Was nach dem Krieg normal ist

Dieses gefälschte Foto — erstellt mit ChatGPT — zeigt die Hamburger Familie Meyer 1950 in ihrer gerade neubezogenen Wohnung. Lokalreporter WM befragt sie nach den 2500 Tagen und Nächten, die sie seit ihrer Ausbombung 1943 in Notunterkünften verbracht haben.

Radioprogramm zum Mitschreiben

Der Nordwestdeutsche Rundfunk (NWDR) nimmt keine fünf Monate nach Kriegsende seinen Sendebetrieb auf — unter britischer Aufsicht und aus dem unzerstörten Sendegebäude des ehemaligen Reichssenders Hamburg an der Rothenbaumchaussee, gegenüber dem German News Service. WM wird dort bald arbeiten und ab Anfang 1951 auch beim NWDR.

Doch wie erfahren die Menschen, was wann im Radio läuft?

„Die Rundfunksender wünschen, wie auch die Bevölkerung, eine Programm-Zeitschrift“, schreibt Axel Caesar Springer 1946 an die britische Militärregierung. „Der heutige Zustand der Durchgabe des Programms (B.B.C.-London fordert beispielsweise allwöchentlich seine Hörer auf, mit Bleistift und Papier das Programm der Woche zu notieren) kann nur eine Notlösung sein …“

Der Antrag auf Gewährung einer Lizenz zur Herausgabe einer Programmzeitschrift, den Axel Caesar Springer gemeinsam mit seinem Vater Hinrich stellt, wird von der britischen Militärregierung genehmigt. Im Dezember 1946 erscheint die erste Ausgabe von Hörzu! Die Rundfunkzeitung, zwölf Seiten dünn. Als Chefredakteur hat Springer den Erfinder und Romanautor Eduard Rhein verpflichtet. Denn der betreute schon in den 1920er Jahren im legendären Berliner Ullstein-Verlag eine Hörfunkzeitschrift. Nun entwickelt er das Erfolgskonzept für Hörzu.

Die Startauflage beträgt 250 000 Exemplare. Rhein wird sie in den zwei Jahrzehnten, die er Chefredakteur bleibt, auf 4,5 Millionen steigern. Die zuverlässig steigenden Einnahmen der Hörzu finanzieren den Aufstieg des Springer-Verlags, die Gründung neuer Zeitungen und Zeitschriften, den Ankauf anderer, darunter Die Welt, und schließlich sogar die Übernahme des neugegründeten Nachkriegs-Ullstein-Verlags.

Tokio-Schulze entdeckt WMs literarisches Talent

Schon nach anderthalb Jahren erlauben die hohen Einnahmen aus der Programmzeitschrift den Start einer Tageszeitung.

„Dass Sie hier sitzen, verdanken Sie der Hörzu.“

Diesen finanziellen Umstand verkündet Verleger Springer der Redaktion des Hamburger Abendblatts im Oktober 1948 unverblümt. Um den Erfolg sicherzustellen, hat er als Chefredakteur wiederum einen erfahrenen Ullstein-Veteranen verpflichtet, den 52-jährigen Wilhelm Schulze. An ihn, den Mann, der ihn Anfang 1949 als Lokalreporter einstellt, erinnert sich WM mit viel Sympathie.

„Der war Chefredakteur schon vor den Nazis. Und bekam Ärger mit denen. Da haben ihn die Ullsteins 1934 auf einen Posten geschickt, den es vorher gar nicht gegeben hat, nämlich Korrespondent in Japan. ,Tokio-Schulze‘ hieß er seitdem. Der hat mich liebgewonnen, weil er glaubte, bei mir eine literarische Ader entdeckt zu haben.“

Das Talent, das Wilhelm Schulze in seinem jungen Lokalreporter erkennt, demonstriert eine Reportage, die im August 1950 im Hamburger Abendblatt auf Seite 8 steht. Sie trägt den Titel „Ein ganz normales neues Haus“ und beschreibt „sieben Jahre Not und Sorgen“ beziehungsweise deren endliches Ende. WM recherchiert und schreibt sie nach den Regeln journalistischen Handwerks. Doch scheint individuelle Autorschaft durch, eine sehr persönliche Handschrift.

Ein neues Leben im neuen Haus

„Es ist nichts Besonderes an diesem Haus. Kein Mord, keine Gasexplosion. Kein Filmstar wohnt hier, auch kein Minister. Seit es vor wenigen Wochen — nach dem Wiederaufbau — bezogen wurde, hängt jeden Morgen um 7 Uhr der Bäcker die Brötchen an den Türknopf. Später klingelt der Postbote, zwischendurch Hausierer, Bettler, Vertreter und — natürlich die Bewohner dieses Hauses. 42 Menschen. Wenn eben gesagt wurde, es sei nichts Besonderes an diesem Haus, dann gilt es natürlich nicht für diese 42. Für sie bedeutet das Haus viel. Wendepunkt im Leben, wenn man sich so hochtrabend ausdrücken darf. Ein Punkt hinter dem Lebenskapitel von sieben Jahren Wirren, Sorgen und Angst. — Wahllos haben wir an drei Türen dieses Hauses geklingelt und wollen uns nun von den Menschen über die Zeit dazwischen erzählen lassen. Von den sieben Jahren oder den rund 2500 Tagen und 2500 Nächten.“

Schon die Themenwahl beweist WMs Interessen, seine Empathie und auch eigene Betroffenheit. Gemessen am Durchschnitt der Bevölkerung verdienen Journalisten in der Nachkriegszeit recht gut. Und Springer zahlt noch ein bisschen besser als die meisten Verlage. Dennoch hat die Rückkehr aus London WM mit Elend und Einschränkungen konfrontiert, die in Großbritannien unbekannt sind. Um 1950 lebt in Hamburg immer noch die Mehrheit der Menschen zu mehreren in wenigen Zimmern. Wie WMs ausgebombte Eltern und seine Schwester Marianne. Sieht man von den Villen der hanseatischen Oberschicht ab — zu der auch einige neureiche Verleger und Chefredakteure zählen –, verfügt kaum ein Haus über fließend Warmwasser oder gar funktionierende Badezimmer. Der Neubau und die Wiederherstellung von Wohnraum schreiten nicht schnell genug voran.

Von den drei Familien, die WM besucht, weil sie das große Glück hatten, in eins der wenigen wiederhergestellten Miethäuser einziehen zu können, haben die Meyers es ihm besonders angetan. Sie wurden am 27. Juli 1943 ausgebombt. Operation Gomorrha. Seitdem haben sie in zweieinhalb Zimmern zur Untermiete gewohnt und sich eine neun Quadratmeter kleine Küche mit drei anderen Familien teilen müssen. Ludwig Meyer, Anfang Sechzig, ist Steuerberater, seine Frau Anna Hausfrau und Mutter zweier erwachsener Kinder. Die Tochter Anneliese ist 24 Jahre alt und Volksschullehrerin.

Der verlorene Jahrgang 1924

Der Sohn Hans-Wilhelm, schreibt WM, „ist Jahrgang 1924. Der Jahrgang übrigens, der durch den letzten Krieg — laut Statistik — am schwersten betroffen wurde. Von hundert Jungen dieses Jahrgangs sind heute noch 37 gesund. Hans-Wilhelm gehört nicht zu den 37. Drei Tage, nachdem die Meyers ihre Wohnung verloren hatten, wurde er schwer verwundet.“

Kopfschuss, erfahren wir; irgendwo vor Moskau. Zusammengeflickt hat man Hans-Wilhelm in einem Warschauer Lazarett. Wie krank er noch ist, bleibt offen. Doch nun, nachdem die Meyers 3500 Mark Baukostenzuschuss aufbringen konnten, zusätzlich zur Miete, haben sie wieder ein Zuhause.

„Die Kacheln über den Waschbecken mussten gesondert bezahlt werden, und die Ofenrohre wurden mit Aluminiumbronze bepinselt. An den ersten acht Tagen in der neuen Wohnung wurde das Schlüsselloch täglich mit frischen Blumen bekränzt. — Ja, so sahen die sieben Jahre bei Meyers aus. Sieben Jahre mit rund 2500 Tagen und 2500 Nächten. Sieben Jahre voller Angst, Sorgen und Wirren. — Eigentlich nichts Außergewöhnliches an diesen Erlebnissen, nicht wahr? Wir haben doch alle Ähnliches erlebt. Sehen Sie, schon die Nachbarn von Meyers …“

Das sind die Rückerts, wie WMs Reportage weiter berichtet. Es könnten aber auch die Menges sein, Golditza und Otto mit ihrer Tochter Marianne. Denn die beiden Familien wurden im selben Juli vor sieben Jahren ausgebombt. Nur dass WM, der wie Hans-Wilhelm Meyer an der Ostfront kämpfte, zu den glücklicheren 37 Prozent des Jahrgangs 1924 zählt.

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9 Weltreise in den Lokalteil

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11 Neue Autos, alte Nazis

Englische Fassung:

Introduction: Who Was WM? Investigating a Televisionary: The Life and Work of Wolfgang Menge

https://www.kulturverlag-kadmos.de/programm/details/wer_war_wm

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Gundolf S. Freyermuth

Professor of Media and Game Studies at the Technical University of Cologne; author and editor of 20+ non-fiction books and novels in English and German