WMs erster Job

Und warum er ihn hinschmeißt. Kapitel 7 von Wer war WM: Auf den Spuren eines Televisionärs: Wolfgang Menges Leben und Werk

Gundolf S. Freyermuth
4 min readMay 26, 2024
Der Radiosender, den es nie gab, und der Mord, der nie geschah: Dieses gefälschte Foto — erstellt mit ChatGPT — zeigt die letzte Folge der britischen “schwarzen Propaganda”-Sendung “Gustav Siegfried Eins”. Zwei Gestapo-Männer stürmen das Studio und töten den gegen die Nazis wetternden preußischen Patrioten namens “Chef”.

Der Erfinder von Fake News

Der German News Service residiert in einer von der britischen Militärregierung beschlagnahmten Villa an der Hamburger Rothenbaumchaussee, schräg gegenüber vom NWDR, dem heutigen Gebäude des NDR. Ungeachtet des namensgebenden „German“ betreibt die britische Besatzungsverwaltung den German News Service. 1949 wird aus ihm dpa entstehen, bis heute Deutschlands größte Nachrichtenagentur. 1946 aber ist es noch eine überschaubare Institution. Geleitet wird sie von Sefton Delmer.

Der 43-jährige Journalist ist Sohn eines australischen Linguisten, der vor dem Ersten Weltkrieg an der Berliner Humboldt-Universität lehrte. Sefton Delmer wurde in der deutschen Hauptstadt geboren, ging dort zur Schule und spricht fließend Deutsch. In den frühen 1930er Jahren berichtete er für die Londoner Daily News aus Deutschland und interviewte als erster britischer Journalist Adolf Hitler. Während des Krieges arbeitete er gemeinsam mit seinem Freund Ian Fleming — der in den 1950er Jahren mit seinen James-Bond-Romanen Weltruhm erlangen sollte — für die geheime britische Propagandaeinheit Political Warfare Executive. Sie sammelten Gerüchte, die in Nazi-Deutschland kursierten. Delmer benutzte diese Gerüchte zu Propagandazwecken: Er erfand und produzierte, was heute Fake News heißt.

Nach Kriegsende soll er das Gegenteil tun: in der britischen Besatzungszone die erste faktenorientierte Nachrichtenagentur Nachkriegsdeutschlands aufbauen. Aus London hat er Redakteure und Archivare mitgebracht. Deutsche, die zugleich erfahren und unbelastet sind, lassen sich kaum finden. Delmer rekrutiert schließlich ein paar Dutzend Mitarbeiter des aufgelösten deutschen Marinenachrichtendienstes. Sie immerhin mussten sich, um Erfolg zu haben, aufs Sammeln von Fakten konzentrieren statt auf politische Meinungsmache, wie sie im NS-Journalismus üblich war.

Vom Hörer schwarzer Propaganda zum Nachrichtenjournalisten

Der nunmehr 22-jährige WM beschließt, sich beim German News Service um eine Stelle zu bewerben — mit einer Mappe frischverfasster Gedichte.

„Die haben mich natürlich rausgeschmissen. Aber ich bin immer wieder hingegangen.“

Die frühe Nachkriegszeit ist eine Hochzeit der Neuanfänge. Und Sefton Delmer mangelt es an Personal, das seine Unschuld nicht schon in nationalsozialistischen Institutionen verloren hat. Der spindeldürre junge Poet in den abgetragenen Wehrmachtsklamotten, der sich nicht abweisen lässt, dringt schließlich bis zu dem Chef des German News Service vor.

WM und Sefton Delmer entdecken eine Gemeinsamkeit: ihre Liebe zu dem Propagandasender „Gustav Siegfried Eins“ (GS1). Bis er eingezogen wurde, verpasste WM kaum eine GS1-Sendung. Und Delmer hat GS1 erfunden. Denn der angeblich deutsche Oppositions-Sender ist sogenannte „schwarze Propaganda“, also eine Form der Beeinflussung, die dem Publikum vorspiegelt, es handele sich um Informationen aus Händen derer, die gerade diskreditiert werden sollen.

Delmer produzierte GS1 in London. Wer zuhörte, musste jedoch glauben, dass die Sendungen aus Nazi-Deutschland kamen, illegal hergestellt von einem hochpatriotischen preußischen Offizier alter Schule, genannt „Chef“. Dem „Reich“ und seinem Militär gegenüber zeigte er sich durchweg loyal. Mit wilden Beschimpfungen und Beschuldigungen zog er jedoch über die korrupten, inkompetenten und sexuell depravierten Nazis her — und der Glaubwürdigkeit halber auch über die Briten und ihren Premier Winston Churchill. Ein exilierter deutscher Kriminalautor skriptete die Sendungen, die Rolle des Offiziers sprach der aus Berlin geflüchtete Schauspieler Peter Seckelmann. Als die Reihe nach 700 Folgen zu ihrem Ende kam, ließ Delmer die Gestapo den Sender stürmen und den „Chef“ erschießen.

Bei WM hinterlassen die Sendungen wie auch die Enthüllung ihres wahren Charakters bleibenden Eindruck. GS1 simulierte existierende mediale Formate, um das Publikum zu täuschen — wie später WMs Die Dubrow-Krise oder Das Millionenspiel. Die entfesselten Tiraden des „Chefs“ wiederum gemahnen an das „Ekel“ Alfred Tetzlaff.

Sefton Delmer jedenfalls findet Gefallen an dem jungen Mann, der GS1-Fan ist und nun, Anfang 1947, unbedingt Journalist werden will. Er gibt ihm eine Chance — ein Volontariat. In der Innenpolitik.

„Das hat mir nach einiger Zeit auch großen Spaß gemacht“, sagt WM.

Nein zu Ja

Auf die Dauer allerdings liegt WM abhängige Bürotätigkeit nicht. In Hamburg sind Mediengründerzeiten. WM und sein Freund Richard Gruner, bald Ko-Eigner des Großverlags Gruner + Jahr, entwickeln ein Jugendmagazin.Lebensbejahend nennen sie es Ja. Chefredakteur WM — „Das war ich wohl …“ — füllt die Probenummer mit satirischen Artikeln. Einen Beitrag verfasst auch Richard Gruner.

„Ich glaube das Einzige, was er je in seinem Leben geschrieben hat“, sagt WM später, „abgesehen von irgendwelchen Schecks.“

Doch die britischen Behörden erteilen den beiden Anfängern keine Lizenz. WM muss weiter seine Bürostunden absitzen.

Das ändert sich an einem der ersten warmen Tage des Jahres.

WM ist mit Richard Gruner verabredet. Zuvor kam sein Freund immer mit der Straßenbahn zu Besuch. Nun parkt er gegen Mittag eine Borgward-Limousine vor WMs Haus.

Der Grund: Richards Vater hat auf dem Rückweg von seiner Druckerei in Itzehoe zwei britische Soldaten mitgenommen. In einer Pinkelpause sind die Anhalter mit dem Wagen abgehauen. Der Bestohlene wollte selbst ein Auto stoppen, um mitgenommen zu werden — und wurde überfahren. Richard hat geerbt, die Druckerei und die wiedergefundene Limousine.

Die Sonne ruft

Die beiden Freunde setzen sich auf den Balkon und genießen die Frühlingssonne. Doch das Vergnügen findet ein baldiges Ende, denn um drei Uhr beginnt WMs Schicht beim German News Service.

„Ich fahr dich natürlich hin“, sagt Richard Gruner.

Als sie am Rothenbaum ankommen, fragt WM: „Und was machst du jetzt?“

„Ich lege mich in die Sonne, in meinem Garten.“

„Warte mal ‘n Moment.“

WM verschwindet in der Eingangstür seiner Arbeitsstätte. Nach wenigen Minuten kehrt er zurück. Die beiden fahren zu Gruners Garten in Lokstedt.

WM hat gekündigt, er will sich auch in die Sonne legen.

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Vorheriges Kapitel:
6 Wer nichts gelernt hat, wird Journalist

Nächstes Kapitel:
8 Im Paradies, bis zur Vertreibung
(Link folgt am 2. Juni)

Englische Fassung:

Introduction: Who Was WM? Investigating a Televisionary: The Life and Work of Wolfgang Menge

https://www.kulturverlag-kadmos.de/programm/details/wer_war_wm

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Gundolf S. Freyermuth

Professor of Media and Game Studies at the Technical University of Cologne; author and editor of 20+ non-fiction books and novels in English and German