Auch auf dem Tempelhofer Feld in Berlin befinden sich Gärten Foto: Habbel

Geteilte Lokalität

Habbel
7 min readJul 27, 2014

Wie die essbare Stadt das Leben in der Kommune verändert

von Swantje Etzold

Dies ist ein Gastartikel von Swantje Etzold. Wenn auch Sie Interesse haben, hier einen Gastartikel zu veröffentlichen, dann schreiben Sie mir bitte.

Das erklärte Ziel der rheinland-pfälzischen Stadt Andernachs ist es, Grünzonen einmal anders zu nutzen. Langfristig sollen ein Großteil der innerstädtischen Flächen mit Obst- und Gemüse bepflanzt und so das Stadtleben nachhaltiger und lebendiger gestaltet werden. Diese Idee ist in letzter Zeit zum Vorbild für andere Städte geworden. In ganz Deutschland entwickeln sich Initiativen und ‚Urban Gardening’- Gruppen, die im öffentlichen Raum gärtnern. Dabei fließen viele neue Ideen in ihre Arbeit und es zeigen sich sehr vielfältige Beweggründe für die gemeinsamen, gestalterischen Initiativen.

Die Besonderheit in Andernach ist, dass Zivilgesellschaft und Politik an einem Strang ziehen und die Stadtverwaltung das Projekt initiiert. Das Projekt ‚Essbare Stadt‘ regt dazu an, Grünflächen der Stadt, je nach Standort, mit Obst, Gemüse oder Kulturpflanzen zu bepflanzen. Ziel ist es, dass sich sowohl die Stadtverwaltung als auch die Zivilgesellschaft an dem Projekt beteiligen und dafür verantwortlich fühlen. Die Erzeugnisse dürfen von allen Bürgern geerntet werden. So entsteht ein gemeinschaftliches Projekt von allen — für alle.

Andernach — die erste deutsche ‚Essbare Stadt‘

Die Idee dazu entstand 2010 bei dem Wunsch, die Stadt Andernach umzugestalten. Doch die Mitarbeiter der Stadt waren bereits mit der Pflege einiger Grünflächen ausgelastet. In Todmorden existiert die Essbare Stadt schon länger und Andernach ist der erste deutsche ‚Ableger‘. Dank der Stadtverwaltung wird das Projekt durch die Freigabe von Grünflächen, Saatgut und Schulungen getragen. Insgesamt sollen 30.000 Euro investiert worden sein. Durch die Fördermaßnahmen zeigt die Stadt deutlich: Die Essbare Stadt ist auch ihr Stadtentwicklungs-Kind. Stets neue Anregungen werden ausgerufen, die Grünflächen so mit Saatgut anzureichern, dass selbstständig Obst und Gemüse gepflanzt und zum Verzehr mitgenommen werden können. Schilder mit der Bitte ‚Pflücken erlaubt‘ zieren die Beete ebenso wie seltene, vom Aussterben bedrohte Pflanzen. Insgesamt sollen bis zu 100 unterschiedliche Sorten gepflanzt worden sein. Vor dem Schloss werden im jährlichen Turnus verschiedene Sorten einer Art wie beispielsweise diverses Tomatensaatgut oder Bohnen ausgesät. Die Ernte wird mit einem großen Fest gefeiert. Für die Zukunft sind Hochbeete in der Fußgängerzone geplant. Zu den im Stadtgraben lebenden Hühnern sollen sich dieses Jahr noch Schweine gesellen.

Im Rahmen dieses Projektes gelingt in besonderer Weise die Verzahnung von mehreren Aspekten: Die Stadt wird ökologischer, ökonomischer und sozialer und steht damit insgesamt für Nachhaltigkeit. Die Neugestaltung freier Flächen dient nicht nur optischer Verschönerung, sondern auch dem kulinarischen Genuss vorhandener Ressourcen. Der Nutzen der stadtnahen Bereiche wird damit multifunktional als bepflanzbares Beet für alle Bürger, zur Sicherung der Artenvielfalt, als Arbeitsprojekt für Langzeitarbeitslose und besonders als Kontaktbörse und damit Kommunikationsinstrument im digitalen Zeitalter.

Und diese Ziele scheinen möglich: Bürger erobern sich den öffentlichen Raum und wirken an der Umgestaltung mit. Sie nutzen die frischen Saaterträge und dürfen auch Samen mitnehmen und weiter verwerten. Städtische Mitarbeiter sowie Ein-Euro-Jobber, Langzeitarbeitslose und Freiwellige arbeiten zusammen. Allerdings soll das Projekt dadurch nicht zu einem Sozialprojekt für Menschen ohne Arbeit degradiert werden, sondern Bürger zusammenbringen und ihnen Sinn stiften. Die Stadt wird dadurch zum neuen gemeinsamen Mittelpunkt.

‚Urban Gardening‘ vs. ‚Essbare Stadt‘

Die Entwicklungen der ‚Essbaren Stadt‘ und des ‚Urban Gardening’ in anderen Städten sind in vollem Gang, aber (noch) nicht so umfangreich wie in Andernach. Zum einen werden nicht alle entstandenen Initiativen von der Stadtverwaltung mitgetragen, Bürgergruppen initiieren Gartenprojekte selbstständig. Die Beispiele dafür sind vielfältig. In einigen Städten wie Osnabrück und Halle pachten beispielsweise Vereine Flächen, um gentechnikfreie Lebensmittel ressourcenarm anzubauen oder Waldgärten zu gestalten. Im westfälischen Minden wird das Bürgerprojekt zum Anbau von Obst und Gemüse von Einzelpersonen angeleitet und von Unternehmen finanziell unterstützt. In Gelsenkirchen wird ein Gartenprojekt zusammen mit Menschen mit Beeinträchtigung ins Leben gerufen. In Städten wie Hamburg, Frankfurt am Main und Regensburg entstehen temporäre, urbane Gärten oder Oasen auf Flächen, die nicht der Stadt gehören. Im Stadtteil Tempelhof Berlin wurden Bürger angesprochen eine Fläche als ‚öffentliches Wohnzimmer‘ gemeinsam zu gestalten. Beet-Paten in Waldkirch übernehmen Verantwortung für eine kleine Fläche in der Stadt. Ähnlich verläuft es in Jena, Witzenhausen und Lindlar, wo in Absprache mit der Stadt Grünflächen zu eigenen Kosten mit Essbarem begrünt werden. ‚Urban Gardening’ verwirklicht oberflächlich betrachtet andere Motive als das Projekt ‚Essbare Stadt’. Nicht das Gärtnern an sich steht im Mittelpunkt, sondern ‚hippe’ Formen der Innovation und Provokation: Selbstverwirklichung und Unabhängigkeit, Emissions- und Ressourcenschonung und kreative Aneignung unabhängig von der Stadtverwaltung. Die grüne Bewegung entsteht nicht im Rahmen eines Mangels an Lebensmitteln, wie beispielsweise das notgeleitete Gärtnern nach dem ersten und zweiten Weltkriegen, sondern aus Lust an der Natur.

Anders als in den bisher vorgestellten Projekten gibt es in Städten wie Kassel und Heidelberg gemeinsam von Stadt und Bürgern verwaltete Projekte, die auf eine ‚Essbare Stadt‘ hindeuten. Die Stadt soll lebendiger werden und freie oder grüne Flächen sollen produktiver genutzt werden. In Lübeck und Mainz entstehen ähnliche Initiativen, die aber noch auf einzelne Stadtteile begrenzt und in der Erprobungsphase sind. Selbst im amerikanischen Detroit sollen alte Fabrikgelände neuerdings durch Acker- und Beetflächen ersetzt werden. Das Bestreben zur ‚Essbaren Stadt‘ zu werden beginnt in Tübingen mit Grundlagenkursen und der Möglichkeit Grünflächen über Patenschaften zu pflegen. Die Idee ist dadurch für mehr Bildung und Gemeinschaft zu sorgen und gleichzeitig ressourcenärmer und ökologischer zu werden. In diesen Städten werden standortörtliche Gegebenheiten genutzt und vorhandene Ressourcen (wieder)verwertet.

Die Vielzahl der Bewegungen zeigt, dass sich das öffentliche Gärtnern in ganz Deutschland zu verbreiten scheint. Unabhängig von der Unterstützung der Lokalpolitik entstehen ‚Urban Gardening’ Bewegungen oder Kleinstbauern, die den Weg für selbst angebautes Gemüse trotz fehlendem eigenem (Schreber-)Garten ermöglichen. Die Wartelisten für einen Schrebergarten sind vielerorts lang oder der einzelne kann einen solchen sowohl zeitlich als auch finanziell alleine nicht bewirtschaften. Die Menschen sehnen sich nach einer Verbindung Stadt und Natur, die sie gemeinsam ‚beackern‘ können und kein einsames Parzellen leben fristen. Dabei kann die Intention unterschiedlich sein: Einige möchten ökologische Anbaumöglichkeiten nutzen, andere wollen sich gesund ernähren, wieder anderen wollen einfach in der Natur neue Menschen treffen, mit denen sie Stadt gemeinsam gestalten können.

So verwundert es nicht, dass gemeinschaftliche Initiativen in den letzten Jahren immer häufiger entstehen, so die Nachbarschaftsgärten in Berlin Friedrichshain und die Urban Gardening Projekte in Würzburg, Berlin Neukölln, Stade, Saarbrücken Solche Projekte kennzeichnend meist, dass einzelnen Bürgern brachliegende Flächen auffallen, die sie gern anderweitig genutzt sehen würden. Dabei werden nicht nur Obst und Gemüse angebaut, sondern auch andere Pflanzen wie Kräutern und Blumen oder gemeinsam verwaltete Bienenstöcke. So bleibt der Natur und der Gesellschaft Artenreichtum erhalten.

Besonders das Bündnis 90’/die Grünen befürwortet die Gärtnerinitiativen der Bürger und stellt teilweise, so wie in Borken, München und Minden, schon Anträge für Anbaumaßnahmen. Dennoch sind nicht alle Flächen anbautauglich, so wird in Zürich kritisiert, dass das geplante Pflanzen von Obst und Gemüse auf Verkehrsinseln durch die hohe Schadstoffbelastung weniger für ökologisch gesundes Gärtnern steht. Bürger der Stadt Mainz beschweren sich außerdem, dass Hunde die Beete zur Verrichtung ihres Geschäfts nutzen und nicht abgepflücktes Obst und Gemüse verkommt. Deswegen plädiert eine Anwohnerin dafür, die Reste an Bedürftige zu geben, möglich wäre sicher auch die Tafel.

Die grüne Bewegung als politisches Moment

Gemeinsam geteilte Lokalität und ein Umdenken in die nachhaltig gestaltete Zukunft scheinen ein Antrieb für die grüne Bewegung zu sein. Die Idee setzt auf ganzhaltiges, gemeinsames Leben. Die Menschen werden sensibilisiert für Nachhaltigkeit und nutzen die öffentlichen Anbauflächen als Begegnungszonen, denn: Essen verbindet. Der hektische Alltag wird von Geduld und Naturverbundenheit durchbrochen. Dabei entstehen Ideen, wie (Regen-) Wasser sinnvoller genutzt werden kann, wie auch andere Spezies wie Tiere in den städtischen Kreislauf integriert werden können oder wie städtebauliche Maßnahmen auch zum Naturschutz und der Förderung der Landwirtschaft dienen können.

Die Aufgabe der Stadt könnte es sein, diese Projekte zu unterstützen, wenn nicht sogar sie leitend zu tragen. Andernach ist zwar Best Practice Beispiel, aber es zeigt auch, dass solche Flächen ersteinmal bereit gestellt werden müssen und eine hohe finanzielle Unterstützung zum Erfolg notwendig sind. Wenn Ende 2014 die Förderung für Langzeitarbeitslose ausläuft, die sich derzeit maßgeblich um die Stadtbeete in Andernach kümmern, mangelt es an Personal. Deswegen wirbt die Stadtverwaltung verstärkt für dieses Projekt und regt Bürger sowie Vereine dazu an sich zu engagieren. Doch genügt das Engagement? Es bleibt abzuwarten. Einige Städte geben an, dass durch die stetige, bürgerschaftliche Pflege der Grünanlagen die Kosten für die von der Stadt zu Verfügung gestellte Pflege minimiert werden.

Für die Stadt ergibt sich dank solcher öffentlicher Gartenflächen die Möglichkeit ein Gefühl für Sehnsüchte und zinnstiftende Elemente der Bürger zu entwickeln. Die Andernacher beschreiben voller Stolz ihre gepflanzten Ergebnisse. Die Begegnungen am Beet erscheinen angenehm informell, gelassen und fröhlich. Dabei treffen sich Bürger jeder Altersklasse und kommen ins Gespräch. Dieser Trend zum Lokalen und zur Partizipation könnte verbindend genutzt werden. Es kommt zu einer Identifizierung mit der Stadt dank der gemeinsam geteilten Verantwortung und zu weniger Vandalismus. Wäre es nicht ideal, wenn die Politik sich da persönlich beteiligen kann und nicht allein über bürokratische Strukturen und Politikdebatten wahrnehmbar wird? ‚Die Zeit‘ beschreibt diesen Ort genau deswegen als politischen Ort, da Zeit und Raum zum Nachdenken auf Augenhöhe zwischen einem Du und Ich besteht. Außerdem könnte es Teil des Stadtmarketings werden, unauffällige oder weniger schöne Flächen durch Zier- oder Esspflanzen aufzuwerten. Einige Städte geben sogar an, dass durch die stetige, bürgerschaftliche Pflege der Grünanlagen die Kosten für die von der Stadt zu Verfügung gestellte Pflege minimiert werden. Durch die Pflanzen verbessert sich das Stadtklima, der Geruch und Orte bleiben auch langfristig ansehnlicher. Da sich Städte in ihrer Attraktivität für Bürger angleichen, könnte die ‚Essbare Stadt‘ ein ausschlaggebender Bonus für die Entscheidung sein, ob jemand langfristig in der Stadt wohnen bleiben möchte, Familie dort im Grünen aufzieht oder sich lokal engagiert. Das Projekt ist also Beispiel für die qualitative Steigerung des Wohn- und Lebensumfeldes.

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