Wer nichts gelernt hat, wird Journalist

Dieses gefälschte Foto — erstellt mit ChatGPT — zeigt WM Anfang 1947 in Hamburgs Vergnügungsviertel Reeperbahn, sich als Fotojournalist versuchend.

Sehnsucht nach Objektivität

WM ist 22 Jahre alt und hat sein Leben noch vor sich. Der Nazi-Diktatur und dem Weltkrieg ist er haarscharf lebend entkommen und der Nachkriegs-Haft immerhin auf Bewährung. Aber er steht unter dem Druck, Geld zu verdienen, um seine Strafe bezahlen zu können und nicht zurück ins Gefängnis zu müssen. Anfang 1947 entscheidet er sich für etwas, das ihn reizt und nicht allzu schwierig erscheint: eine Ausbildung als Fotoreporter.

Die Fotografie umgibt eine Aura von Objektivität, vermeintlich garantiert durch das Objektiv. Fotografen gelten als Agenten der Authentizität, ihre Schnappschüsse als Korrektiv zu den Propaganda-Lügen, die während des Krieges die Nationalsozialisten in Schrift und gebrülltem Wort verbreiteten. Der Fotojournalismus ist zudem ein modernes Medium. Kameras mit kurzen Verschlusszeiten sowie schneller Massendruck fotografischer Abbildungen sind Erfindungen des frühen 20. Jahrhunderts. Die ersten Illustrierten und Nachrichtenmagazine, die mit Fotografien operieren, erscheinen in Deutschland seit den 1920er Jahren und seit den 1930er Jahren auch in den angelsächsischen Ländern; befördert durch das Knowhow geflüchteter deutscher Journalisten.

„Ich bin eine Kamera mit offenem Verschluss, nehme nur auf, registriere nur, denke nichts“, schreibt Christopher Isherwood Mitte der 1930er Jahre in Leb’ wohl, Berlin. Der Satz ist programmatisch. Das junge Medium des Fotojournalismus, kaum älter als WM, gibt das Vorbild für eine Berichterstattung, die sich an Tatsachen orientiert — für eine sachliche Speicherung von Wirklichkeit als Gegengift zur subjektiven Parteilichkeit und Meinungsmache in Presse und Radio. Fotojournalisten und vor allem Kriegsreporter werden in den 1930er und 1940er Jahren zu Stars. Einer der bekanntesten ist Robert Capa. Inmitten von Gewalt und Chaos gelingt es ihm, einzigartige und existentielle Momente festzuhalten. Fotos wie „The Falling Soldier“ aus dem Spanischen Bürgerkrieg und die Serie „The Magnificent Eleven“ von der alliierten Landung in der Normandie prägen die kollektive Wahrnehmung. Andere Fotojournalisten, die weltweite Bekanntheit erlangen, weil sie gefährliche Augenblicke und auch Entsetzliches einfangen, sind W. Eugene Smith, Margaret Bourke-White und Lee Miller. Millers Aufnahmen etwa zeigen den Londoner Blitz, die Befreiung von Paris und die unermesslichen Schrecken der Konzentrationslager in Buchenwald und Dachau.

Fotojournalisten beliefern damals allerdings nicht nur die Medien, sie werden auch in Zeitungen und Magazinen porträtiert, später sogar in Spielfilmen wie Alfred Hitchcocks Fenster zum Hof (1954) oder Michelangelo Antonionis Blow Up (1966) verherrlicht. Vielen jungen Menschen erscheint Fotoreporter daher als Traumberuf.

Was aus ihm werden wird, kann WM nicht wissen. Ein Stück weit aber erschafft er sich, den eigenen Neigungen und Faszinationen folgend, seine Zukunft selbst. Sein engster Freund wird in den 1950er Jahren ein Mann werden, der 1944 noch als Hitlerjunge seine Ausbildung zum Fotokriegsreporter begonnen hat. Und eine seiner heftigsten Affären wird er Mitte der 1950er Jahre mit einer jungen Frau haben, die eine der berühmtesten Fotoreporterinnen der Welt ist. Um aus der Fo­lie à deux auszubrechen, wird WM Europa verlassen und nach Asien gehen.

Jetzt aber, im Frühjahr 1947, verschafft er sich erst einmal Teile der notwendigen teuren Ausrüstung und beginnt zu üben. Sein Freund Bernd Hering, der inzwischen an der Hamburger Hochschule für Bildende Künste studiert, vermittelt ihm einen Termin mit einem Professor für Fotografie. Die Begegnung mit dem ehemaligen NSDAP-Mitglied verläuft allerdings so unerfreulich, dass WM seine Pläne sofort begräbt.

Traum vom Kabarett

Ohnehin träumt der Vielleser von anderem: „Ich wollte irgendetwas mit Schreiben zu tun haben. Meine Neigung ging eher in Richtung Kabarett.“

Immer wieder besucht er Live-Vorstellungen, die in einem Eppendorfer Kino stattfinden. Besonders begeistern ihn zwei Künstler: Werner Finck und Heinz Erhardt. Finck hatten die Nazis erst im Konzentrationslager Esterwegen eingesperrt und dann Berufsverbot erteilt. Nun gibt er das erste Nachkriegs-Satiremagazin heraus. Heinz Erhardt arbeitet im NWDR-Radio und wird schnell zum populärsten Film- und Fernseh-Komiker der jungen Bundesrepublik aufsteigen.

Doch Texte dieser Art und Qualität zu schreiben, traut WM sich nicht zu. Noch nicht.

„Das war zunächst einmal unerreichbar für mich, und deswegen habe ich mich halt umgesehen, was es in diesem Metier sonst noch alles gibt.“

Journalismus als Kompromiss — zwischen Information und Meinung

Als Brotberuf bieten sich Varianten des Journalismus an, die schriftbasiert sind — Zeitungen bzw. Zeitschriften und das Radio. Die traditionelle Presse ist 100 Jahre älter als der Fotojournalismus. Ihr Aufstieg verdankt sich dem Informations- und Orientierungsbedürfnis der Massen, die sich in den schnell wachsenden industriellen Metropolen zu Hunderttausenden und bald Millionen ballen. Automatisierte Druckpressen können seit den 1830er Jahren binnen weniger Stunden Kopien in fünf-, sechs-, schließlich siebenstelliger Zahl herstellen. Aus Zeitungen werden „Massenblätter“. Sie vermitteln Aktuelles, oft mit mehreren Auflagen pro Tag.

In den Klassen- und Kulturkämpfen der Industrialisierung werden freilich Meinungen, die Orientierung offerieren, allemal so wichtig wie Informationen. Von der Gründung des deutschen Kaiserreichs bis in die letzten Tage der Weimarer Republik florierte eine heute kaum noch vorstellbare Anzahl von Zeitungen und Zeitschriften. In Berlin allein existierten zeitweise rund 150 Tageszeitungen. Sie bedienten mit bewusster Parteilichkeit konfessionelle wie politische Ideologien, katholisch und protestantisch, sozialdemokratisch, sozialistisch und kommunistisch, konservativ, nationalistisch und schließlich nationalsozialistisch. In dieser Diversität der Presse spiegelte sich die gesellschaftliche Fragmentierung. Bis 1933 die sogenannte „Gleichschaltung“ — die gewaltsame Anpassung des sozialen, politischen und kulturellen Lebens an die nationalsozialistische Ideologie — alle Vielfalt beendete.

Nicht anders verfuhren die Nationalsozialisten mit dem gerade ein Jahrzehnt jungen Radio. Viele Intellektuelle, darunter Albert Einstein, glaubten an die demokratisierende Wirkung des neuen Mediums. Doch Geräte und die notwendige Empfangslizenz waren teuer. 1932 waren nur vier Millionen Radios in Betrieb. Die Nationalsozialisten erkannten das gewaltige Propagandapotential. Nach der Machtübernahme unterwarfen sie die existierenden Sender ihrer Kontrolle und sorgten dafür, dass alle Programme die Ideologie und die Ziele des NS-Regimes unterstützten. Großangelegte Kampagnen verbreiteten Antisemitismus und Kriegshetze. Gleichzeitig gelang es mit der Produktion des billigen Volksempfängers, die Zahl der zugelassenen Geräte bis 1938 auf zwölf Millionen zu verdreifachen. Vor ihnen saß, als die Nazis ihre Angriffskriege und den Holocaust propagierten, die Mehrheit der Deutschen. Legale Alternativen zu den gleichgeschalteten NS-Medien existierten nicht. Allenfalls konnte man heimlich verbotene „Feindsender“ hören.

Von der Nazi-Propaganda zur demokratischen Presse

Die siegreichen Alliierten wissen um die fatale Rolle, die der deutsche Journalismus beim Niedergang der Weimarer Republik und dem Aufstieg der NS-Diktatur spielte. Unmittelbar nach Kriegsende beginnen die Briten in ihrer Besatzungszone, mit den Zentren Hamburg und Hannover, den (Wieder-)Aufbau demokratischer Medien. Die natürliche Knappheit der Frequenzen verhindert, solange terrestrisch gesendet werden muss, eine größere Anzahl von Radio- und später Fernsehsendern. Um dennoch politische Vielfalt zu garantieren, etabliert die Militärregierung ein öffentlich-rechtliches System nach dem Vorbild der BBC. Die Grundregel — die sich immerhin ein paar Jahrzehnte halten wird — lautet Staatsferne. Sie soll unabhängige und inhaltlich vielfältig-ausgewogene Berichterstattung sicherstellen und damit demokratische Meinungsbildung. Als größte Rundfunkanstalt in den Westzonen entsteht in Hamburg der NWDR. WM wird lange Jahre für diesen Sender und dann seine Nachfolger NDR und WDR arbeiten.

Die gedruckte Presse hingegen unterliegt keinen natürlichen oder technischen Limitierungen. Lizenzen können insofern in beliebiger Zahl vergeben werden. Die britische Militärregierung teilt sie Personen zu, die vermeintlich oder tatsächlich nationalsozialistisch nicht vorbelastet sind, primär vergleichsweise jungen Männern. Zwischen 1946 und 1948 beginnen so die journalistischen Karrieren, die Westdeutschland prägen sollen, u.a. von Rudolf Augstein, Henri Nannen und Axel Caesar Springer, aber auch von Rudolf Gruner, John Jahr und Gerd Bucerius. Zu den wichtigsten Kriterien der alliierten Lizenzen gehört Objektivität und Faktentreue. Augsteins Spiegel entsteht nach dem Vorbild des amerikanischen Nachrichtenmagazins Time. In den ersten Jahrzehnten sind Beiträge im Spiegel, um Subjektivität zu eliminieren, nicht einmal namentlich gekennzeichnet. Nannens stern dagegen beginnt als Illustrierte nach dem Vorbild von Life und Look. Deren zentrale Attraktion ist der Fotojournalismus , d.h. die Authentizität der vom Objektiv erzeugten Bilder.

Wie wird man Journalist? Und warum eigentlich?

WM findet sich 1947 im Zentrum dieses journalistischen Aufbruchs. Er ist zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Mit Richard Gruner ist er ohnehin seit Schulzeiten befreundet. Bald lernt er auch die wichtigsten anderen Akteure kennen. Am Ende wird er für alle arbeiten: für Springers Hamburger Abendblatt und Die Welt, Nannens stern, Bucerius Zeit und — aller Gegnerschaft zu dem fast gleichaltrigen Augstein zum Trotz — für den Spiegel. Doch der Anfang ist schwer.

„Man kann sich das heute überhaupt nicht mehr vorstellen, aber es war so, dass man von diesem Beruf eigentlich so gut wie nichts wusste.“

Journalistenschulen existieren nicht. Eine hochschulische oder universitäre Ausbildung erst recht nicht. Die Branche rekrutiert ihr Personal aus ‚Naturtalenten‘, die allenfalls — wie Augstein, Nannen, Springer oder Gruner — Volontariate in Druckereien oder Redaktionen absolviert haben. Die erste deutsche Journalistenschule entsteht 1949 in München. Bis in die 1980er Jahre hinein bleibt es die Ausnahme, dass Journalisten in ihrem Handwerk geschult sind. Allenfalls können sie anderes. Kulturjournalisten zum Beispiel haben oft geisteswissenschaftliche Fächer studiert. In meinem Fall war es Literaturwissenschaft. Erst 1979 wird die Hamburger Journalistenschule gegründet, die heute den Namen Henri Nannens trägt; 1986 die Axel-Springer-Akademie in Berlin.

WM ist daher damals aus gutem Grund ratlos. Alles, was er kann, von Schießen und Autofahren abgesehen, ist Lesen und Schreiben. Auch wenn er ein einzigartiges Talent für Letzteres besitzt — als Journalist muss er sich aus dem Nichts erfinden.

Die Rangordnung seiner Interessen allerdings deutet in Richtung Zukunft. Redakteur oder Reporter sind für ihn nur Tätigkeiten zweiter, wenn nicht dritter Wahl. In seinem starken Interesse an Fotografie und Kabarett — einerseits also an visueller Repräsentation von Realität, andererseits an satirischer Kritik — kündigt sich eine seltene Kombination von Talenten an. Sie wird sein späteres Werk in Theater, Film und Fernsehen wie auch sein öffentliches Auftreten als Talkshow-Host kennzeichnen: die Verschmelzung von sozialem oder historischem Realismus und Faktentreue mit satirischem Witz und geistesgegenwärtiger Performanz.

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5 Von der Fahnenflucht zum Schwarzhandel

Nächstes Kapitel:
7 Der erste Job, die erste Kündigung
(Link folgt am 26. Mai)

Englische Fassung:

Introduction: Who Was WM? Investigating a Televisionary: The Life and Work of Wolfgang Menge

https://www.kulturverlag-kadmos.de/programm/details/wer_war_wm

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Gundolf S. Freyermuth

Professor of Media and Game Studies at the Technical University of Cologne; author and editor of 20+ non-fiction books and novels in English and German