Weltreise in den Lokalteil

Dieses gefälschte Foto — erstellt mit ChatGPT — zeigt den 24-jährigen WM Anfang 1949, wie er in seinem britischen Outfit die Büros des Hamburger Abendblatts betritt, wo er als Lokalreporter arbeitet.

Afrika muss warten

Um die Jahreswende 1948/49 kommt WM in Hamburg an. Er plant nur einen kurzen Zwischenstopp, um seine Familie und Freunde zu besuchen, nicht zuletzt seine ehemaligen Kollegen vom German News Service. Die meisten allerdings arbeiten dort nicht mehr. Sie sind zu einer Neugründung gewechselt, einer Tageszeitung, die seit dem 14. Oktober 1948 sechsmal pro Woche mit einer Auflage von 60 000 Exemplaren erscheint. In seinen Anfängen ist das Hamburger Abendblatt acht Seiten dünn und kostet 20 Pfennig. Die Redaktion zählt noch nicht viele Köpfe und hat Unterkunft im vierten Stock eines Hinterhofgebäudes gefunden, das der Volksfürsorge gehört. WM gefällt die Atmosphäre, und ihm gefällt das Konzept.

Die fünf anderen Zeitungen der Hansestadt sind an Parteien und politische Ziele gebunden — sozialdemokratisch, christdemokratisch, konservativ, liberal, kommunistisch. In London hat WM gelernt, parteiliche Berichterstattung und Meinungsjournalismus geringzuschätzen. Das Hamburger Abendblatt aber will überparteilich sein.

„Wir suchen die vernünftigen Stimmen, ob sie von links, von rechts oder aus der Mitte kommen“, verkündet der erst 36-jährige Verleger Axel Caesar Springer im Interview mit dem NWDR.

Auch sonst ist an der Zeitung einiges anders. Etwa der Erscheinungstermin. Die wenigen Druckereien Hamburgs, die den Krieg überlebt haben, sind so gut wie ausgelastet. Springer hat sich lediglich Druckkapazitäten an Nachmittagen sichern können. Für die Auslieferung bleibt nur der Abend. Ungewöhnlich ist nicht zuletzt auch der Verlag, genauer gesagt, der junge Mann, dem er gehört. Über ihn kursieren in der Redaktion kuriose Geschichten. WMs Neugier ist geweckt.

„Ich habe gesagt: ‚Hier fange ich auch an.‘ Und da haben die gesagt: ‚Tut uns leid, wir haben alle Ressorts besetzt.‘“

Nach einigem Hin und Her findet WM heraus, dass tatsächlich nur noch die Position eines Lokalreporters frei ist. Er winkt ab. Ohnehin will er ja nach Afrika.

Doch bevor er weiterreisen kann, schlägt die Liebe zu.

„Bei einem Faschingsfest habe ich ein Mädchen kennengelernt.“

Afrika muss warten.

„Ich bin dann wieder in die Redaktion gegangen und habe gesagt: gut, ich mache den Lokalreporter.‘“

WM lernt literarische Reportagen

WM beginnt zu erproben und zu verfeinern, was er in Wilton Park und London gelernt hat und was schließlich sein künstlerisches Werk charakterisieren wird: eine zugleich authentische und narrative Aufbereitung von Fakten, die in gründlicher eigener Recherche ermittelt wurden. Er schreibt „Tatsachenberichte“, wie man damals sagt, um dergleichen Texte von der Mehrheit anderer journalistischer Gebrauchsformen zu unterscheiden, die auf offiziellen Verlautbarungen, Agenturberichten und vorgefassten Meinungen beruhen. Drei Jahrzehnte später, als ich um 1980 im Journalismus anlande, nur wenige Monate älter als WM 1949, spricht man von „Reportagen“. Sie dürfen mehr oder weniger literarisch ausfallen, besser weniger.

Viele der kleineren Beiträge und Meldungen, die WM für das Hamburger Abendblatt verfasst, werden nicht namentlich gekennzeichnet und sind daher kaum mehr aufzufinden. Aber bereits die wenigen gesicherten Texte demonstrieren die Vielfalt der Themen und Formen.

Thor Heyerdahls legendäre Kon-Tiki-Expedition etwa schildert WM im April 1950 so, dass man sich dabei im Pazifik wähnt, in Augenzeugenschaft — um dann zu erfahren, dass die Schilderung auf einem Gespräch mit einem Gefährten Heyerdahls beruht, den der Lokalreporter in Hamburg traf.

Ebenso erleben wir im Oktober desselben Jahres aus romanhafter Nähe die Partnersuche eines einsamen Mannes und einer nicht minder einsamen Frau — von seiner nach viel Zögern aufgegebenen Kontaktanzeige über ihre Antwort, Treffen im Kino und den ersten Kuss bis zu Verlobung, Schwangerschaft und Hochzeit. Die Pointe der anrührenden Geschichte kommt, wie es sich gehört, am Schluss, in einer Nachschrift: Das Paar hat ein Album eingesandt, mit Eintrittskarten, Rechnungen und Fotos, das ihre Annäherung bis zur Verehelichung dokumentiert. Damit haben die beiden das Anzeigen-Preisausschreiben des Hamburger Abendblatts gewonnen.

Eine andere Recherche führt in die Vergangenheit: Im April 1951 ermittelt WM die wenigen noch lebenden Männer, die am Bau des Elbtunnels beteiligt waren, der exakt vierzig Jahre zuvor begann. Das Ergebnis summiert der Titel: „Affe ist tot — aber Tunnel lebt.“

Klonen bis es Kracht

Vier Jahrzehnte, nachdem diese Reportage erschien, an einem Wintertag Ende 1992, sitzen Wolfgang und ich an seinem Schreibtisch in der Zehlendorfer Klopstockstraße. Nebeneinander, wie wir es immer tun, wenn er mir Computerprobleme vorführt, in der Hoffnung, dass ich sie löse. Oder dass sie sich wenigstens zeigen. Denn er beschuldigt mich immer mal wieder, allein durch meine Anwesenheit die Fehlfunktionen zu vertreiben, die ihn tagelang zuverlässig geplagt haben — wodurch er unglaubwürdig erscheine. Ich sage dann:

„Du suchst doch nur Vorwände, um mich herzulocken. Damit du nicht arbeiten musst!“

Ich bin damals Chefreporter des Hamburger Zeitgeist-Magazins Tempo. Das Telefon klingelt, Wolfgang nimmt ab. Ich stehe auf, strecke die Beine — und entdecke dabei im Regal eine offene Schachtel mit Fotografien. Obenauf liegt ein Schwarzweißbild: Es zeigt vier Männer mit Sonnenbrillen, in einer Art Stadion. Der Abzug scheint Jahrzehnte alt. Doch einen der vier erkenne ich sofort. Ich habe ihn erst vorgestern gesehen. Keinen Tag älter als auf dem Bild.

Wolfgang legt auf.

„Das ist ja Christian Kracht!“, sage ich, irritiert, und deute auf die Schachtel.

Wolfgang sieht mich überrascht an. „Woher kennst du den?“

„Er ist einer unserer Redakteure.“

„Sehr witzig!“ Wolfgang nimmt das Foto aus der Schachtel. „Christian ist älter als ich. Der muss heute über Siebzig sein. Er lebt in der Schweiz. Steinreich.“ Mit dem Zeigefinger deutet er auf die anderen. „Das bin ich. Als ich beim Abendblatt war. Daneben Wilhelm Schulze, unser Chefredakteur. Und das links ist der Springer. Wir waren beim Seifenkistenrennen, dem ersten in Hamburg nach dem Krieg.“

„Die beiden Krachts sind nicht Vater und Sohn“, sage ich, „die sind geklont.“

„Mach einen Stoff draus“, grinst Wolfgang. „Aber erstmal“, er zeigt auf den Macintosh vor uns, „reparier das Ding hier.“

Wer schreibt, bleibt arm — zumindest ärmer

WM hat Christian Kracht, den Senior, als journalistischen Kollegen beim Hamburger Abendblatt kennengelernt. Sie freunden sich an. Als das Foto um 1950 entsteht, ist Kracht mit 29 Jahren im selben Alter wie sein Sohn später bei Tempo; drei Jahre vor dem Roman Faserland, der ihn als Schriftsteller etablieren wird.

Vater Christian Kracht entscheidet sich damals für eine andere Zukunft. Während WMs Lebensziel Autorschaft ist — er will erzählen, Bedeutendes schreiben –, strebt Freund Christian eine Verlagskarriere an.

„Du denkst, dass ich viel Geld habe“, sagt Wolfgang und legt die Fotografie wieder in die Schachtel. „Das stimmt auch. Für einen, der schreibt. Aber du kannst dir gar nicht vorstellen, wie viel weniger das ist, als die meisten gemacht haben, mit denen ich damals in Hamburg anfing. Ich bin eigentlich der arme Freund.“

Wie Richard Gruner gehört auch Christian Kracht zu den frühen Freunden WMs, die Millionen in zwei- und dreistelliger Zahl verdienen. Vom Assistenten des Verlegers steigt er zum Generalbevollmächtigten und stellvertretenden Vorsitzenden des Springer-Aufsichtsrats auf. In den 1960er Jahren ist er mit einem Jahresgehalt von weit über einer Million Mark bestbezahlter Manager der Bundesrepublik. Er wohnt neben dem Verleger, deckt dessen Affären und wickelt auch eine notwendige Scheidung ab.

Seinen schnellwachsenden finanziellen Wohlstand hat Kracht mit einigen anderen gemeinsam, die ihr Leben oder zumindest entscheidende Jahrzehnte Axel Caesar Springer und seinen willkürlichen Launen opfern, etwa auch WMs Freund Peter Boenisch. Denn im Springer-Verlag verdienen „Topmanager Summen, mit denen man anderswo ganze Firmen unterhalten könnte“, und wenn es zum Ende kommt, zur Trennung, dann sind „königliche Abfindungen“ die Regel.

So beschreibt Michael Jürgs — bei stern wie Tempo mein Chefredakteur, und selbst beide Male am Ende gut abgefunden, nur eben nicht so gut, da diese Magazine in anderen Verlagen erschienen— die Usancen in seiner Springer-Biographie. Sie birgt aufschlussreiche Details über die Geschichte von Verlag und Eigentümer. Denn Springers politisch problematischer Aufstieg zum mächtigsten Verleger Deutschlands — bei dem ihm Christian Kracht entscheidend assistiert — wird dafür sorgen, dass WM seine Ambitionen im Print-Journalismus schließlich begräbt, um Ruhm und Erfolg in anderen Medien zu finden.

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Vorheriges Kapitel:
8 Im Paradies, bis zur Vertreibung

Nächstes Kapitel:
10 Was nach dem Krieg normal ist

Englische Fassung:

Introduction: Who Was WM? Investigating a Televisionary: The Life and Work of Wolfgang Menge

https://www.kulturverlag-kadmos.de/programm/details/wer_war_wm

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Gundolf S. Freyermuth

Professor of Media and Game Studies at the Technical University of Cologne; author and editor of 20+ non-fiction books and novels in English and German