Wir sind’s

Berlin wird zum Labor für Bürgerbeteiligung

Habbel
9 min readJun 8, 2014

von Franz-Reinhard Habbel

Freude auf der einen Seite, Ratlosigkeit auf der anderen Seite. Das Ergebnis des Volksentscheides zur Nachnutzung des ehemaligen Berliner Flughafengeländes Tempelhofer Feld zwingt die Parteien und den Senat nicht nur zum Nachdenken, es zeigt auch, wie sich Politik in einer vom Bürger getragenen Gesellschaft neu formatiert. Die Zeit der Masterpläne aus der Verwaltung ist vorbei. In Berlin werden Weichen gestellt, wie es weitergeht mit den politischen Strukturen, mit der Ausbalancierung von Macht und einem Sinn stiftenden Gemeinwesen.

Und zwar nicht in der Bundespolitik, wie man beim Namen Berlin erwarten könnte, sondern unten auf der lokalen Ebene der Hauptstadt. „100 Prozent Tempelhofer Feld” ist das wohl derzeit bekannteste politische Bürgerbeteiligungsprojekt in Deutschland. Anders als in Stuttgart stehen hier nicht zwei Fronten unverrückbar und unversöhnlich gegenüber. Es geht nicht um Erhaltung oder Veränderung. Die alten Trennlinien zwischen Verweigerer und Befürworter gibt es nicht mehr. Beide Seiten wollen Veränderung, aber nicht so, wie es sich die Politik heute vorstellt.

Tempelhofer Feld ist auch Ausfluss des Unbehagens einer Alltagspolitik, die weitgehend durch Institutionen selbst bestimmt, wo es lang geht. In Berlin geht es nicht um Stillstand wie in Stuttgart, sondern darum, dass sich etwas bewegt. Tempelhofer Feld macht deutlich, dass Bürgerinnen und Bürger in einer Welt, in der der Zugang zu Informationen dank der Digitalisierung immer leichterer wird, in der sich Millionen von ihnen mit ihren Smartphones im Minutentakt austauschen, mehr Offenheit und Transparenz von ihrer Stadt erwarten. Sie wollen frühzeitig an der Entwicklung ihrer Stadt beteiligt werden. Sie verstehen sich als Co-Produzenten, sie wollen ihr Wissen einbringen, sie wollen Services teilen mit anderen, die gleiche Services nachsuchen. Bei dem Slogan „Bitte hier nicht bauen“ liegt die Betonung auf dem Wort „hier“ und nicht auf dem Wort „nicht“. „Anders bauen“ gibt vielleicht die Stimmung am Besten wider. Die Befürworter des Volksentscheides Tempelhofer Feld lassen sich nicht einfach beschreiben mit Begriffen wie „Träumer, Laubenpieper, ewigen Studenten oder auf dem Surfbrett fahrenden Transferempfänger”. Die Gruppe ist nicht mehr homogen. Es aktivieren sich auch die Urbanisten 2.0, die die Städte aus dem Quartier heraus entwickeln wollen, die Urban-Gardening-Projekte in die Tat umsetzen, die wieder verstärkt ihre Stadt erobern, die Diskurse über die Entwicklung der Stadt verlangen. Sie wollen ihren Lebensraum, die Zukunft ihrer Stadt mitgestalten. Sie wollen die Stadt kleinteiliger entwickeln, anders, smarter, ressourcenschonender, nachhaltiger, effizienter, partizipatorischer aber gleichwohl wachstumsorientiert. Sie wollen mehr Vernetzung, nicht nur untereinander, sondern auch der verschiedenen Politiken wie Mobilität, Energieversorgung, Bildung, Sicherheit und Gesundheit und Ernährung. Sie verkörpern den Trend des Lokalen, des Überschaubaren und sind damit Protagonisten des Bedeutungszuwachses der Städte im Vergleich zu den Nationen. Das ist kommunale Selbstverwaltung pur im 21. Jahrhundert.

Der Journalist Johannes Schneider schreibt im Tagesspiegel: „Ein Feld (Anmerkung gemeint ist das Tempelhofer Feld), das funktioniert wie eine Open-Source-Software, an der jeder mitwerkeln kann und keiner muss, das nie zur Marktreife gelangt, immer ein „Beta-Typ“ bleibt, aber sich stetig fortentwickelt, ist das perfekte Identifikationsangebot für diese junge Generation. Deren Haltung wird Entscheidungsprozesse demokratischer und notgedrungen auch schwerfälliger machen. Großprojekte zu realisieren dürfte künftig komplizierter werden“. Besser kann man es nicht formulieren.

Das Ergebnis des Berliner Volksentscheides ist in der Tat ein wichtiger Eckpfeiler für die Bürgerbeteiligung.

Es zeigt ein Kraftfeld auf, was in den kommenden Jahren weiter an Bedeutung zunehmen wird: Berlin wird zum Labor für Bürgerbeteiligung. Das aufgeklärte Bürgertum wird selbstbewusster. Diese veränderte Lebenswelt stößt heute auf eine politische Systemwelt, die diesem Anspruch nicht genügend Rechnung trägt. Und das ist die große Herausforderung nationaler Politik. Es geht um Rahmenbedingungen, die den Städten gemeinsam mit den Bürgerinnen und Bürgern mehr Freiräume zum selbstverantwortlichen Handeln einräumt, es geht um weniger Bürokratie, es geht um eine auskömmliche eigenverantwortliche Finanzausstattung, es geht um weniger Umverteilung in anonyme Finanzausgleichssysteme die kaum noch einer versteht. Der während der letzten Debatte auf Bundesebene über die Gemeindefinanzreform gemachte Vorschlag des Deutschen Städte- und Gemeindebundes, den Städten und Gemeinden das Recht von Zuschlägen auf den gemeindlichen Anteil an der Einkommensteuer zu gewähren, ist und bleibt ein richtiger Weg, insbesondere Infrastrukturprojekte gemeinsam mit den Bürgerinnen und Bürgern vor Ort zu finanzieren. Das was in der Kommune gemacht werden soll, wird für alle sichtbar, es erhöht die Identifikation mit der Stadt oder der Gemeinde.

Bürgergärten auf dem Tempelhofer Feld Foto: Habbel

Der Volksentscheid in Berlin hat der politischen Diskussionskultur gut getan. Vor, während und nach dem Volksentscheid wurden und werden viele Vorschläge gemacht wie es weiter gehen kann, Organisationen und Bürgerinnen und Bürger melden sich zu Wort. In den Zeitungen beginnt eine breite Debatte. Das Netz hat ein konkretes Thema. So hat jüngst der Initiator der Bürgerinitiative Julis Damms die Etablierung eines Nutzerbeirates vorgeschlagen, um gemeinsam mit den Bürgern die Zukunft auf dem Feld zu gestalten. Die Industrie- und Handelskammer schlägt vor, “im Dialog” mit “allen gesellschaftlichen Akteuren“ das „Wachstum der Berliner Bevölkerung und der Wirtschaft zu organisieren“, heißt es an andere Stelle im Tagesspiegel. Der stadtentwicklungspolitische Sprecher der CDU, Stefan Evers, regt die Gründung eines „Berlin-Forums“ an, „in dem Politik und Stadtgesellschaft auf Augenhöhe miteinander diskutieren“. Andere halten ein solches Forum wiederrum für nicht zielführend, weil es nicht um möglichst viele Gremien geht, die sich oftmals mit sich selbst beschäftigen, sondern „vielmehr eine Öffnung und effiziente Gestaltung politischer Entscheidungs- und Planungsprozesse“ notwendig ist. Verfahren müssten früher, transparenter und ergebnisoffener gestaltet werden. Die Reihe der Ideengeber lässt sich fortsetzen. Immer weitere neue Vorschläge werden gemacht. Das ist beindruckend und das Positive an der aktuellen Lage. „Auf dem Feld ist noch viel Platz“, titelt der Tagesspiegel und macht damit deutlich, dass vieles auf der Brache möglich ist.

Mit dem Bürgerentscheid wurde in der Tat eine breite Debatte in der Stadt ausgelöst. Bürgerinnen und Bürger erkennen darin ein hoffnungsvolles Zeichen, dass Stadtentwicklungspolitik auch mit ihnen möglich ist und nicht nur von Experten gemacht wird. Für die Politik stellt sich nun die spannende Aufgabe, wie sie das neue Engagement der Bürgerinnen und Bürger nutzen kann und es vor allem in die klassischen Verwaltungsabläufe einbringen kann. Um die Ideen vieler mit aufzunehmen und zu verarbeiten bedarf es offener Schnittstellen hinein in den Politik- und Bürokratieapparat. Ja, vermutlich müssen auch die klassischen Verwaltungsabläufe auf den Prüfstand. Abteilungen und Ämter, die wie Silos neben einander arbeiten, sind keine zeitgemäße Antwort auf die weiter zunehmende Vernetzung.

Tempelhof zeigt, dass immer mehr Berlinerinnen und Berliner aktiv politische Entscheidungen hinterfragen.

Der Volksentscheid hat den Nerv der Stadt getroffen. Ganz Berlin hat mit gemacht. In allen Berliner Bezirken wurde dem Gesetz zur Erhaltung des Tempelhofer Feldes mit klarer Mehrheit zugestimmt. Jetzt hat der Stakeholder das Wort. Die Bürgerinnen und Bürger planen ihre Fläche selber. Selbstdenken, Selbsthandeln und Selbstorganisieren findet hier ihre Verwirklichung. Nicht Experten von außen bestimmen, wie es weiter geht, sondern die Bürger selbst sind die Experten. Ihre Daseinsbewältigungskompetenz, wie es der Soziologe Harald Welzer beschreibt, ist es, die sie hoch kompetent macht und zum Handeln legitimiert.

Fahrradwerkstatt auf dem Tempelhofer Feld Foto: Habbel

In dem Volksgesetz wurde von den Befürwortern auch die Beteiligung der Bürger erwähnt. was die Gestaltung des Feldes jetzt betrifft. Wie das zu erfolgen hat, ob Runder Tisch, Online-Befragung oder Workshop ist offen.

100 Prozent Tempelhofer Feld hat in Deutschland dem Thema Bürgerbeteiligung neue Schubkraft verliehen. Die Messlatte für künftige Infrastrukturprojekte liegt jetzt ziemlich hoch. Das heißt, eine frühe, umfassende und ernsthafte Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger ist unabdingbar. Ansonsten wird kein Bauprojekt mehr das Licht der Welt erblicken. Aber: Ein paar Dialogveranstaltungen und Webseiten mit Informationen über schon geplante Projekte reichen allerdings nicht mehr aus. Alle Varianten gehören auf den Tisch und müssen diskutiert werden. Das bedeutet in aller Regel keinen Zeitverlust, denn die scheinbar „ verlorene Zeit“ kann bei der Umsetzung wieder hereingeholt werden. Schon bevor es überhaupt los geht, sollten sich alle über den Verfahrensablauf verständigen. Erst Pläne zu erstellen und dann mit der Bürgerbeteiligung zu beginnen, ist zu spät. Bürgerinnen und Bürger müssen von Anfang an mit in die Projekte eingebunden werden, zum Beispiel über Ideenworkshops. Dabei geht es nicht nur um den Abbau von Ängsten, sondern um die Mitnutzung des Wissens der Bürgerinnen und Bürger. Aus der Tiefe des gesellschaftlichen Raumes sollten die Politiker und Verwaltungsexperten bei ihren Überlegungen schöpfen. Nah an den Problemen und Herausforderungen zu sein kann auch dadurch geschehen, dass beispielsweise mit Sozialarbeitern und Vereinen gesprochen wird. Auch ihr Erfahrungswissen ist eine wertvolle Quelle zur Quartiersentwicklung. Sprachlosigkeit und Sprachverwirrung durch „Politikersprech“ müssen vermieden werden. Wer zum Beispiel herunter gekommene öffentliche Plätze wieder als Fläche des Aufenthaltes und der Begegnung herrichten will, muss zuvor mit den Anwohnern sprechen, sie fragen, sie mit in die Überlegungen einbinden. Auch sie müssen die Umgestaltung wollen, auch sie müssen sich aktiv beteiligen, in dem sie selbst Hand anlegen an die Rückgewinnung des Platzes für die Gemeinschaft. Bürgerinnen und Bürger werden so zu Co-Produzenten von Verwaltung. Sie kooperieren mit der Stadt, sie sind Netzwerkpartner. Im Labor Bürgerbeteiligung sollte deshalb auch über einen nächsten Schritt hinsichtlich der Veränderung der politischen Systemwelt nachgedacht werden, nämlich über ein Contracting mit Bürgerinnen und Bürgern. Das würde bedeuten, dass Bürgerinnen und Bürger, die sich für einen bestimmten Zeitpunkt zur Arbeit an einem kommunalen Projekt, z.B. einem Elternkindergarten, verpflichten, während dieser Zeit weniger Steuern zahlen. Die rechtlichen Rahmenbedingungen müssten hierfür angepasst werden, bürokratische Einwände zählen nicht, denn moderne IT-Verfahren machen solche individuellen Verrechnungen ohne großen Aufwand möglich.

Tempelhofer Feld Foto:Habbel

Wie früh man anfangen kann, zeigt ein Beispiel aus der Stadt Mettmann. Dort wurde mitten in der Fußgängerzone in einem Rohbau für einen Monat eine Projektwerkstatt eingerichtet, in der sich Bürgerinnen und Bürger mit Politikern und Organisationen treffen konnten. Das Besondere daran ist, dass im Rahmen des Projektes Mettmann 2029 reale Bilder von Gebäuden oder öffentlichen Plätzen in der Stadt, beispielsweise mit neuen Fassaden oder Raumnutzungen wie Cafés, überlagt wurden. Die Bilder zeigen das Heute und das Morgen und vermittelnden so einen Eindruck, wie die Stadt in Zukunft aussehen könnte. In der Projektwerkstatt fanden gezielt Veranstaltungen mit Jugendlichen, Senioren oder Migranten statt, die ihre dort ihre Stadt der Zukunft weiter verändern konnten. Hunderte von Menschen haben die Projektwerkstatt besucht. Umfangreiche Vorschläge gingen ein und werden jetzt von den Parteien, Initiativen, Kommunalpolitikern und der Kommunalverwaltung ausgewertet. Viele Bürgerinnen und Bürger sind Stolz, dass sie ernst genommen werden. Die Zukunft einer Stadt in der Gegenwart „sichtbar“ zu machen ist damit in Mettmann gelungen. Hinsichtlich des Einsatzes von Computerbildern ist das Projekt einmalig in Deutschland und sollte auch in anderen Städten Schule machen.

Mettmann: Heute oben links, Computerbild 2029 Mitte Foto: Habbel

Welche Kraft inzwischen das Internet den Bürgerinnen und Bürger gibt, zeigt sich in Mettmann auch an dem Projekt „Kinderfreundliches Mettmann“. Die Initiatorin Nicola Hengst-Gohlke setzt sich für ein kinder- und familienfreundliches Lebensumfeld in Mettmann ein. U.a. geht sie der Frage nach, wie Familiengerechtigkeit in Kommunen und Unternehmen und Gesellschaft durch den Einsatz sozialer Technologien gefördert werden kann. Im Jahre 2009 rief sie in Mettmann die „Initiative Spielplatzpaten für Mettmann“ ins Leben.

Die Initiative hat sich mittlerweile zu einem Netzwerk von Menschen, Institutionen, Organisation etc. entwickelt, die sich dem Thema Stadt als Spiel, Erlebnis- und Erfahrungsraum widmet. Das Beispiel zeigt, wie Menschen auch im politischen Bereiche Dinge selbst in die Hand nehmen. Hier zeigt sich: Selbstdenken — Selbsthandeln — Selbstorganisieren.

Auch das Internet spielte beim Volksbegehren in Berlin eine wichtige Rolle. Über die Webseiten, Facebook, Twitter & Co hinaus wurde von Berlinern ein satirisches Onlinespiel zum Thema Wohnungspolitik in Berlin entwickelt und unter dem Titel Online-Spiel „ZERSTÖRT ZERSTÖRT“ ins Netz gestellt. Dort wird der Prozess der Gentrifizierung abgebildet, Spieler kommunizieren miteinander über die Stadtentwicklung. Die Verdrängung und Zwangsräumungen werden hier satirisch aufs Korn genommen.

Durch die rasante Nutzung von Smartphones, mittlerweile gibt es allein in Deutschland mehr als 40 Millionen, wird sich die Einbringung von Bürgerinnen und Bürgern in politische Prozesse weiter beschleunigen. Die Politik ist aufgerufen, sich verstärkt auch in sozialen Netzwerken zu bewegen.

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