“Mittendrin im Kerneuropa”

Habbel
4 min readJul 28, 2015

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von Franz-Reinhard Habbel

Gemeinde De Haan an der belgischen Küste. Foto: Stephane Mignon Flickr https://flic.kr/p/77wWXQ

Das Europa der Bürger ist fester verankert als wir glauben. Der „Häutungsprozess“ der Nationalstaaten wird sich weiter fortsetzen. Europa ist unumkehrbar. Gleichwohl ist eine Reform der Institutionen in Richtung mehr Demokratie, Partizipation, Zusammenarbeit, gemeinsame Finanzverantwortung und soziale Standards notwendig.

Politiker sehen Europa anders als die Bürger. Foto: Habbel

Als ich vor mehr als 30 Jahren von Düsseldorf aus das erste mal an die belgische Küste reiste, gab es an der deutsch-niederländischen Grenze noch eine Passkontrolle. Zwischen den Niederlanden und Belgien waren Kontrollen für PKWs bereits aufgehoben. Vor der Abreise in Düsseldorf musste ich schnell noch für das gerade geborene Kind ein Passersatz-Dokument mir ausstellen lassen. Der Weg zur Behörde war unerlässlich.

Die Währung hieß belgische Franc, für fünf DM bekam man 100 Franc. In den nächsten Jahren wurden im Rahmen des Schengen-Abkommen die Grenzkontrollen zwischen Deutschland und den Niederlanden abgeschafft. Heute stehen an den Autobahnen nur noch Schilder, die auf das jeweilige Land hinweisen. Im Jahre 2001 wurde der Euro eingeführt. Die Gemeinde De Haan an der belgischen Küste wurde nach und nach zu einem europäischen Ort. Ein Schmelztiegel verschiedener Nationalitäten. Belgier, Franzosen, Niederländer und Deutsche, aber auch Engländer, verbringen hier ihren Urlaub. Häuser und Wohnungen bekamen neue Eigentümer, insbesondere aus Deutschland, Frankreich und den Niederlanden. De Haan, etwa 1 Stunde vom europäischen Zentrum Brüssel entfernt, ist auch für die EU-Mitarbeiter inzwischen ein attraktiver Aufenthaltsort geworden. Im Ort selbst wird Französisch, Flämisch, Deutsch und Englisch gesprochen. Am Strand gibt es eine Bibliothek mit Büchern in verschiedenen Sprachen. Die Nachfrage ist groß. Die Menschen verstehen sich gut untereinander.

Dort wo Menschen sind, sind auch Bibliotheken. In der Strandbibliothek De Haan gibt es Bücher in mehreren Sprachen. Foto: Habbel

Nun haben Urlaubsorte immer ihr besonderes Flair. Sie spielen in der Regel nicht das Alltagsleben der Menschen mit ihren Problemen und Herausforderungen wider. Dennoch ist hier ein transnationaler Geist spürbar. Man ist mitten in Europa und fühlt sich als Europäer. Die Menschen sitzen am Strand, lesen Bücher in klassischer Form oder als E-Book, einzelne haben ihre Smartphones in der Hand und informieren sich im Web oder lesen E-Mails. Die Digitalisierung hat auch den Strand erreicht. In Cafés gibt es freies WLAN.

Die Digitalisierung hat längst die Strände erreicht. Zwei Menschen lesen in ihren E-Books. Foto: Habbel

Es scheint eine europäische Bürgergesellschaft zusammen zu wachsen, geprägt vom gegenseitigen Respekt und Wertschätzung. Die Probleme der Politiker sind weit weg, insbesondere was National- und Partikularinteressen angeht. Dass Europa am Scheideweg steht, wird hier nicht wahrgenommen. Die Nacht der Brüsseler Entscheidung, ob Griechenland im Euro verbleibt oder nicht, ist hier eine normale Nacht, ohne große Emotionen. Die zentrifugalen Kräfte am Rande Europas, wie wir sie aus Griechenland, Spanien, Portugal und Großbritannien kennen, zeigen sich hier nicht.

Der Autor des Beitrages.

Angesichts weiter steigender Flüchtlingszahlen ist in der Politik das Thema Grenzkontrollen plötzlich wieder auf der Tagesordnung. Die Menschen hier haben das schon viele Jahrzehnte hinter sich gelassen. Ein Trend zur Re-Nationalisierung ist nicht zu spüren. Es zeigt sich kein Bild von Deutschland als Macht der Mitte in Europa und die daraus resultierende Gestaltungsnotwendigkeit. Es ist die Macht des Bürgers, die sich hier im Herzen Europa verwirklicht, und die viel stärker ist als viele es annehmen. Der Blick der Menschen geht hier nicht in den Rückspiegel, sondern durch die Scheibe nach vorne, in die Zukunft. Vielleicht sollte man sich nicht von den wenigen Provokateuren, die plakativ eine Spaltung Europas fordern, vom großen Ganzen ablenken lassen. Auch wenn es zu Einzelthemen mit guten Gründen verschiedene Meinungen gibt, so ist der Tenor der Bürger eindeutig. “Wir sind Europäer”, lautet die Botschaft. Hier spürt man sie, in Kerneuropa.

Kinder verschiedener Nationalitäten spielen Fußball. Foto: Habbel

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