Wer war WM?

Auf den Spuren eines Televisionärs: Wolfgang Menges Leben und Werk

Gundolf S. Freyermuth
7 min readApr 10, 2024

„Auch ich habe mal einen umgebracht, aus einem Meter Entfernung“, schreibt der 31-jährige WM 1955 aus Tokio nach Hamburg: „Gottlob ist das nie herausgekommen.“ Der Norddeutsche Rundfunk sendet diese Sätze als Teil eines Feuilletons über Japan. WM ist schließlich Träger einer Nahkampfspange. Das besagen seine Entlassungspapiere als Weltkrieg-II-Soldat. Doch WM ist nie entlassen worden, jedenfalls nicht von der deutschen Wehrmacht. Sein Lebenslauf liest sich abenteuerlich — wie seine besten Drehbücher.

Denn ein Vierteljahrhundert später ist WM der erfolgreichste Autor des bundesdeutschen Nachkriegsfernsehens. Seine steile Karriere führt ihn Schritt für Schritt durch fünf Medien. Für Zeitungen und Radio schreibt er Hunderte von Reportagen und Glossen, in Hamburg und Berlin, aus Tokio und Hongkong. Zurück in Deutschland, verfasst er Theaterstücke und ein Dutzend Drehbücher für populäre Spielfilme wie Polizeirevier Davidswache. Seine künstlerische Heimat aber findet er im neuen Massenmedium Fernsehen: Die Krimi-Reihe Stahlnetz (1958–1968), die Sitcoms Ein Herz und eine Seele (1973–1976, „Ekel Alfred“) und Motzki, die preisgekrönten Fernsehspiele Die Dubrow-Krise, Millionenspiel und Smog machen ihn einem Millionenpublikum bekannt. In den 1970er und 1980er Jahren ist „Glatzkopf“ Menge zudem Deutschlands markantester Talkshow-Host, berühmt-berüchtigt für seinen Witz und respektlose Schlagfertigkeit.

WM vor seinem Haus in Berlin-Zehlendorf; 2008, dahinter der Autor (© Freyermuth)

Damals habe ich Wolfgang kennengelernt. Über 25 Jahre lang war er mein ‚ältester‘ Freund. Und ich sein jüngster. Am 10. April hätte er seinen 100. Geburtstag gefeiert. Im Mai wird meine Biografie über ihn im Berliner Kadmos Verlag erscheinen. In ihr schildere ich Wolfgangs Leben aus nächster Nähe und zugleich sein Werk der kritischen Distanz des Medienwissenschaftlers.

Hier auf Medium veröffentliche ich ausgewählte Kapitel. Jede Woche eins. Heute skizziere ich zur Einleitung den Teil von WMs Leben, der nicht so bekannt ist — die Jahre, bevor er zum Medienstar wird.

Vom Außenseiter zum Deserteur

Deshalb zurück zum Anfang: Wie und wann kommt WM in die Situation, im Nahkampf einen anderen Mann zu töten?

Geboren wird WM 1924 in Berlin, Hauptstadt der ersten deutschen Demokratie. Als er dreizehn Jahre alt wird, sind die Nazis an der Macht. Wie lebt man als Teenager im Dritten Reich, wenn die Mutter Golditza heißt und nicht nur aus dem Ausland stammt, dem bulgarisch-rumänischen Osten, sondern auch Jüdin ist? WM liebt Jazz, hört heimlich das von den Nazis verbotene BBC-Langwellenradio und liest deutsche Exil-Autoren, deren Bücher Seeleute nach Hamburg schmuggelten. Bis 1941 die Einberufung kommt. In eine Sondereinheit. Denn nach den Kriterien des nationalsozialistischen Rassenwahns gilt er als „M1“, Mischling ersten Grades.

Die letzten Monate des Zweiten Weltkriegs erlebt WM an der Ostfront. Im März 1945 überschreiten britische Truppen den Rhein. Hamburg liegt unter beständigem Bombardement. Das Haus, in dem seine Eltern und die kleine Schwester wohnen, wird getroffen. Die Familie flieht aufs Land, an die Ostsee.

Als WM die Nachricht erhält, befindet sich seine Einheit in der Nähe von Wien. Die Rote Armee rückt näher. Nun führt er durch, was er schon lange geplant hat. Zwei Kameraden machen mit. Zusammen stehlen die drei einen Kübelwagen. Zwischen den Fronten versuchen sie nach Hamburg zu gelangen. Ihr gefährlichster Feind sind jedoch nicht die Alliierten. Aller Vorsicht zum Trotz gelingt es einer SS-Streife, sie zu stellen.

Welches Schicksal Deserteure erwartet, ist den dreien bekannt. Allein zwischen Januar 1945 und der großdeutschen Kapitulation im Mai werden über 8000 deutsche Soldaten wegen Fahnenflucht hingerichtet, viele von ihnen Jugendliche. Die Leichen der Erhängten lässt man zur Abschreckung tagelang an Lampen- und Strommasten hängen. Fronterfahren eröffnen die drei im Kübelwagen das Feuer auf die SS-Streife. Und treffen tödlich.

Volljährig wird WM als zur Fahndung ausgeschriebener Deserteur am 10. April 1945 in einem einsamen Versteck, im Keller des leerstehenden schwedischen Generalkonsulats, unter ständiger Lebensgefahr. Einer seiner beiden Kameraden ist bereits gefasst und erschossen worden.

Anfang Mai befreien die Briten die Hansestadt. Als Wehrmachtangehöriger müsste WM sich jetzt zur Kriegsgefangenschaft auf dem HSV-Sportplatz melden. Von einem malerisch begabten Freund lässt er daher Entlassungspapiere fälschen; mit erfundenen Auszeichnungen wegen besonderer Tapferkeit, darunter die Nahkampfspange.

Danach stellt sich die Berufsfrage. Für eine Weile kauft und verkauft er Zucker, säckeweise. Der verbotene Schwarzhandel trägt ihm 1946 mehrere Monate Gefängnis ein. In der Haft fällt seine ungewöhnliche Belesenheit auf. Er darf die Gefängnisbibliothek verwalten.

Aus dem Gefängnis in den Journalismus

Nach der Entlassung auf Bewährung entscheidet er sich für den Journalismus. Denn abgesehen von Schießen und Autofahren kann er nur Lesen und Schreiben. Letzteres aber umso besser. Beim German News Service, einer von den Briten gegründeten Nachrichtenagentur, aus der später dpa hervorgeht, ergattert er ein Volontariat. Wenig später bewirbt er sich auf ein Nachwuchsstipendium und darf zur Weiterbildung nach Großbritannien reisen. Nach fast zwei Jahren kehrt er im Herbst 1948 als britisch geschulter Journalist zurück.

Es sind die Gründerjahre des hanseatischen Nachkriegs-Journalismus. Der junge Autor kennt die aufstrebenden Verleger Richard Gruner, Axel Caesar Springer, Rudolf Augstein. Aus Großbritannien bringt er mit, was bald sein Markenzeichen wird: die Fähigkeit zu angelsächsisch-gründlicher Faktenrecherche und das Talent zu respektloser Satire. Zuerst reüssiert er damit als Lokalreporter beim Hamburger Abendblatt und als Redakteur des von der britischen Militärregierung begründeten Nordwestdeutschen Rundfunks, der von Remigranten geleitet wird. Später, nach der Restitution des von den Nazis enteigneten Ullstein Verlags, arbeitet er auch bei dessen Berliner B.Z.

Für die liberale Welt, die gerade vom Springer Verlag erworben worden war, geht er 1955 als Ostasien-Korrespondent nach Tokio und Hongkong. Fotos zeigen ihn Anfang Dreißig, erfolgreich und glücklich in Asien, beim Segeln auf einer Dschunke, beim Maßschneider, lesend auf der Terrasse des Foreign Correspondents Club.

WM auf der Terrasse des Foreign Correspondents Club, 1956, bei der Lektüre des Hamburger Abendblatts (© Menge)

Doch die politische Bevormundung, der er sich zunehmend bei der Welt ausgesetzt sieht, vergällen WM die Freuden des Korrespondenten-Daseins. Als erster westlicher Journalist fährt er mit der transsibirischen Eisenbahn via Peking und Moskau zurück nach Berlin und Hamburg. Um zu kündigen.

„Journalism is for boys“, sagt er später gerne und schreibt den Ausspruch Randolph Churchill zu.

Ende der 1950er Jahre ist WM kein Junge mehr. Er will nicht mehr nur berichten. Er will erzählen. Wenn’s geht, wahre Geschichten. Und zwar mit ironischer Kritik und unterhaltsamer Aufklärung. Ein Zufall bringt ihn kurz vor seinem 35. Geburtstag zum Film. In den frühen 1960er Jahren schreibt er eine Reihe von Kinohits (Der grüne Bogenschütze, 1961; Mann im Schatten, 1961; Polizeirevier Davidswache, 1964). Doch mit der heimischen Filmindustrie geht es steil bergab, in Quantität wie Qualität. Schuld ist der ebenso steile Aufstieg des Fernsehens. In diesem neuen Massenmedium wird WM seine künstlerische Heimat finden.

In der Bundesrepublik gehört das Fernsehen, als es zu Weihnachten 1952 auf Sendung geht, nicht wie in den USA privaten Konzernen. Und es wird auch nicht staatlich kontrolliert und finanziert wie in den zeitgenössischen Diktaturen, inklusive der kommunistischen DDR. Organisiert ist es vielmehr wie das Radio nach britischem Vorbild öffentlich-rechtlich. Und zudem föderal. In den 1960er Jahren werden TV-Geräte erschwinglich genug. Das neue Medium erfasst die Mehrheit der Menschen, die Zahl der Gebührenzahler explodiert. Die Sender der ARD kennen keinen Finanzmangel. Und noch kaum politische Einflussnahme.

In diesem medialen Freiraum, der sich für einige Jahre öffnet, avanciert WM zum erfolgreichen Erneuerer, zu einem Televisionär. Er sieht die Zukunft und zerrt das Fernsehen so gut es geht in ihre Richtung — gegen alle Widerstände der Verantwortlichen.

https://www.kulturverlag-kadmos.de/programm/details/wer_war_wm

Wesentlich gelingt ihm das durch seine ‚Britishness‘, den Import und die kreative Adaptation angelsächsischer Formate, die in der Bundesrepublik noch unbekannt sind in Großbritannien oder den USA jedoch bereits erfolgreich laufen: Tatsachen-Krimis, bahnbrechende Fernsehspiele, die Fakten und Fiktionen mischen, Talkshows, Sitcoms. Auf dem Höhepunkt seines Erfolgs berichteten die Zeitungen weltweit über ihn und seine Werke, auch in den USA, die New York Times, Variety, viele andere.

Nach Amerika?

„Stell dir mal vor“, habe ich ihn in den frühen 1990er Jahren gefragt, kurz vor meiner eigenen Auswanderung in die USA, „wenn du deine großen Erfolge im amerikanischen Fernsehen gehabt hättest statt im deutschen. Wie und wo würdest du dann heute leben?“

„Das möchte ich mir gar nicht vorstellen“, sagte Wolfgang, grinsend. „Das wäre einfach zu viel Geld.“ Er zog an der Pfeife. „Aber das hätte auch nicht geklappt. Ich hätte nicht funktioniert in Amerika. Man muss ein Land kennen, ganz genau, um das schreiben zu können, was ich geschrieben habe.“

„Curt Siodmak hat es geschafft! Walter Reisch, Billy Wilder und –“

„Die mussten auch“, unterbrach mich Wolfgang. „Die hatten keine Wahl. Die wurden vertrieben. Die rannten um ihr Leben. In der Situation war ich nie. Jedenfalls nicht nach dem Krieg. Gott sei Dank.“

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Veröffentlichte Kapitel:

1 Glücklich ist, wer vergisst — Erinnerungen an Nazi-Deutschland

2 Blut an dem Händen — Männer dieser Generation

3 Zwischen den Kriegen — Jugend im Dritten Reich

4 Der rechte Schuss zur rechten Zeit — Eine Fahne zum Fliehen

5 Von der Fahnenflucht zum Schwarzhandel–Und weiter ins Gefängnis

6 Wer nichts gelernt hat, wird Journalist

7 WMs erster Job. Und warum er ihn hinschmeißt

8 Im Paradies, bis zur Vertreibung

9 Weltreise in den Lokalteil

10 Was nach dem Krieg normal ist

Englische Fassung:
Who was WM? Investigating a Televisionary: The Life and Work of Wolfgang Menge

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Gundolf S. Freyermuth

Professor of Media and Game Studies at the Technical University of Cologne; author and editor of 20+ non-fiction books and novels in English and German