App statt Pille

Wie die Digitalisierung das Gesundheitswesen verändern wird

Habbel
7 min readFeb 14, 2015

von Franz-Reinhard Habbel

Das Gesundheitswesen in Deutschland steht vor entscheidenden Weichenstellungen. Durch die Digitalisierung massiv befördert, treten mit aller Macht private Dienstleister auf den Markt. Sie bieten medizinische Dienstleistungen über das Internet an. Die demografische Entwicklung beschleunigt diesen Prozess. Auf der anderen Seite verharrt das klassische Gesundheitwesen in alten Strukturen. Es droht ein Akzeptanzverlust. Wird auch das öffentliche Gesundheitswesen die Digitalisierung zu einer Neuausrichtung nutzen? Kann der weitgehende Stillstand bei der Einführung und Nutzung der elektronischen Gesundheitskarte überwunden werden? Ist der jetzige Ansatz der elektronischen Gesundheitskarte überhaupt ausreichend oder nicht schon längst überholt? Wie können schützenswerte Patientendaten in einer vernetzten Medizin genutzt werden?

Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe hat zurecht Druck gemacht. Seit Jahren liegen die Nutzungsmöglichkeiten der elektronischen Gesundheitskarte auf Eis. Mehr als eine Milliarde Euro wurden bisher in die dafür notwendige Infrastruktur investiert. Das Ergebnis ist bisher mager. Nun liegt der Referentenentwurf für das Gesetz für sichere digitale Kommunikation und Anwendungen im Gesundheitswesen vor. Die Zeit drängt. Neben den öffentlichen Strukturen im Gesundheitswesen entwickeln sich dank der Digitalisierung rasend schnell weitere Dienstleistungen verschiedener Unternehmen. Längst ist hier ein Wettbewerb entbrannt.

Eines der nächsten großen Geschäftsmodelle der IT Industrie werden Gesundheitsdienstleistungen sein

Der Markt ist riesig angesichts weltweit steigender Bevölkerungszahlen und der demographischen Entwicklung. Apple, Google und Co. stehen längst in den Startlöchern. Die nächste Generation der Smartphones und e-Uhren wird in der Lage sein, Gesundheitsinformationen aufzuzeichnen und mittels App auszuwerten. Ein weiterer Schwung kommt durch die Wearable-Technologie. Sie ist ein riesiger Wachstumsmarkt. Intelligente Uhren, smarte T-Shirts, Fitness Bänder — das Angebot wird immer größer. Health-Care wird für die IT Industrie immer wichtiger. Das gilt besonders für die Auswertung von Analysedaten.

App statt Pille lautet die Botschaft

Apps für Tablets oder Smartphones mit denen Patienten ihre Gesundheitsdaten eigenständig verwalten können, gewinnen massiv an Bedeutung. Quantified Self nennt sich die Bewegung, die derzeit enormen Zulauf hat. Schritte werden gezählt, Pulsschläge aufgezeichnet und der Schlaf kontrolliert. Die Ergebnisse können danach mit anderen Akteuren verglichen werden. Hinzu kommen vielfältige Onlineangebote der Beratung und Hilfe bei Krankheiten, der Prävention oder der Nachsorge. Warum sollen Menschen zum Arzt gehen, wenn sie mit einem Sensorik-System, angebunden an eine elektronische Uhr, ständig ihren Blutdruck kontrollieren können? Ein weiterer Aspekt kommt hinzu. Gerade in ländlichen Regionen, in denen ein Rückgang der Ärztschaft und medizinischer Einrichtungen zu verzeichnen ist, fehlen Arztpraxen bzw. die Wege zu ihnen sind oftmals lang. Wenn hier nicht u.a. telemedizinische Angebote gemacht werden, muss man sich nicht wundern, wenn immer mehr Services privater Dienstleister über das Netz — allerdings soweit eine auskömmliche Datenverbindung vorhanden ist — angeboten werden.

Nach Informationen des Magazin MacLife arbeiten erste US-Krankenhäuser bereits mit der von Apple auf den Markt gebrachten App HealthKit. Die App “soll nicht nur die Daten diverser Fitness-Trecker sammeln, sondern einen echten medizinischen Nutzen haben. So sollen Ärzte und Krankenhäuser mittels HealthKit den körperlichen Zustand des Patienten rund um die Uhr überwachen können”, heißt es. Immer mehr Hersteller medizinischer Geräte werden in den nächsten Jahren Produkte herstellen, die mit HealthKit kompatibel sein werden. Datenzuverlässigkeit und Datenschutz sind in vielen Fällen aber noch nicht abschließend geregelt.

Ärzte spielen eine wichtige Rolle

Der Grad der Unsicherheit elektronischer Messungen zum Beispiel mittels einer App mag evident sein, er wird aber von vielen Menschen Kauf genommen, weil vermeintliche Anhaltswerte als ausreichend angesehen werden. Ein solches Verhalten ist aber nicht ganz unkritisch, denn Diagnosen müssen fachlich untermauert sein. Das ist die Aufgabe der Ärzte und weiterer Fachkräfte.

Dringend notwendig ist es deshalb, die Vorzüge des öffentlichen Gesundheitswesens, und hier insbesondere was den Schutz der persönlichen Daten betrifft, bei den notwendigen Reformüberlegungen stärker in den Mittelpunkt zu stellen. Die Digitalisierung spielt hier eine wichtige Rolle. Sie muss intensiver im öffentlichen Gesundheitswesen genutzt werden. Erforderlich ist eine ständige Überprüfung und Anpassung der Strukturen, Aufgaben und Verfahren an neue technologische Möglichkeiten. Zeigt sich hier ein Mangel, bleibt es nicht verwunderlich, wenn immer mehr Nutzer private Services in Anspruch nehmen und das öffentliches Gesundheitswesen langfristig ausblutet. Trotz vieler Bedenken boomen Apps für die Gesundheit.

Im März 2014 wurde erstmals eine App als digitale Therapie von einer Krankenkasse erstattet

Dabei handelte es sich um eine ursprünglich von der Universität Dresden entwickelte, rein internetbasierte Stimulationstherapie zur Augenheilkunde von Kindern. Die App wird von der BARMER GEK erstattet. Die Caterna Sehschule ist eine therapeutische Sehübung aus dem Bereich der Augenheilkunde. Mit der Caterna Sehschule werden Sehschwächen bei Kindern mit Amblyopie im Alter zwischen 3 und 12 Jahren behandelt, die ein Augenpflaster tragen. Ziel der Sehübungen ist es, die Sehleistung bei Amblyopie-Patienten zu verbessern, indem die Wirkung des Augenpflasters durch eine intensive Stimulation des geschwächten Auges durch bewegte, grafische Muster verbessert wird.

Die Nutzungsmöglichkeiten der digitalen Kommunikation im Gesundheitswesen dürfen nicht in den Hinterzimmern der Ministerien oder in den Räumen der Krankenversicherungen beziehungsweise Ärztekammern diskutiert werden, sondern gehört in die Öffentlichkeit. Vernetzung bedeutet auch, bereits bei der Erstellung von Konzepten mit Betroffenen und Instiutionen zusammenzuarbeiten.

Auf die massiven Veränderungen durch die Digitalsierung müssen sich das staatliche Gesundheitswesen, die Versicherungen und die Ärzteschaft noch intensiver einstellen. Elektronische Gesundheitskarten als Steuerungsinstrument werden ins Leere laufen, wenn der Einsatz und die Anwendungen nicht schneller vorangetrieben werden. Viele Bürgerinnen und Bürger haben längst damit begonnen, sich selbst zu organisieren und auf private Dienstleistungen im Internet zurückzugreifen. Die Zahl der Fitnessbänder ist Legion.

Die Internetmedizin wird an Bedeutung gewinnen

Immer mehr Menschen suchen bei Krankheiten Hilfe im Internet. Vor dem Arztbesuch wird oftmals im Internet nach Informationen gesucht. Damit sind natürlich auch Gefahren verbunden. Die Qualität der Ergebnisse ist höchst unterschiedlich und für die meisten Menschen oftmals nicht einortbar. Auch Bewertungen von Patienten selber sind im Gesundheitsbereich kritisch zu betrachten, sind doch die Umstände einer Bewertung höchst unterschiedlich. Vergleichbarkeiten sind häufig ausgeschlossen. Eine Lösung könnte darin liegen, sog. Qualitätsstandards im Internet zu setzen, die Relevanz und Kategorisierung möglich machen. Beim TÜV gibt es bereits derartige Überlegungen. Möglicherweise könnten Zertifizierungen von elektronischen Dienstleistungen hier ein erster Ansatz sein. Ohne Qualitätsstandards wird die Internetmedizin sich nicht durchsetzen.

Ende 2012 wurde der Verband für Internetmedizin gegründet. Die Ziele des Verbandes werden wie folgt beschrieben: “Das Internet revolutioniert die Medizin und bietet schon heute faszinierende Möglichkeiten für die Information und Kommunikation rund um Gesundheit und Krankheit: Von Suchmaschinen, elektronischen Patientenakten und Expertensystemen über Portale zur Bewertung von Ärzten und Krankenhäusern bis hin zum Management der eigenen Gesundheit über Apps. Eine neue Art der Medizin — die Internetmedizin — verändert die Welt von Allen, die im Gesundheitswesen unterwegs sind. Vom Patienten bis zum Arzt und Therapeuten, von der Krankenkasse bis zum Medizintechnikunternehmen, vom Apotheker bis zum Pharmakonzern. Die Geschwindigkeit dieser Entwicklung birgt Chancen und Risiken. Chancen für grossartige Innovationen, die unseren Patienten nutzen. Und Risiken, die von nutzlosen Gesundheitstipps bis zu lebensgefährlichen Therapieangeboten reichen. Systematische Entwicklung und Kontrolle, also Qualitätssicherung der Internetmedizin, findet bisher nicht statt”.

Gesundheitsdaten sind ein hohes Gut

Wem vertrauen die Menschen ihre Daten an? Dazu veröffentlichte das Magazin liberal einen Freiheitsindex. Ältere vertrauen eher dem Staat, jüngere eher den Unternehmen. Wie groß ist das Mißtrauen gegenüber Unternehmen und dem Staat, wen es um die Daten der Bürger geht? Dazu stellte Allensbach die folgende Frage: “Vertrauen Sie Unternehmen/dem Staat, wie sie/er mit gespeicherten Daten umgehen/umgeht, oder misstrauen Sie Unternehmen/dem Staat da eher?” Bei der Gruppe der 60 Jährigen und älter vertrauen 21 Prozent dem Staat und 7 Prozent den Unternehmen und bei den 19–29 Jährigen vertrauen nur 4 Prozent dem Staat und 10 Prozent den Unternehmen.

Die elektronische Gesundheitskarte ist nur ein (kleiner) Baustein im Bereich eHealth

Eine bessere organisatorische, technische und finanzielle Abwicklung im Gesundheitswesen ist dringend notwendig. Viele Effizienzpotentiale bleiben bisher ungenutzt. Das ist aber nur die eine Seite der Medaillie. Die andere Seite ist die Entwicklung neuer Dienstleistungen und die Vernetzung auf der Basis von Big-Data. Der Weg geht von interventionsbasierter Medizin hin zu einer outcome-orientierten Betrachtung. Präventive Ansätze spielen hierbei eine große Rolle.

Welchen Beitrag können die Städte und Gemeinden dazu leisten, ein gesundes Ambiente in der Kommune zu schaffen? Wie kann die Vernetzung gefödert werden, zum Beispiel im Bereich der Pflege? Welche Infrastrukturen in der Kommune sind notwendig, um die Entwicklung von Plattformen zu fördern, auf denen Dienstleister und Bürgerinnen und Bürger Gesundheitsleistungen insbesondere im Bereich Prävention für sich nutzen können? Healthcare ist ein wichtiger Bestandteil auch von Smart City. Notwendig sind integrierte Versorgungssysteme die auch die Anbindung des ländlichen Raumes zum Beispiel an die Hochleistungsmedizin der Klinken in den Metropolen sicherstellen.

Je weniger Menschen eine Gesellschaft hat desto wertvoller werden sie — auch deswegen müssen wir in ihre Gesundheit investieren

Das bedeutet, mehr in die Prävention zu investieren und gesunde Lebens- und Arbeitsstile zu fördern und zu unterstützen. Prävention ist wichtiger als Diagnose. Selbstorganisation und Vernetzung spielen hierbei eine wichtige Rolle. So nimmt beispielsweise das Thema Ernährung an Fahrt auf. Immer mehr Plattformen entstehen im Internet, die sowohl regionale Produkte auf einfachen Wege verfügbar machen als auch neue Formen der Bewirtschaftung von Gärten in Städten ermöglichen. Dieses neue Potenzial muss aktiv erschlossen werden. Auch die Stadtentwicklung muss sich hierauf einstellen. Gesundheit wird zu einem neuen Standortfaktor und über die Attraktivität der Städte mit entscheiden.

Gesundheit gehört zu den zentralen Handlungsfeldern von Smart-City und Smart-Country

Nach der wirtschaftfreundlichen und sozialen Stadt wird ein nächsten Feld die gesunde Stadt sein, die in den Fokus der Kommunalpolitik rücken wird. Die Menschen werden immer älter und damit Gesundheitsdienstleistungen für diese Gruppe immer wichtiger. Es wäre aber zu kurz gegriffen, sich bei dieser Aufgabe nur auf die älter werdenden Bürgerinnen und Bürger zu konzentrieren. Das Thema Gesundheit in der Stadt geht alle an. Für alle Altersgruppen geht es insbesondere um Prävention. Veränderte Lebensstile haben Einfluss auf die Nutzung kommunaler Infrastrukturen. Umweltbedingungen wie Feinstaub, Wetter und Klima spielen eine immer größer werdende Rolle. Luftqualität und Auffälligkeiten bei Allergien prägen die Entscheidungen beispielsweise bei der Wohnortwahl. Die ersten Städte stellen hier mittels Apps aktuelle Daten der Bevölkerung zur Verfügung. Open-Data wird diese Angebote in den nächsten Jahren erweitern. In den neuesten Leitbildern der Kommunen gewinnt das Thema gesunde Stadt an Bedeutung. Notwendig ist auch hier eine intensive Vernetzung mit Ärzten, Gesundheitseinrichtungen, Angeboten verschiedenster Dienstleister, Patientinnen und Patienten sowie Experten.

Am Ende wird es heißen “App und Pille”

Zusammenarbeit wird der Gesundheit förderlich sein. Durch Selbstorganissaton und mehr Transparenz zu einem gesunden Lebensstil zu finden, ist auch eine Chance in einer vernetzten Gesellschaft. Die Selbstveranwortung wird größer. Sie zu übernehmen muss allerdings auch gelernt sein.

Titelfoto: Techniker Krankenkasse — https://flic.kr/p/9v4LwS

Foto: Jason Howiehttps://flic.kr/p/e5CBwN

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