Von der Fahnenflucht zum Schwarzhandel

Gundolf S. Freyermuth
6 min readMay 12, 2024

Und weiter ins Gefängnis. Kapitel 5 von Wer war WM: Auf den Spuren eines Televisionärs: Wolfgang Menges Leben und Werk

Dieses falsche Foto — erstellt mit ChatGPT — zeigt einen Hamburger Hinterhof im Juli 1945: Der 21-jährige WM und sein ehemaliger Kamerad, der “Kaufmann” Wunderlich, kommen ins Geschäft.

Versteckt in Hamburg

Anfang April 1945 schlagen sich die drei Fahnenflüchtigen nach Hamburg. Zur selben Zeit erobert die britische Zweite Armee Hannover und Bremen. Hamburg aber ist noch unter nationalsozialistischer Kontrolle. WM muss sich verstecken. Eine Weile nächtigt er im Keller des leerstehenden schwedischen Generalkonsulats. Sein Freund Bernd Hering bringt ihm Essen. WM erfährt, dass einer seiner beiden Kameraden gefasst und erschossen wurde. In steter Todesgefahr feiert er am 10. April seinen 21. Geburtstag.

Eine Woche später nähern sich britische und kanadische Truppen von Westen her Hamburg. Schwere Kämpfe um die äußeren Verteidigungsanlagen der Stadt beginnen. WM ist nun bei Freunden untergeschlüpft. Sie besitzen eins der seltenen Telefone.

„Nach wie vor hat er Angst, als Deserteur erwischt zu werden“, beschreibt Patentochter Sabine Hering die prekäre Situation. Tagelang ruft WM „die Ortsämter zwischen der holländischen Grenze und Hamburg an und erkundigt sich, ob dort die Engländer ‚schon durch‘ sind“.

WM plant ein Attentat

Am 30. April verbreitet sich eine sensationelle Nachricht wie ein Lauffeuer, erst in Berlin, dann im gesamten Reich. In seinen Memoiren schildert Will Tremper, bald ein enger Freund WMs, die chaotischen Geschehnisse in der Reichshauptstadt:

„Kollege Lothar Loewe, der spätere SFB-Intendant, lief in Halensee den Kurfürstendamm hinunter, in der Hand eine italienische Beretta, als er auf dem Flachdach des Mendelssohnbaus am Lehniner Platz, in dem sich heute die Schaubühne befindet, zwei Sowjetsoldaten sah, die einen Granatwerfer aufbauten. Erschrocken warf sich Luftwaffenhelfer L. L. hinter einen Baum, und dabei lösten sich aus seiner nervösen Maschinenpistole ein paar Schuss. Worauf sich hinter ihm, an der Ecke Nestorstraße, die Haustür öffnete und ein oller Luftschutzwart herausrief: ‚Hör uff, Junge, der Hitler ist doch tot!‘“

Der „Führer“ hat Selbstmord begangen. Sein Nachfolger als Staatsoberhaupt und Oberbefehlshaber der Wehrmacht wird Großadmiral Karl Dönitz. Seine Regierung residiert in Flensburg-Mürwik, keine zwei Autostunden von Hamburg entfernt. Am 1. Mai ernennt Dönitz Joseph Goebbels zum Reichskanzler. Aber auch der nimmt sich das Leben, noch am selben Tag.

Die langen Wochen des Versteckens und der Lebensgefahr zerren an WMs Nerven. Um den Krieg endlich zu beenden, ist er bereit, alles zu riskieren. Er ist immer noch im Besitz seiner Dienstwaffe und plant, Dönitz zu erschießen. Bernd Herings Mutter Luise kann ihm dieses Attentat nur mit Mühe ausreden.

Fälschung, Fälschung, überall

Am 3. Mai kapituliert Hamburg. WM erkennt die neue Situation daran, dass im Radio plötzlich die — von ihm verehrten — Andrews Sisters singen. Britische Truppen besetzen die Stadt und verhängen das Kriegsrecht. Eine strenge Ausgangssperre gilt. Die Bewohner werden entwaffnet. Aktive Wehrmachtsangehörige müssen sich auf dem HSV-Sportplatz einfinden.

Für den Fahnenflüchtigen bedeutet das eine neue Gefahr. Ihm droht die Internierung durch die Briten. Um der Kriegsgefangenschaft zu entgehen, lässt sich WM von seinem Freund, dem Kunststudenten Bernd Hering, gefälschte Entlassungspapiere ausstellen. Am 8. Mai autorisiert Großadmiral Dönitz die bedingungslose Kapitulation der Wehrmacht. Der Wahnsinn des Krieges endet. Ein neuer, der ganz andere Wahnsinn der Übergangszeit beginnt.

Dreißig Jahre später, während der Recherche für einen Fernsehfilm, kopiert WM einen Eintrag, den Erich Kästner am 24. Mai 1945 in sein Tagebuch geschrieben hat:

„Julius Streicher hat man bei Berchtesgaden eingefangen. Himmler hat sich, in englischer Haft, mit Zyankali vergiftet. Als man ihn festnahm, hatte er sich den Schnurrbart abrasiert, und trug über einem Auge eine schwarze Klappe. Robert Ley hatte sich einen Bart wachsen lassen. Es geht zu wie im Maskenverleih-Institut. Oder wie in Gangsterfilmen. Der Würdelosigkeit sind keine Grenzen gesetzt. Die Katastrophe endet als Jux und Kintopp. Das Gesicht der Herrenrasse mit auswechselbarem Schnurrbart!“

Die Lautsprecher, die Deutschland wieder groß machen wollten — zu Großdeutschland — und sich nun so elendig aus dem Staub machen, hinterlassen ein verwüstetes Land. In den Monaten nach dem Ende des Dritten Reichs ist Hamburg nicht nur die zweitgrößte Stadt Deutschlands, sondern auch das zweitgrößte Trümmermeer des europäischen Kontinents, bevölkert von Hunderttausenden Obdachlosen.

Überall aber beginnen bereits die Aufräumungsarbeiten. Die ausgemergelte Bevölkerung legt eine verblüffende Energie beim Wiederaufbau an den Tag. Bewundernswert meinen viele in der Militärverwaltung, andere erkennen in der Arbeitswut Züge manischer Verdrängung. Probleme bereitet die Versorgung der Bevölkerung mit den notwendigsten Lebensmitteln. Während es in den Geschäften kaum etwas zu kaufen gibt und falls, dann nur gegen knappe Lebensmittelkarten, blüht der illegale Schwarzhandel. Trotz der Androhung härtester Strafen.

Der große Zucker-Deal

WM kann sich ein kleines Zimmer mieten. Doch er besitzt keine Möbel, kein Geld, keinen Beruf. Und er leidet Hunger. Diese Notlage wird sein Strafverteidiger später in einem Schreiben an die Hamburger Oberstaatsanwaltschaft — es trägt übrigens das Datum des 29. April 1846 (!) — so schildern:

„Der Verurteilte kam von der Front nach Hause und fand seine Eltern ausgebombt vor, seine Zivilkleidung und seine Zimmereinrichtung waren vernichtet. Sein Vater hatte seit Januar 1945 nichts mehr verdient, so dass die Familie von der Substanz leben musste. Diese war sehr gering, da sein Vater durch die damaligen politischen Verhältnisse in seiner kaufmännischen Tätigkeit sehr eingeschränkt war (kein Pg, seine Ehefrau Jüdin). Der Verurteilte war also ganz auf sich selbst angewiesen. Er hatte keine Arbeit und Beschäftigung, die ihn von all den Einflüssen der Großstadt hätten fernhalten können, die — begünstigt durch eine außerordentliche Mangellage auf allen Gebieten und durch das Fehlen einer straffen staatlichen Ordnung — an allen Straßenecken die verlockendsten Geschäfte direkt anbot.“

WM selbst wird sein Handeln, das ihn ins Gefängnis bringt, in einem späteren Antrag auf ein polizeiliches Führungszeugnis recht ähnlich erklären:

„Da die staatliche Planung die Lenkung der Wirtschaftsgüter nicht so vornehmen konnte, dass den in der Not Befindlichen geholfen werden konnte, ja, dass sogar nicht einmal ein solcher Wille bei den meisten behördlichen Organen zum Ausdruck kam, glaubte ich, mich in einer Art Notwehr zu befinden.“

Was der 21-jährige in seiner Zwangslage schließlich tut, erscheint aus heutiger Perspektive überaus harmlos. Im Juli 1945 stößt er auf einen Kriegskameraden, einen Kaufmann mit dem schönen Namen Wunderlich. Der bietet ihm sieben Säcke Zucker zum Weiterverkauf an — in der Sprache der Zeit: zum Verschieben, auf dem Schwarzmarkt. WM wird erwischt und am 6. März 1946 „wegen fortgesetzten Verbrechens gegen die Kriegswirtschaftsverordnung zu 7 Monaten Gefängnis und RM 1.000 Geldstrafe verurteilt“.

Der Trickster im Knast

Trotz des Gnadengesuchs, das sein Verteidiger im Namen des Vaters Otto Menge im April eingereicht hat, muss er im Herbst die Strafe antreten.

Seine ungewöhnliche Belesenheit verschafft ihm immerhin die Position eines Gefängnisbibliothekars. Auch sonst weiß der Häftling sich zu helfen.

„Bei einem Freigang“ schreibt seine Patentochter, „trifft er bei Luise Hering mit einer großen Anzahl von Zigarettenpäckchen ein und bittet sie, diese in das Futter seiner Steppjacke einzunähen. Damit besticht er die Aufsichtsbeamten.“

Am 14. Dezember 1946 gewährt die Staatsanwaltschaft schließlich Strafaussetzung. Am Tag darauf wird WM auf Bewährung entlassen. Er kann Weihnachten mit seinen Eltern feiern. Als Gegenleistung muss er zusätzlich zur bereits verhängten Geldstrafe weitere 2000 Reichsmark zahlen, „in monatlichen Raten von 500.- RM, beginnend am 1.1.47“. Die Bewährungsfrist endet am 31. Dezember 1949. „Bei tadelloser Führung wird nach Ablauf der Frist die Reststrafe erlassen.“

Über seine Verurteilung und die Monate im Gefängnis spricht er in späteren Jahren ungern. Wenn möglich, gar nicht. Die Zeit nach dem Kriegsende nennt er schlicht „ein erstes Durchatmen“.

Es endet mit der Notwendigkeit, sich der Berufsfrage zu stellen. Auch, um ab Januar 1947 die monatlichen Raten seiner Geldstrafen zahlen zu können.

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4
Der rechte Schuss zur rechten Zeit

Nächstes Kapitel:
6 Wer nichts gelernt hat, wird Journalist
(Link folgt am 19. Mai)

Englische Fassung:

Introduction: Who Was WM? Investigating a Televisionary: The Life and Work of Wolfgang Menge

https://www.kulturverlag-kadmos.de/programm/details/wer_war_wm

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Gundolf S. Freyermuth

Professor of Media and Game Studies at the Technical University of Cologne; author and editor of 20+ non-fiction books and novels in English and German