächstes Kapitel:
5 Von der Fahnenflucht zum Schwarzhandel — und ins Gefängnis

Englische Fassung:

Introduction: Who Was WM? Investigating a Televisionary: The Life and Work of Wolfgang Menge

https://www.kulturverlag-kadmos.de/programm/details/wer_war_wm

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Gundolf S. Freyermuth

Professor of Media and Game Studies at the Technical University of Cologne; author and editor of 20+ non-fiction books and novels in English and German