Mainz in Flammen
Ein Tatsachenbericht über den Luftangriff am 27. Februar 1945
Herausgeber: Richard Kurtz, Mainz, 1951
Autorin: Waltraud Kurtz (*20.05.1923 †10.11.2019)
Digitalisierung und Übersetzung: David Haberlah, Enkel der Autorin basierend auf persönlichem Exemplar. Die Autorin war die Frau von Richard Kurtz, wurde allerdings nicht als Autorin aufgeführt, um der journalistische Karriere ihres Mannes nach dem Krieg zu unterstützen. In dem Bericht schildert sie ihre eigenen Eindrücke unter dem Pseudonym Erika Hartmann.
* * *
Der Abend vor dem Angriff
26. Februar 1945
Im Osten haben sich die sowjetischen Truppen in Pommern und Schlesien festgesetzt. Hinter den Stellungen an der Oder rollt Tag und Nacht der Nachschub, um die entscheidende Offensive gegen die Reichshauptstadt vorzubereiten. Aus dem Einbruchsraum bei Neustettin konnten sowjetische Panzerspitzen bis zur Ostseeküste bei Köslin-Schlawe vorstoßen. In Ostpreußen und in Kurland werden die letzten eingekesselten deutschen Truppenverbände weiter zurückgedrängt. Immer wieder greift die sowjetische Infanterie an, und ihre Panzer überrennen die deutschen Schützengräben. Erbitterte Kämpfe toben an allen Fronten. Greise und Kinder werden aufgerufen, “zu den Waffen zu eilen”, die nicht mehr vorhanden sind.
“Wanderer, kommst du nach Sparta, so berichte, du habest uns hier liegen sehen, wie das Gesetz es befahl!”
Wir haben sie liegen sehen, zu Hunderttausenden hingeschlachtet, weil das Oberkommando der Wehrmacht diese sinnlosen Opfer forderte. Der Krieg war längst zu Ende. Das war kein Krieg mehr. Deutschland ging den Weg der Vernichtung, den Weg des Todes, den schlecht ausgerüstete Soldaten in den Schützengräben der zurückflutenden Fronten, den Frauen und Mütter, Greise und Säuglinge tausendfach in den Luftschutzkellern unter den Häusertrümmern der Städte sterben mußten.
Im Westen hatten die Amerikaner täglich neue Kräfte in den Kampf geworfen, und Montgomery war zur Großoffensive angetreten. Der erste Stoß kam aus dem Raum München-Gladbach, Rheydt und Krefeld. Der zweite Stoß ging in Richtung Köln, das an diesem Tage bereits unter dem Beschuß der feindlichen Artillerie lag.
Die deutschen Menschen in den Städten, auf die täglich und nächtlich die Bomben der amerikanischen und englischen Luftwaffe hämmerten, schüttelten die Köpfe, wenn in den Wehrmachtsberichten davon gesprochen wurde, daß sich “Selbstvertrauen, Mut und Beharrlichkeit wieder als die stärkeren Waffen erweisen, die Deutschland dem Massenansturm und den Materialmassen seiner Gegner aus dem Westen und Osten entgegen setzt, und die schließlich doch alle Pläne der Feinde durchkreuzen werden”. Man sprach selbst in den Wehrmachtsberichten nicht mehr vom “Sieg” und ersetzte dieses früher so oft gebrauchte Wort durch vorsichtiger gewählte Ausdrücke, mit denen man sich nicht festlegte.
Die Zivilbevölkerung erwartete das Ende. Sie wartete bangen Herzens auf das Ende jenes ungleichen Kampfes, der täglich und stündlich sein Opfer forderte.
Schluss jetzt!
Wir wollen nicht mehr!
Wir können nicht mehr!
Trotz der strengen Strafen, die ein autoritäres Regime auf solche Äußerungen verhängte, wurden sie täglich lauter, und in der Stunde des Todes, in den von Trümmern, Rauch und Feuer eingeschlossenen Kellern zu einer bitteren Anklage. Blühende Menschen, verhärmte Frauen, unschuldige Kinder wurden bis zum letzten Atemzuge gequält, bis der Tod sie erlöste.
Die meisten deutschen Städte lagen in Trümmern. Auch Mainz war schon zum größten Teil zerstört und ging seiner schwersten Stunde entgegen.
* * *
26. Februar 1945, 22.00 Uhr
Gegenüber dem Hauptbahnhof, wo heute die Eisenbahnerkantine untergebracht ist, befand sich das Soldatenheim. Hier tat Schwester Ilse vom Roten Kreuz ihren schweren Dienst.
In dem überfüllten Raum saßen müde Landser im zerschlissenen Feldgrau an den Tischen, Kopf und Arme verbunden. Viele von ihnen hielten mühsam zwischen geschnittenen Fingern eine Zigarette, deren Rauch sie gierig aufsogen. Mit den Händen zerbröckelten sie das immer seltener werdende Brot und aßen mit rostigen Blechlöffeln aus irdenen Näpfen eine dünne Suppe, die Schwester Ilse am Schalter ausgab.
Es war alles anders geworden. Vor einiger Zeit noch gab es Marschverpflegung. Die Dauerwürste waren inzwischen in Flammen aufgegangen. Das Korn, das die Bauern nur noch zwischen Tag und Nacht, um die Lebensgefahr auf den Feldern mähen konnten, reichte nicht aus unter vielen hungrigen Mäulern, die auf engstem Raume zusammengepfercht und von außen abgeschlossen waren, zu sättigen. Die Viehbestände waren dezimiert, selbst die Säuglinge bekamen oft keine Milch mehr.
Der Krieg, der sich jahrelang an den Fronten ausgetobt hatte, hatte übergriffen auf das Deutschland zwischen den Fronten, das Deutschland, das von diesen Fronten erdrückt zu werden drohte.
Im Soldatenheim warteten die Landser und die Schwestern auf den üblichen Alarm. Sie dachten daran, wann das Ende kommen würde, das sie fürchteten und doch herbeisehnten, das ihnen die drückende Ungewissheit nehmen würde, das Ende des Todes.
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26. Februar, 22.00 Uhr
Im Café Münstertor sitzt der Fliegerleutnant Werner Hilbert mit seiner Braut Anneliese Burckardt. Vor ihnen standen zwei Tassen Ersatzkaffee.
“Werner, ich habe noch 60 Gramm Weißbrotmarken, das reicht gerade für zwei Stücke Kuchen.”
“Als ich vor einem Jahr in Urlaub war, bekam man wenigstens noch ein Stück Torte.”
“Ich würde gerne trockenes Brot essen, Werner, wenn ich dich nur hier behalten könnte, und dieser unselige Krieg zu Ende wäre.”
“Zuerst müssen wir aber noch den Krieg gewinnen.”
“Krieg gewinnen? Glaubst du daran?”
“Willst du vielleicht, daß wir ihn verlieren?”
“Das will niemand. Aber es ist zu Ende. Wenn es heute nacht in der Stadt still geworden ist, wirst du von deinem Fenster aus die näherkommende Front hören. Nicht nur die feindlichen Flieger — die kommen ohnehin — , aber die Geschütze und die Panzer, die bereits bei Zweibrücken durchgebrochen sind. Es ist aus, Werner, aus, aus … Warum hat man nicht schon früher Schluß gemacht?”
“Nicht so laut, Anneliese, wenn das einer hört! — Wir Soldaten werden die Front halten!”
“Die Front halten? Die hält niemand mehr. Das ist doch falsches Heldentum und sinnloses Opfer. Du bist Offizier, Werner. Du hast Clausewitz gelesen. Weißt du, was Clausewitz gesprochen hat und jetzt erst recht sagen würde: ‚Es ist ein Verbrechen, einen Krieg weiterzuführen, den man bereits verloren hat.’ Und Clausewitz schrieb dies für Offiziere, wohlgemerkt für Offiziere.”
“Aber Clausewitz wußte noch nichts von einem totalen Krieg.”
“Ist das totaler Krieg, wenn man Greise und Krüppel, Frauen und Kinder ohne Waffenausbildung als Zielscheiben in die vordersten Linien schickt?”
“Das ist das Opfer, das unser Volk bringen muß, um den Endsieg zu erringen.”
“Ist das ein Opfer für ein Vaterland, das bereits längst zu existieren aufgehört hat? Aufgehört hat durch die Schuld derer, die die verhängnisvolle These in die Tat umsetzen zu müssen glaubten, daß der Krieg die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln sei.”
“Ich habe nach unzähligen schweren Angriffen, die ich geflogen habe, das Eiserne Kreuz erster Klasse erhalten. Das bedeutet für mich Verpflichtung.”
“Verpflichtung? Entschuldige, daß ich dir ein hartes Wort sagen muß: Das sind Phrasen! Ist es Verpflichtung, Bomben zu werfen, Menschen zu töten?”
“Und was tun die anderen? Werfen sie nicht auch Bomben, Bomben auf die Zivilbevölkerung? Töten sie nicht sinnlos Menschenleben?”
“Und deswegen muß Schluß gemacht werden! Noch eines Werner: Ich möchte dich nicht verlieren. Du mußt wiederkommen, auch wenn wir den Krieg verlieren.”
“Und wenn wir den Krieg verlieren, was soll aus uns werden, Anneliese?”
“Wir wollen unser Leben leben, so, wie wir davon geträumt haben. Ich möchte einmal keine Angst mehr haben”
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In der Offiziersmesse des Flugplatzes Dijon saß Captain Walter
Smith und trank sein Coca-Cola.
“Damned Lieutenant”, sagte er zu seinem Gegenüber, “dieser verfluchte German in seiner Focke-Wulf 190. Heute habe ich ausnahmsweise wieder einen von diesen Burschen gesehen. Über Francfort war er auf einmal da, flog von oben an und verpaßte meiner Maschine ein Dutzend Treffer. Unsere Lightnings nahmen ihn sofort aufs Korn, und er trudelte ab. Schade um ihn, aber er wird uns nicht wieder zu nahe kommen.
Have you cigarettes? — Thanks! Das Wetter ist gut. Morgen können wir wieder in großen Formationen fliegen. Jagdschutz wird langsam überflüssig. Die Germans haben kein Material mehr — und keine Menschen. Good night, Lieutenant, morgen werden wir ihnen wieder einheizen, morgen …”
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Fahler Mondschein über der Straße Mainz-Bodenheim. Überall gab es noch Bombentrichter, die nur notdürftig zugeschüttet waren und auch an diesem Abend die beiden Radfahrer daran erinnerten, daß Krieg war. Mühsam bewegten sie sich vorwärts. Die Hände schmerzten vom Frost. Bisweilen hörten sie gespannt nach dem Himmel. “Werden sie uns heute einmal in Ruhe lassen?” Die beiden waren die Studentin Erika Hartmann aus Mainz, die als Flakhelferin eingezogen war, und der Flakkanonier Alois Wagner aus Passau.
Ihre Stellung lag in Bodenheim. Erika Hartmann kehrte von einem zweitägigen Urlaub zurück, den sie bei ihren Eltern auf dem Flachsmarkt verbracht hatte. Der Soldat Alois hatte sie abgeholt.
Sicher wäre es bequemer gewesen, mit dem Zug nach Bodenheim zu fahren. Man schrieb aber den 26. Februar und befand sich im fünften Kriegsjahr. Daß überhaupt noch Züge fuhren, war zweifellos eine Leistung der Reichsbahn. Trotzdem war der Fahrplan in Verwirrung geraten, und die Züge waren so überfüllt, daß es sicherer war, sich eines anderen Fahrzeuges zu bedienen. Die Strecken waren teilweise zerstört, nur notdürftig wieder hergerichtet, und im übrigen fehlte es an Kohlen. Nicht nur bei der Bahn, mehr noch bei der Zivilbevölkerung.
Erika und Alois, die ohne Licht fuhren, brauchten lange bis Bodenheim. Daran waren nicht nur die alten Fahrräder schuld. Auf der Straße lagen von Bomben entwurzelte Bäume, niemand hatte bisher Zeit gefunden, sie wegzuschaffen.
Der Krieg neigte sich seinem Ende entgegen. Die vielgerühmte Organisation begann zu versagen. Je mehr sich die Angriffe und die Zerstörungen steigerten, desto mehr begannen die Menschen, die bereits hundertfach den Tod in den Luftschutzkellern der Stadt erlebt hatten, sich zu fürchten vor dem Finale des Krieges, das sich am Horizont abzeichnete und dessen Fortissimo bereits an stillen Abenden vom Südwesten her die Stadt erreichte.
Der Soldat Wagner und die Studentin Erika Hartmann fuhren weiter in die Nacht.
In der Ferne leuchtete kurz ein Scheinwerfer auf, über ihnen, etwas weiter weg, hörte man Motorengeräusch. Hinter ihnen lag die Stadt in Dunkel gehüllt, denn die Menschen wagten vor Angst nicht einmal, eine Kerze anzuzünden. Sie waren wohl darauf bedacht, daß die letzte Fensterritze abgedunkelt war, denn sie konnte den tausendfachen Tod zu sich rufen.
Weisenau und Laubenheim waren bereits durch den Fliegerangriff am 1. Februar 1945 schwer angeschlagen worden, In Bodenheim lag die Scheinwerferbatterie, die eigentlich nur noch dem Namen nach existierte, denn für die Aggregate war längst kein Benzin mehr vorhanden. Laut Befehl aber wurde Dienst gemacht, Dienst mit Kriegsversehrten ohne Bein, mit alten gebrechlichen Männern, die General “Heldenklau” noch in der letzten Minute zusammengekratzt hatte, Dienst mit Flakhelferinnen, die ebenfalls zwangsverpflichtet waren.
Zur 21. Flakdivision gehörten neben den Scheinwerferbatterien in Bodenheim, Hechtsheim und einigen anderen Ortschaften noch die Flakbatterien in Hochheim und in Finthen, deren Tätigkeit sich in der Regel in einigen harmlosen Schreckschüssen erschöpfte. Dazwischen gab es noch einige Geschütze der Eisenbahnflak.
Der Soldat Alois kehrte zur Flakstellung zurück. Erika Hartmann ging auf ihre Stube in einem Bodenheimer Bauernhaus. Ihre Quartierwirtin, Frau Kaufmann, hatte gerade den französischen Kriegsgefangenen, der bei ihr arbeitete, ins Lager gebracht.
Erika ging sofort zu Bett. In der Ferne hörte sie die näher kommende Front. “Hoffentlich gibt es keinen Alarm!” Morgen hat sie wieder Nachtdienst, morgen …
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One — two — three — four — five …
Wegen Startverspätung des dritten Geschwaders Angriff auf Objekt “tree” um fünf Minuten verschoben. Führungsmaschine wirft five minutes später Brandbombenherd in Zielmitte. Korrekturen werden nach Zahlenskala über Sprechfunk auf Kurzwelle bekanntgegeben.
Angriffsfolge wie bekannt: 4. Geschwader in X-Höhe, 5. Geschwader in Y-Höhe, die restlichen Geschwader wie befohlen.
Wegen Startverzögerung der 3. Gruppe des 4. Geschwaders 2. Gruppe Geschwindigkeit drosseln auf 1,1 Atü Ladedruck, 3. Gruppe mit Ladedruck bis an Startleistung herangehen. Bordmechaniker der 3. Gruppe genau Armaturen beobachten.
Auf der Welle des Korps sofort melden, wenn German-Jäger gesichtet werden. Alles klar? Ich zähle zur Abstimmung — one — two — three — four — five …
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Während ein Teil der amerikanischen fliegenden Verbände den Rhein von Nordwesten her in Richtung Mainz entlangflog und sich über Bacharach neu formierte, kam Captain Walter Smith an der Spitze seines Geschwaders aus dem Saônetal, um sich an der Reichsgrenze mit weiteren Gruppen und Geschwadern, die auf verschiedenen westfranzösischen Flugplätzen gestartet waren, zu einem Pulk zu vereinigen.
“Halloo boys! Da unten der Feind! Where is the Luftwaffe? Der Krieg ist bald aus. What is the time?”
“16.00 Uhr!”
“Oh, that’s good! In einer Viertelstunde greifen wir Mainz an.”
27. Februar 1945
One — two — three — four — five …
Dritte Gruppe — dritte Gruppe — dritte Gruppe …
Bombenschützen — Achtung! Abwurfautomateneinstellung ändern!
Christbäume knapp rechts vom Ziel, treiben Zielmitte. Automateneinstellung: Bombenabstand 50 Fuß, Abtrift minus 4 Grad, Grundgeschwindigkeit 280 Meilen bei Angriffsrichtung 18 Grad. Höhe über Grund 6 200 Fuß.
Keine Abwehr. Statt Staffel- jetzt Geschwaderangriff.
Achtung! Befehl des Commanders: Verbände in Wartestellung, Captain Smith gibt das Zeichen zum Wurf. Die anderen folgen und werfen nach Sicht. Maschinen mit Zeitzünder Mindesthöhe nicht unterschreiten.
Verbände mit Brandbomben nicht zu spät auslösen. Führungsflugzeuge nochmals Wind und Grundgeschwindigkeit bestimmen und melden!
Achtung! Befehl von Flotte: Captain Smith, you understand?
“Twenty — one, twenty — two Achtung — Bomben fallen!”
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In der Emmeranstraße lag das Gebäude der Druckerei Schneider. Im Hinterhaus unter dem technischen Betrieb befand sich der Keller. Es war ein alter Weinkeller mit schweren und gut abgestützten Gewölben. Da er allgemein als bombensicher galt, wurde er nicht nur von der Firma selbst sondern auch von der Nachbarschaft bei Fliegeralarm aufgesucht, obwohl es in unmittelbarer Nähe noch einen öffentlichen Luftschutzraum gab. Einen kleinen Teil des Kellers benutzte die Druckerei Schneider zum Aufbewahren von Material, insbesondere von Blei.
Als die ersten Bomben fielen, hatten sich die Frauen — und es waren in der Mehrzahl Frauen — auf den Boden geworfen und das Gesicht auf die Erde gepreßt. So hatten sie es in den Luftschutzkursen gelernt. Dies war die einzige Möglichkeit, die Lungen vor dem Zerreißen zu schützen.
Die meisten waren gefaßt. Es war nicht der erste Angriff, den sie miterlebten, und es waren nicht die ersten Bomben, die sie fallen hörten. Sie hatten Kochtöpfe über den Kopf gestülpt — ein schlechter Ersatz für die fehlenden Stahlhelme — , um sich so gegen herabstürzendes Mauerwerk zu decken. Nasse Tücher vor dem Mund sollten das Atmen erleichtern. Um den Hals hing an einer Schnur die Trillerpfeife, die bei einem eventuellen Verschüttetwerden den Bergungskommandos die Richtung weisen sollte.
Der Boden bebte, die Gewölbe dröhnten, die schweren, zusätzlich eingebauten Streben schienen sich durchzubiegen. Eine fürchterliche Detonation lähmte die Trommelfelle. Die Züge der Wartenden erstarrten vor Angst. Im Nachbarkeller war ein Volltreffer eingeschlagen. Der Mauerdurchbruch wurde vom Luftdruck eingerissen, Rauch und Hitze strömten in den Keller.
Auch das technische Gebäude über dem Keller mußte einige Treffer abbekommen haben.
Genau 22 Minuten dauerte der Angriff. Irgend jemand hatte auf die Uhr gesehen. Als es stille wurde, ging der Seniorchef zum Ausgang. Viele Augenpaare folgten ihm. Doch was alle befürchtet hatten, war nicht eingetroffen. Der Kellerausgang war frei.
Draußen schienen alle Naturgewalten entfesselt zu sein. Es gab kein einziges Haus, das nicht lichterloh brannte. Herr Schneider erkannte die Gefahr und forderte die anderen auf, den Keller zu verlassen.
Nur wenige beherzte Männer wagten es, ihm zu folgen. Die Straße war sehr eng. Sie rannten um ihr Leben. Mauerwerk stürzte ein, das Feuer nahm den Sauerstoff. Das Atmen wurde schwer. Einer wurde erschlagen. Niemand konnte ihm helfen, Jede Sekunde war kostbar, denn die Luft war knapp und reichte vielleicht nur bis zum Schillerplatz.
In dem Keller aber begann der Todeskampf. Durch den Mauerdurchbruch drang vom Nachbarkeller der beißende Rauch, dem eine mörderische Hitze folgte. Der Ausgang war jetzt ebenfalls durch die Hitze gesperrt. Das Flammenmeer der Emmeranstraße trieb diejenigen zurück, die sich vielleicht noch entschlossen hatten, den Ausbruch zu wagen. Was sich dann abspielte, haben 43 Belegschaftsmitglieder und 15 bis 20 weitere Personen, die in dem Keller Schutz gesucht hatten, mit ins Grab genommen.
Der Tod mag wohl schnell über sie gekommen sein. Kohlenoxyd machte sie bewußtlos, die Hitze ließ ihren Körper zusammenschrumpfen und verkohlen. Kopf, Arme und Beine fielen ab. Sogar das Blei schmolz und tropfte in die Ritzen des Kellerbodens.
Erst nach Tagen arbeitete sich ein Bergungskommando an den Keller heran. Nur drei Leichen, die noch in einer Mauernische standen, konnten identifiziert werden.
Man lud sie auf einen Wagen zu vielen anderen und fuhr sie aus der Stadt. Auf einem Belegschaftsgrab im Mainzer Hauptfriedhof steht ein Kreuz, und in der Kartei der Friedhofsverwaltung eine Notiz: Firma Schneider, Feld 67 R 5a Nummer 17 bis 18, Reste von 40 Personen.
* * *
Über Bodenheim drehten schwere Bombenflugzeuge. Sie folgten unmittelbar dem Alarm, den die Sirenen knapp vorher gegeben hatten. Die Menschen flüchteten in die Wein- und Kartoffelkeller, deren Gewölbe durch Balken abgestützt waren, um zwar nicht einem Volltreffer, aber doch den etwa einstürzenden Häusern standhalten zu können.
Auch Erika Hartmann lief mit einer Tasche, in der sich lediglich die wichtigsten Papiere und noch ein Paar Strümpfe — kostbare Stücke in jener Zeit — befanden, in den Keller. Dumpf dröhnten in der Ferne die Detonationen. Der Angriff galt ihrer Heimatstadt. Über die Lebensmittel und die Einmachgläser in der Ecke, die es in der Stadt längst nicht mehr gab, wanderten ihre Gedanken zu ihrem Hause in Mainz.
Pausenlos dröhnten die fernen Einschläge der Bombenteppiche in den Gewölben und ließen sie erzittern. Mit ihr saß teilnahmslos die alte Frau Kaufmann in der Ecke. Aufgeregt ging ihre Schwiegertochter im Keller auf und ab, bei jeder größeren Detonation erschreckt zusammenfahrend. Die Kinder weinten.
Die alte Frau hatte wohl nichts mehr zu verlieren. Nur an ihren Sohn dachte sie, der das Schicksal zahlloser Soldaten des zweiten Weltkrieges teilte: In Rußland vermißt. Und so gehörte sie zu den Müttern, deren ganzes Tun nur noch von dem einen Gedanken erfüllt war: Kommt er wieder, lebt er noch?
Auch André, der französische Kriegsgefangene, bangte um sein Leben. Vielleicht wurde den Menschen im Keller in diesem Augenblick bewußt, daß der Tod nicht nach der Nationalität seine Auswahl trat, wenngleich er gegen Ende des Krieges die Deutschen besonders zu bevorzugen schien. Zweiundzwanzig bange Minuten vergingen. Die Menschen, die sich in die Keller verkrochen hatten, horchten auf, atmeten auf. Das höllische Inferno war beendet. Langsam kamen sie nach oben. Dicke Rauchschwaden stiegen im Norden zum Himmel. Bis nach Bodenheim hörte man das unheimliche Rauschen des Flammenmeeres. “Lieber Gott, wann wird das ein Ende haben?” fragte das alte Mütterchen.
Erika Hartmann war verzweifelt. Sie mußte wissen, was in Mainz geschehen war. Sie mußte aber auch zum Dienst und stand unter Kriegsrecht. So ging sie den weiten Weg zu ihrer Stellung in den Weinbergen, setzte sich an den Klappenschrank und versuchte mit Flakeinheiten, die näher an der Stadt lagen, Verbindung aufzunehmen. Stellung 31 schwieg. Stellung 33 schwieg. Stellung 34 schwieg. Endlich meldete sich 32. Die Stellung 32 lag bei Hechtsheim.
“Weißt du etwas von Mainz?”
“Nein, es ist jede Verbindung nach dort abgerissen. Auch über andere Stellungen ist keine Verbindung zu bekommen. Unsere Entstörtrupps, die wir ausgeschickt hatten, sind wieder zurückgekehrt. Sie können nicht in die brennende Stadt hinein. Die Kabel sind an so vielen Stellen zerschlagen, daß an eine Ausbesserung in diesem Augenblick nicht zu denken ist. Aber es sind Flüchtlinge hier vorbeigekommen, die alle Furchtbares berichten.”
Erika legte den Hörer auf. Unzählige Male hatte sie um ihre Heimat gebangt, unzählige Male war sie noch einmal davongekommen. Diesmal aber hatte sie das sichere Gefühl, daß der heutige Angriff auf Mainz auch ihr die Heimat und ihr bißchen Habe genommen hatte.
* * *
Als Überbleibsel der alten Festungs- und Garnisonstadt hatte Mainz noch seine Forts. Die tiefliegenden Kasematten bildeten so natürliche Luftschutzbunker, die lediglich mit einigen Eisentüren und Schleusen ausgestattet zu werden brauchten.
Das Fort Stahlberg in unmittelbarer Nähe des Städtischen Krankenhauses bot den Bewohnern an der Peripherie der Stadt mehr Sicherheit als die alten Weinkeller mit ihren schweren Gewölben oder die Keller in den leichten Neubauten, die Hals über Kopf auf Befehl der Luftschutzdienststellen ausgebaut wurden.
Leider konnten nur wenige Mainzer aus der Innenstadt in diesen ziemlich bombensicheren Forts Zuflucht suchen, da der Weg bis dahin zu weit war und die Angriffe meist dicht hinter den Alarmen folgten.
Am Rande der Innenstadt befanden sich, besonders bevorzugt durch die natürliche steile Lage, die tiefen Keller der Aktienbrauerei und der Sektkellerei Kupferberg. Der Aktien- und ein Teil der Kupferbergkeller waren in fünf Minuten vom Münsterplatz und vom Schillerplatz zu erreichen und von der Emmerich-Joseph-Straße, der Walpodenstraße und der Mathildenterrasse zugänglich.
Bedingt durch diese günstige Lage, und da sie leichter zu erreichen waren als die abgelegenen Forts, waren diese Keller stets überfüllt. Sie konnten zusammen einige tausend Menschen aufnehmen. In beiden Kellern war während des ganzen Krieges kein einziges Opfer zu beklagen, obwohl auf den Aktienkeller ein Volltreffer niedergegangen war. Weiterhin befand sich in der Nähe des Städtischen Krankenhauses das Fort Joseph, das 3 600 Personen Schutz bieten konnte. Dem Städtischen Krankenhaus stand in diesem Fort ein eigener großer Luftschutzraum zur Verfügung, der durch die Heizungskanäle mit den einzelnen Bauten des Krankenhauses unterirdisch verbunden war.
Am 27. Februar schlug eine schwere Bombe auf das Fort Joseph. Die alten Gewölbe hielten aber dem Druck stand. Menschenleben waren nicht zu beklagen.
Am Freiherr-vom-Stein-Platz war das Fort Philipp mit einem Fassungsvermögen von 1 500 Personen, das am 21. September 1944 einen Volltreffer erhalten hatte, der 21 Menschen das Leben kostete. Der Abschnitt, in dem es die Toten gegeben hatte, wurde später zugemauert. Das Fort wurde weiter benutzt.
2 700 Personen faßte das Fort Karl am Rosengarten. Es besaß einen direkten Zugang zum Südbahnhof. Bei allen Luftangriffen auf Mainz gab es in diesem Fort weder Tote noch Verletzte.
Die Zitadelle, in der fast regelmäßig 2 200 Menschen Zuflucht suchten, hatte im Laufe der Angriffe viele Volltreffer abbekommen. Nicht ein einziges Mal gab es Verluste.
Am Thingplatz konnte das Fort Weisenau 1 000 Personen aufnehmen. Es erhielt am 27. Februar einen Volltreffer auf den Eingang, der sogleich verschüttet wurde. Über die Zahl der Toten lagen von sonst sehr zuverlässigen Quellen zwei völlig verschiedene Aussagen vor. Die einen sprachen von höchstens vier bis fünf Toten, die anderen wollten mit Bestimmtheit wissen, daß hier ca. 50 Menschen ums Leben gekommen seien.
Daneben gab es noch kleinere Forts, die ohne Treffer davonkamen, so u, a, das Fort Mariaborn mit einem Fassungsvermögen von 250 Personen und das Fort Heiligkreuz mit 150 Personen.
Von der Bastion Alexander bis zum Fort Karl hatte man die früheren Minengänge geöffnet und ebenfalls als Luftschutzbunker eingerichtet. Sie faßten insgesamt etwa 3 000 Personen. Auch hier ist niemandem etwas passiert.
Das Bergungskommando der Luftschutzpolizei unter der Leitung von Herrn Ludwig hatte in den Fort Stahlberg seine Dienststelle und Unterkunft. Hier waren jene Männer untergebracht, die die traurigen Folgen des menschen- und städtevernichtenden Krieges zu liquidieren hatten.
Wenn die ersten Fliegerwellen kamen, und die ersten Bomben in der Stadt detonierten, summte der Fernsprecher.
Der Leiter des Kommandos nahm den Hörer ab: “Wo? Wir kommen sofort!”
Aufgesessen auf den Mannschaftswagen, als einzigen dürftigen Schutz den Stahlhelm auf dem Kopf, fegten sie durch die ausgestorbene Stadt, deren Opfergang noch nicht zu Ende war. Oft waren sie das Ziel der Jagdflieger, die sie ins Visier nahmen, und deren Maschinengewehrgarben und schwere Geschosse der Bordkanonen dicht neben ihnen einschlugen.
Es waren Männer, die genau wie das Sanitätspersonal das Leben des Nächsten über das eigene stellten, und die genau so wie andere zu Hause eine Familie hatten, die um sie bangte und um die sie sich selbst sorgten. Männer, die zwar formell den Dienststellen der NSDAP unterstanden, deren höchste Amtsträger in der braunen Uniform es jedoch vorgezogen hatten, den Angriff in einem sicheren Bunker zu überleben und das Bergungskommando “auf Einsatz” zu schicken.
So eilte auch an diesem 27. Februar 1945 Wiederum das Bergungskommando, das aus fünf Zügen mit insgesamt 130 Mann bestand, den Eingeschlossenen zu Hilfe. Jedem Zug waren ein bis zwei Mann Sanitätspersonal für die erste Hilfe zugeteilt.
Großeinsatz!
Die Stadt brannte an allen Ecken, Geschwader auf Geschwader flog an. Detonationen erschütterten die Luft, Dreckfontänen schossen zum Himmel, und das Feuer fraß sich weiter, von Straße zu Straße.
Die Fahrer der Wagen ließen die Motoren anspringen. Die Männer nahmen ihre Plätze ein, und in sausender Fahrt, soweit das wegen der bereits verschütteten Straßen überhaupt möglich war, ging es an den Brennpunkt der Vernichtung.
Auf den Wagen gab es Tragbahren, um Verwundete und Tote abzutransportieren, Leitern, um fehlende Treppen zu überbrücken, Gummihandschuhe, um verstümmelte Tote anzufassen, Zeltplanen, Verbandzeug, Desinfektionsmittel, Pickel, Schaufeln, Spaten und Schweißbrenner, um Eisenträger und Panzertüren zu zerschneiden.
Die Desinfektionsmittel, insbesondere Chlorkalk, waren beim Bergen der Leichen notwendig, die bereits in Verwesung übergegangen waren. Zu Anfang des Krieges gab es einen Befehl, daß nach jeder Bergung die Kleider und Geräte der Mannschaften gewaschen und ausgetauscht werden mußten. Gegen Ende des Krieges und besonders am 27. Februar war dies nicht mehr möglich. Die Männer halfen sich selbst, indem sie die Kleider einfach in heißes Wasser legten, mit Chlorkalk übergossen und mit einem Wasserschlauch abspritzten. So auf die Leine gehängt, verzog sich etwas jener eigenartige Leichengeruch, der ihnen anhaftete.
Großeinsatz!
Das ehemalige Feinkostgeschäft Philipp Magel an der Ecke Große Bleiche und Zanggasse, Große Bleiche 21, war von einer Sprengbombe getroffen. Der Keller war eingestürzt. Sämtliche Notausgänge und Kellerlöcher waren verschüttet.
Das Bergungskommando sprang über Trümmer, über brennende Balken, durch schwankende und stürzende Mauern und warf einen Laufgraben zu dem Fassadenteil des Hauses aus. Seine erste Aufgabe bestand darin, den Verschütteten, die noch am Leben sein konnten, Luft zuzuführen. Bis in die späte Nacht hinein wurde trotz Fliegergefahr mit Licht, das ein Aggregat spendete, nach den Eingeschlossenen gegraben. Kurz nach Mitternacht hatte man den Zugang erreicht.
14 Tote wurden auf einer Zeltplane herausgeschafft. Soweit vorhanden, wickelte man die Toten in Tücher oder steckte sie in Papiersäcke, die das Gerichtsgefängnis zur Verfügung gestellt hatte. Die Toten wurden gleich an Ort und Stelle identifiziert.
Zu Beginn des Krieges hatte die Polizei diese Aufgabe übernommen. Als gegen Ende des Krieges der Tod mehr Opfer forderte, und die Polizei nicht mehr allein damit fertig wurde, hatte man den Leiter des Bergungskommandos ermächtigt, dies selbst zu tun.
Sofern die Leichen nicht verbrannt waren, war die Identifizierung nicht sehr schwer. Jeder trug seine wichtigsten Papiere, die Lebensmittelkarten, auf denen Name und Adresse standen, stets bei sich. Wenn die Personalien des Toten festgestellt waren, wurde der Name auf einen Zettel geschrieben, der mit einer Kordel um den Hals gebunden oder an einem Kleidungsstück befestigt wurde.
Auf Lastwagen schaffte man die Leichen nach dem Mombacher Waldfriedhof. Meist waren es vier bis sechs, selten und höchstens zehn Tote, die nicht, wie es bei einem friedensmäßigen Begräbnis üblich war, in langsamer Fahrt unter Anteilnahme der Angehörigen und Freunde von dieser Welt Abschied nahmen, sondern die im Fünfzig-Kilometer-Tempo auf einem Lastwagen ohne Sarg bis Mombach durcheinandergeworfen wurden.
Die Angehörigen suchten inzwischen, wenn sie nicht umgekommen waren, irgendwo irgendeine Bleibe und hatten die schwache Hoffnung, ihre Lieben wiederzufinden.
Der Hauptfriedhof an der Unteren Zahlbacher Straße war bereits überbelegt, und die Friedhofsarbeiter konnten wegen der Alarme nur noch in der Dämmerung die Gräber ausheben.
Nicht einmal die Toten fanden dort ihre letzte Ruhe. Die Opfer der Luftangriffe vom 8, und 9. September 1944, die in der Leichenhalle aufgebahrt waren, verbrannten zwölf Tage später durch die Bomben, die am 21. September 1944 die Halle zerstörten.
Im Hauptfriedhof war es noch möglich, mit Ausnahme zweier Belegschaftsgräber, der Druckerei Schneider und der Metzgerei Koch und Schulz, die Toten in Einzelgräbern bzw. Familiengräbern der Erde zu übergeben.
Die große Masse der anfallenden Toten, die zu einem Teil nicht mehr identifiziert werden konnten, und das durch ständige Fliegergefahr erzwungene Tempo ließen der Friedhofsverwaltung keinen anderen Ausweg, als sie in Massengräbern ohne Särge, meist in der Nacht, beizusetzen.
* * *
Geschwader auf Geschwader nahm Kurs auf Stadtmitte und löste seine Bomben aus. Brandbombenschüttkästen fielen zur Erde und gaben knapp über dem Boden ihre Ladung frei. Zu Tausenden und aber Tausenden fielen sie auf die schon brennende Stadt, durchschlugen die Dächer und bohrten sich in die Häuser und Straßen.
Während Captain Smith in einer Steilkurve die Wirkung des Angriffs beobachtete, liefen unten die Menschen wie gehetztes Wild durch die brennenden Straßen. Geblendet vom Feuerschein, mußten Smith und seine Besatzung die Hand vor die Augen halten, wenn sie etwas sehen wollten. Noch immer schlugen neue Bomben ein, die kurz hintereinander, miteinander und nebeneinander detonierten. Eine hohe Feuersäule stieg zum Himmel, oft verhüllt von einer Rauchwolke, die die sterbende Stadt zudeckte.
Neue Einheiten kamen an. Die Bombenschächte öffneten sich, die teuflische Ladung stürzte nach unten, pendelte hin und her, um sich der im voraus berechneten ballistischen Kurve anzupassen. Ballistische und mathematische Berechnungen aber waren nicht mehr notwendig. Wozu noch komplizierte Bombenziel- und -abwurfgeräte, die den Flieger der Mühe enthoben, selbst zu rechnen?
Bomben fallen. Ausgelöst durch einen einfachen Druck auf den Knopf. Nur Captain Smith mußte sein Rechengerät zu Hilfe nehmen, denn er warf als erster. Und Captain Smith, der den Angriffsbefehl am Ziel gegeben hatte, kurvte. Vier Motoren hielten ihn in der Luft.
Der menschliche Geist, der imstande ist, die raffiniertesten Methoden auszuklügeln, um Menschen zu töten, hatte ihm sogar die Arbeit des Kurvens abgenommen. Denn auch das besorgte, ebenso wie das Bombenwerfen, ein einfacher Druck auf den Knopf.
Die deutsche Abwehr schwieg. Wenn sie auch noch einige Granaten gehabt hätte, so wußte sie doch, daß es besser war zu schweigen.
Unten rannten Menschen um ihr Leben. 6 000 Fuß über ihnen kurvte Captain Smith. Pulk auf Pulk lud seine Bombenlast ab. Über die brennenden Dächer fegten die Jabos, ihre MG-Garben peitschten in die Straßen, durchlöcherten Fenster und Menschen und jagten die Verzweifelten, die in den Kellern dem Tod entronnen waren.
Damned! Captain Smith schlug mit dem Kopf an die Kanzel. Das war der Sturm, der durch die glühenden Luftmassen verursacht wurde. Vom Feuer verschont, ragte erhaben über all die Vernichtung noch immer der Dom zum Himmel, Zeuge einer Vergangenheit und einer Kulturgeschichte, die zwar auch Kriege, aber keine raffinierte Vernichtung von Menschen in einem solchen Ausmaß gekannt hat.
Auf dem Rhein brannten wie große Fackeln die Schifte. Dort, wo die Geleise sich vereinigten, schlugen Flammen aus den Zügen. Häuser stürzten zusammen, Menschen unter sich begrabend. Der Tod ging um.
Und immer neue Fortress und Marauders kamen, die ihn an Bord hatten und ihn durch einen einfachen Knopfdruck nach unten schickten.
One, two, three, four, five … Kurs 260 Grad, Abflug 16.55 in 8 000 Fuß Höhe.
* * *
16.20 Uhr. Fliegeralarm!
Das war nun schon den ganzen Tag so.
Werner Hilbert hatte seine Angehörigen in Weisenau besucht und befand sich auf dem Wege zur Stadt, um sich um 17.00 Uhr mit seiner Braut im Café Münstertor zu treffen. Als Alarm gegeben wurde, störte er sich zunächst nicht daran. Er sollte aber nicht weit kommen, denn bereits zwei Minuten später fielen in Weisenau die Bomben.
Da, wo Westendstraße und Heiligkreuzweg zusammenstoßen, hatte man einen Deckungsgraben ausgehoben. Werner, der sich einige hundert Meter weiter nach dem Ort zu befand, zog es vor, in dem Graben Schutz zu suchen, weil ihm die Keller in den kleinen schwachen Häuschen nicht sicher genug waren, und er nicht Gefahr laufen wollte, lebendig begraben zu werden.
Gern gingen die Weisenauer nicht in diesen Deckungsgraben, weil es am 19. Oktober 1944 dort sehr viele Tote gegeben hatte.
An einem Winkel des zickzackförmigen Grabens war ein Volltreffer eingeschlagen und hatte 40 bis 50 Menschen zerrissen. Die Weisenauer sprechen noch heute von dem Schicksal ihres Mitbürgers Peter Mathes und seiner Familie.
Am 19. Oktober 1944 hatte er wie immer in der “Zellulose” gearbeitet. Als er nach dem schweren Fliegerangriff am Abend zurückkehrte, lag sein Haus in der Westendstraße in Trümmern. Seine Frau und sein Töchterchen Annemarie waren vor den fallenden Bomben in den Luftschutzgraben, den jetzt Werner Hilbert aufsuchte, geflüchtet. An ihrem altgewohnten Platz fand er sie, in Stücke zerrissen, beide tot, zusammen mit 40 anderen in diesem Grabenabschnitt.
Peter Mathes, der sich an der Bergung der Leichen beteiligte, fand auch ein vier- bis fünfjähriges Mädchen, das vom Luftdruck an die Decke geschleudert und mit seinem Fuß festgeklemmt war. Er glaubte, das Kind sei tot und wollte es schon zu den übrigen Leichen legen, als er die Wärme seines Händchens spürte. Außer an seinem Fuß war das Mädchen unverletzt.
So war es begreiflich, daß viele der in der Nähe Wohnenden den Graben mieden.
* * *
Karl Friedrich war Soldat und hatte den Angriff auf der anderen Rheinseite miterlebt. Nach Beendigung des Alarms begab er sich sofort nach Weisenau, um nach seinem Haus in der Hohlstraße 2 zu sehen.
Unter der Durchfahrt zwischen seinem Haus und dem Nachbarhaus, Hohlstraße 4, lag der Luftschutzkeller. Eine Sprengbombe schlug an dieser Stelle ein und riß die Seitenwand des Luftschutzkellers nieder. Karl Friedrich, der den Eingang zum Keller noch gangbar fand, stürzte an die Stahltüren und versuchte sie zu öffnen. Sie waren verbogen. Er rüttelte daran und rief verzweifelt den Namen seiner Frau. Niemand gab Antwort.
Karl Friedrich lief weg, um Hilfe zu holen und die Türe aufschweißen zu lassen. Er befand sich kaum auf der Straße, als das Haus zusammenstürzte. Im Nachbarhaus, Hohlstraße 4, war ebenfalls eine Bombe eingeschlagen. Ein Frankfurter Bergungskommando grub von Dienstag bis Sonntag, um die Keller in beiden Häusern freizulegen. 28 Leichen wurden herausgeschafft und konnten alle identifiziert werden. Sie saßen auf ihren Plätzen, als wenn sie noch leben würden. Der Luftdruck der Bomben hatte ihre Lungen zerrissen. Die Verletzungen, die einige von ihnen aufwiesen, dürften erst nach dem Tode durch die einstürzenden Wände hervorgerufen worden sein.
Zehn Sekunden brauchten die Bomben, die Captain Smith ausgelöst hatte, bis sie unten aufschlugen, bange 10 Sekunden, in denen die Menschen auf den Straßen von Mainz den Tod auf sich zukommen sahen und den vergeblichen Versuch unternahmen, vor ihm zu fliehen. Nur zehn Sekunden.
Sie reichten gerade vom Woolworth-Gebäude auf der Großen Bleiche bis vor den Ufakeller. Zehn Sekunden ließen die Bomben Zeit, um sich in Sicherheit zu bringen. Und wer auf der Großen Bleiche am Ufakeller das Ultimatum der feindlichen Flieger nicht erfüllen konnte, lag zerschmettert zwischen Ufa und Woolworth auf dem Holzpflaster jener Straße in Mainz, die den Ruhm in Anspruch nehmen konnte, einmal eine der repräsentabelsten Geschäftsstraßen der Stadt gewesen zu sein. Während ihre Geschäftshäuser zusammenstürzten, wurde diese Straße zur Todesstraße.
Vor dem Ufa-Keller, vor der Gendarmeriekaserne, auf den Bürgersteigen, auf der Fahrbahn, vor, in und unter den Häusern wurden die Menschen mit wissenschaftlicher Präzision zusammengeschlagen, wie es irgendwo in einem Hauptquartier auf die Sekunde genau befohlen worden war.
Erbarmungslos verbrannten die Leichen und die, die nicht das Glück hatten, sofort tot zu sein, wie lebende Fackeln als gequälte Statisten dieses fürchterlichen Schauspiels vom Untergang der Stadt Mainz. Die Angehörigen und Freunde, die sie auf der Straße wiederfanden, kannten sie nicht mehr. Nur ein Kettchen, ein Ring oder eine Uhr konnte zur Identifizierung beitragen.
* * *
Auf der Großen Bleiche gegenüber dem Schloßplatz steht die Peterskirche. Sie war die alte Garnisonskirche von Mainz und hatte bereits eine wechselvolle Geschichte überstanden: Dem Luftangriff am 9. September 1944 fielen beide Türme zum Opfer. Das wertvolle Deckengemälde wurde beschädigt, und auch sonst war dieser wertvolle und schöne Barockbau vom Krieg gezeichnet.
Ihr unmittelbar gegenüber, Große Bleiche 62, befand sich die ehemalige Gendarmeriekaserne, die bis zur Bauhofstraße reichte. Während des Krieges diente sie als Unterkunft der NS-Frauenschaft, die dort eine Nähschule, Säle für Jugendgruppen und einen Kindergarten eingerichtet hatte. Das Gebäude, im Karree angeordnet, war nur ein Stockwerk hoch. In der Mitte befand sich ein kleiner Spielplatz für die Kinder. Der hölzerne Speicher unter dem Dach war das Sorgenkind der Luftschutzwarte, die den von höchsten Dienststellen gegen Ende des Krieges parteiamtlich geprüften Imprägniermitteln, mit denen das alte Holz von Zeit zu Zeit gespritzt wurde, nicht das rechte Vertrauen abgewinnen konnten. Genau so wenig wirkte hier und anderswo bei den bedrohten Hauseigentümern und Mietern jene Feuerpatsche — ein besserer Besenstiel mit einem nach Erdöl riechenden Baumwollappen — , die bestenfalls als Fliegenpatsche hätte dienen können. Nicht viel anders war es mit dem Löschsand, der theoretisch für die Bekämpfung von Phosphor gedacht war und den derweil Mäuse und Katzen gelegentlich aufsuchten. Höheren Orts hatte man beim Erlaß dieser Vorschrift vom grünen Strategentisch aus vergessen, in Rechnung zu stellen, daß amerikanische und englische Flieger nicht probeweise hie und da einmal eine einzelne Brandbombe oder etwas Phosphor fallen ließen, sondern daß diese Errungenschaften der modernen Menschenvernichtung zugleich zu Tausenden und aber Tausenden auf kleinsten Raum herniederprasselten, die auch den tapfersten Luftschutzwart, wenn er nicht sinnlos sein Leben opfern wollte, in den Keller trieb.
Eine Brandbekämpfung bei einem Großangriff mit der Feuerspritze und den zwei Eimern Wasser wäre dasselbe gewesen, wie wenn man mit einer Tasse Wasser einen Hochofen hätte auslöschen wollen. Wenn so der Holzspeicher — von der Gegenseite aus betrachtet — ein besonders günstiges Objekt darstellte, so mußte der alte Keller unter dem Gebäude, auch wenn er nicht besonders tief lag, als bombensicher gelten.
Elfriede Schwertmann hatte am 27. Februar bereits einen halben Tag im Keller verbracht, denn seit dem frühen Morgen war fast ununterbrochen Fliegeralarm.
Als um 15.00 Uhr die Sirenen wieder einmal Entwarnung gaben, verließ sie den Keller. Sie gehörte zu jenen wenigen Familien, die in dem Gebäude wohnten. Zu den Leuten, die sich hier im Luftschutzkeller versammelten, zählten die Hauseinwohner, einige Leute aus der nächsten Nachbarschaft und stets mehrere Straßenpassanten. Es war ein öffentlicher Luftschutzraum, mit einem Fassungsvermögen von ca. 100 Personen. Zu denjenigen, die hier täglich Zuflucht suchten, gehörte auch eine Mutter mit sieben Kindern. Fast jeder hatte seinen Stammplatz.
Als um 16.30 Uhr die Bomben fielen, war Elfriede nicht mehr anwesend. Nur ihre Mutter saß im Keller. Acht schwere Sprengbomben und 49 Brandbomben trafen die Gendarmeriekaserne. Die Sprengbomben fielen durch die Dachhaut und den Speicherboden, durchschlugen den ersten Stock und detonierten auf dem Kellergewölbe. Das ganze Haus knickte nach innen ein, die Kellergewölbe hielten der Last nicht stand und zerbrachen. Alle fünf Notausgänge wurden verschüttet.
Die Menschen, die in dem Keller Schutz gesucht hatten, wurden zerschmettert. Wer nicht von den herabstürzenden Mauermassen getroffen wurde, lag schwer verletzt, eingeklemmt zwischen Balken, Steinen und Mörtel, mit einem Lungenriß auf dem Boden und wartete auf die Erlösung von den Qualen. Unsagbare körperliche Schmerzen und das Wissen, lebendig begraben zu sein, lähmten ihren Geist. Irrsinnig schlugen sie sich Hände und Füße wund und schrien verzweifelt, bis das Blut aus den zerstörten Lungen trat. Eingeschlossen! Der Staub legte sich dick auf das Gesicht und verschloß Mund, Ohren und Augen, die ohnehin nichts mehr sehen konnten. Der Sauerstoffmangel erlöste sie von ihren Qualen.
Um 16.50 Uhr war der Angriff zu Ende.
Um 18.00 Uhr stand Elfriede Schwertmann vor dem Hause und suchte ihre Mutter. Aus der Richtung, wo sich die Kellerlöcher befinden mußten, kam dicker Qualm.
Da unten war nichts mehr zu retten. Auch vor dem Hause lagen Tote, deren verzerrte Gesichter und hervorgequollene Augen noch das starre Entsetzen verrieten, das angesichts des furchtbaren Todes über sie gekommen war. Irgend jemand deckte sie später mit alten Zeitungen zu. Auf dem Wege zum Luftschutzkeller wurden sie von den Bomben überrascht. Sie erlebten das gleiche Schicksal wie die Toten in dem Luftschutzraum, den sie nicht mehr erreichten.
Vielleicht mochten die Sterbenden mit Gott gehadert haben, daß er ihnen nicht noch eine Chance von wenigen Sekunden gab. So starben sie, nicht auf einem weichen Totenbett, sondern auf den harten Pflastersteinen der Petersstraße und der Großen Bleiche.
Angesichts dieses bitteren Todeskampfes, den mit ihnen in dieser Stunde etwa 1200 Menschen in Mainz ausstehen mußten, verdüsterte sich der Himmel, um die Not und das Leid nicht zu sehen.
Rauchwolken lagen über Mainz. Feuerschein ersetzte das Licht der Sonne, die im Westen unterging, da, wo diejenigen jetzt gerade auf die Erde aufsetzten, die eine ganze Stadt sterben ließen.
Über dem Rhein lag beißender Rauch. Schwere Soldatenstiefel dröhnten über die Straßenbrücke. Sofort nach Beendigung des Angriffs waren sie aus den Luftschutzräumen zusammengetrommelt worden, um Hilfe zu bringen, wo Hilfe nötig war. Insbesondere wurden sie zum Freimachen der Keller eingesetzt. Unter polizeilicher Leitung erhielten sie weiter den Befehl, binnen zwölf Stunden aus strategischen Gründen zwei Durchgangsstraßen zur Brücke, die Kaiserstraße und die Große Bleiche, für den Verkehr zu räumen.
Elfriedes Vater grub fieberhaft mit dem Spaten nach seiner Frau. Gegen Morgen gab er, körperlich entkräftet und seelisch zerrüttet, die Arbeit auf. Klopfzeichen wurden nicht gehört.
Vierzehn Tage später fand Elfriede ihre Mutter an dem gleichen Platz, an dem sie immer zu sitzen pflegte, links neben der Türe zur Gasschleuse. Die anderen wurden später geborgen. Auch die Mutter mit den sieben Kindern. Der Vater kam gerade aus der Gefangenschaft zurück, um bei der Ausgrabung seiner Familie am 15. Juni (!) 1945 dabeizusein.
40 Tote fanden auf dem Mombacher Waldfriedhof ihre letzte Ruhestätte. In die Grüfte von St. Peter hatten sich viele gerettet.
Als Frau Berner wieder nach oben kam, war ihr Haus, Große Bleiche Nr. 59, zusammengestürzt und brannte lichterloh. Von ihren Angehörigen fand sie nichts mehr. Waren sie im Hause von Bomben erschlagen worden oder im Keller umgekommen und dann verbrannt? Ein Bergungskommando suchte und fand. . . nichts. Acht bis zehn Personen in Staub und Asche zerfallen.
In das Nachbarhaus, Große Bleiche 61, war ein Volltreffer eingeschlagen, dem Brandbomben folgten, die sich durch alles Brennbare vom Dach bis zum Keller fraßen. Auch hier mußte es acht bis zehn Tote gegeben haben. Man fand nur wenige Knochenreste. Nur an dem noch tropfenden Wasserhahn hing der Rest einer Strickweste. Ihr Träger mußte an dieser Stelle seinen letzten Kampf ausgekämpft haben. Auch dieser Keller war zu einem Krematorium geworden.
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Der Fahrdienstleiter im Mainzer Hauptbahnhof hatte alle Hände voll zu tun und trug eine große Verantwortung. Durch die Fliegergefahr und die Luftalarme in allen Gebieten des Reiches war es schwer, den Fahrplan noch einigermaßen einzuhalten, denn es gab kaum einen Zug, der in dieser Zeit nicht erhebliche Verspätung hatte. Die Gleise waren zum Teil schon zerstört, Züge mußten in letzter Minute umgeleitet werden.
Nicht weniger verantwortungsvoll war die Tätigkeit der Lokomotiv- und Zugführer, die ständig auf eigene Faust auf freier Strecke oder in einem Tunnel den Zug zum Stehen brachten, oder die, um eine schützende Böschung oder den rettenden Tunnel zu erreichen, mit Volldampf fahren mußten, und damit den kaum noch ordnungsgemäß überholten Lokomotiven eine Belastung zumuteten, die weit über die technisch vorgeschriebenen Daten hinausging. Hinzu kam noch, daß die Züge von Wehrmachtsangehörigen, Flüchtlingen und Bombengeschädigten völlig überfüllt waren.
Der unerwartet schnell gekommene Angriff am 27. Februar machte im Mainzer Hauptbahnhof jede für diesen Fall vorgesehene Disposition hinfällig. Es gab Alarm, und Sekunden später fielen die ersten Bomben auf Mainz.
So kam es, daß die gerade im Hauptbahnhof befindlichen Züge keine Ausfahrt mehr erhalten konnten. Die Reisenden flüchteten in den Luftschutzkeller unter dem Bahnsteig 1, die alten Frauen stießen sich auf dem Schotter die Knie wund und mußten oft um der eigenen Sicherheit willen ihr bißchen Gepäck liegenlassen.
Wer keinen Luftschutzraum mehr erreichen konnte, versuchte in der Unterführung der Bahnsteige, möglichst in der Mitte, einen Platz zu bekommen. Die MG-Geschosse der Jabos schlugen auf die Treppen und gaben Querschläger, die Leuchtspurmunition zersplitterte die Fenster der Wagen und sägte sich, zusammen mit den Bombensplittern, in die Leiber der Lokomotiven, aus denen laut aufzischend der Dampf brodelte.
Brandbomben schlugen in die Züge, deren hölzerne Telle sogleich aufloderten und deren Eisengerippe noch lange nach dem Angriff glühten Sprengbomben zerstörten die Weichen. Das Empfangsgebäude des Hauptbahnhofs hatte ebenfalls Spreng- und Brandbomben abbekommen. Das Stellwerk 5 war vernichtet.
Der Bahnhof besaß in seinem nördlichen Teil am Güterbahnhof an der Mombacher Straße einen Spitzbunker, einen schweren Eisenbetonbau, der etwa 1 000 bis 2 000 Menschen aufnehmen konnte. Da er über der Erde lag, suchten die Eisenbahnbeamten ihn nicht gerade mit dem Gefühl der besonderen Sicherheit bei Alarmen und Angriffen auf. Aber er hatte sich bewährt. Alle, die darin Schutz gesucht hatten, konnten ihn nach Beendigung des Angriffes trotz der niedergegangenen Bombenteppiche wieder heil verlassen. Das war übrigens der einzige Hochbunker in Mainz. Für den Südteil des Bahnhofs diente der nahe Tunnel unter der Mathildenterrasse als Unterstand. Hier wurden bei sonstigen Alarmen die Züge hineingezogen. Am 27. Februar war dies nicht mehr möglich. Da viele Menschen keinen Luftschutzraum mehr aufsuchen und zu einem Teil sogar die Züge nicht mehr verlassen konnten, gab es große Verluste.
Das alte Direktionsgebäude auf der Kaiserstraße, das schon bei vorherigen Angriffen beschädigt worden war, erhielt einen Volltreiter. Die Bombe detonierte zum Glück in einem der oberen Stockwerke, so daß der Keller selbst nicht getroffen wurde. Alle, die darin Schutz gesucht hatten, überlebten den Angriff.
Nur ein Franzose, der als Zeichner im bautechnischen Büro beschäftigt war, wurde am Eingang des Kellers von der fallenden Bombe überrascht und von den Splittern getroffen. Er wurde auf dem Mombacher Waldfriedhof beigesetzt.
Das neue Direktionsgebäude, ebenfalls in der Kaiserstraße, wurde lediglich von Brandbomben getroffen. Der Architekt dieses Gebäudes mochte eine gute Hand gehabt haben, als er auf den Dachstuhl verzichtete und statt dessen den modernen Bau mit einer 40 Zentimeter dicken Eisenbetondecke konstruierte. So kam es, daß das neue Direktionsgebäude einigermaßen gut davon kam. Trotz seiner Tarnfarbe war es, von oben gesehen, ein ziemlich freistehendes und verführerisches Objekt. Die Mosquitos benutzten es als Zielscheibe.
In der Schulstraße lag ein weiteres Reichsbahngebäude. Hier waren Sprengbomben niedergegangen, auch hier gab es Tote.
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27. Februar 16.20 Uhr.
Die Sirenen der Universität Frankfurt gaben Fliegeralarm. Die Professoren sprachen ihren Gedanken zu Ende, während die Studenten schon ihre Sachen zusammenpackten, die Hörsäle verließen und in die Luftschutzräume eilten.
Der Drahtfunk meldete die Positionen der feindlichen Flugzeuge: “Schwacher feindlicher Kampfverband im Anflug auf Bacharach. Einzelflugzeuge überfliegen das Rhein-Main-Gebiet.”
Die Studenten benutzten die Wartezeit im Keller, da sie kein Flugzeuggeräusch über Frankfurt vernahmen, um die militärische Lage zu diskutieren. In größeren Gruppen sprach man vom “Kampf bis zum Endsieg” und in kleineren Gruppen, zu denen insbesondere Schwerversehrte und entlassene Soldaten gehörten, von der bevorstehenden Kapitulation. Die Studentinnen beschäftigten sich unterdessen mit der Literatur des vorgoetheschen Jahrhunderts, Dichtungen von Hölderlin, mit der Metaphysik des lyrischen Gedichts oder sprachen von ihrem letzten “Einsatz” in der Fabrik und bei der Straßenbahn.
Um 16.50 Uhr gab es Entwarnung.
Als Luise Matthes den Luftschutzraum verließ, erfuhr sie, daß Mainz den bisher größten Luftangriff über sich hatte ergehen lassen müssen. Sie war in besonderer Sorge. weil ihr Elternhaus in der unmittelbaren Nähe des Hauptbahnhofes lag und deswegen besonders gefährdet war.
Luise Matthes drängte sich in die vollbesetzte Straßenbahn der Linie 19 und fuhr zum Bahnhof. Unterwegs überlegte sie, daß nach einem so schweren Angriff die Züge wohl kaum bis nach Mainz fahren würden.
Außerdem würden sie besonders viel Verspätung haben.
17.10 Uhr.
Luise war an der Mainzer Landstraße ausgestiegen und wollte ein Auto anhalten, um schneller nach Mainz zu kommen. Ein Lastwagen nahm sie mit.
Gegen 18.10 Uhr traf sie in Mainz-Kastel ein. Sie lief, so schnell sie laufen konnte, über die Straßenbrücke durch die Kaiserstraße bis zum Bahnhof, gequält von der Ungewißheit, ob ihre Eltern noch lebten.
In die Freude des Wiedersehens mischte sich das bittere Gefühl, zum zweitenmal schwer bombengeschädigt zu sein. Bereits bei den Luftangriffen am 12. und 13. August 1942 waren sie ausgebombt worden.
Ihre Eltern besaßen in der Nähe des Bahnhofs neben dem Hotel Königshof ein Haus mit einer Konditorei und einem Café. Nach der ersten Zerstörung hatten sie sich in mühevoller Arbeit in dem Hinterhof, da wo früher die Backstube stand, ein Behelfshäuschen neu aufgebaut. Luise lief in das schwerbeschädigte Haus, um Bettzeug, Kleider und Wäsche herauszuschaffen. Als Überbleibsel des Angriffs im Jahre 1942 stand noch eine hohe Brandmauer im Hinterhof zwischen dem Königshof und ihrem ehemaligen Haus. Diese Mauer war schwer beschädigt und drohte einzustürzen.
Einige Leute machten sich daran zu schaffen. Vielleicht wollten sie die Brandmauer einreißen, um so ein drohendes Unglück zu verhüten. Was sie eigentlich dort wollten, konnte nicht mehr festgestellt werden. Tatsache aber ist, daß die Mauer in dem Augenblick, da sich Luise gerade in dem Behelfshäuschen befand, zusammenstürzte. Diejenigen, die rechtzeitig die Steinmassen auf sich zukommen sahen, konnten sich noch in Sicherheit bringen. Luise, die die Gefahr nicht sehen konnte und die Warnrufe zu spät hörte, wurde unter den Trümmern begraben.
Man grub fieberhaft nach ihr. Wenig später holte man sie aus dem Schutt heraus und brachte sie schwerverletzt ins Krankenhaus, wo sie bald darauf starb. Zurück ließ sie verzweifelte Eltern, denen der Krieg nicht nur zum zweiten Male ihre ganze Habe, sondern auch ihr einziges Kind genommen hatte. So wie der Familie Matthes ging es vielen Eltern in Mainz und anderen Städten Deutschlands, die der Krieg in Schutt und Asche legte, unter sich begrabend Häuser und Menschen, zurücklassend Not, Elend, Verzweiflung.
Der Krieg neigte sich seinem Ende zu, zermürbte die Ausgehungerten, Gehetzten, die an der Front Gatten, Väter und Söhne verloren hatten, und trieb sie der Verzweiflung in die Arme. “Herrgott, wann hat dies alles ein Ende?”
* * *
Bei dem Einsturz der Brandmauern hinter dem Königshof kamen noch einige andere Menschen ums Leben. Außer den Toten konnten zehn Verletzte geborgen werden. Es war mitten in der Nacht zum 28. Februar, als vom Königshof jemand zur Hilfsstelle des Roten Kreuzes, die sich im Keller der ehemaligen Wehrmachtsverpflegungsstelle, dem jetzigen Bahnhofshotel befand, eilte.
Eine der Helferinnen begab sich sofort zu den Verletzten, die in den Hausflur des Königshofes gebracht worden waren. Die meisten hatten Schädel- und Knochenbrüche oder schwere Quetschungen davongetragen. Als die Helferin in den Flur trat, waren bereits einige gestorben. Unter den Toten befand sich ein Oberstabsfeldwebel der Wehrmacht. Derjenige, der die Rote-Kreuz-Schwester geholt hatte, konnte das alles nicht fassen:
“Eben hat er noch mit mir gesprochen.”
Die noch Lebenden wurden in den Keller des Roten Kreuzes gebracht. Die Schwestern, die wegen der andauernden Alarme und Angriffe in den letzten Wochen kaum aus den Kleidern gekommen und zum Teil selbst krank waren, leisteten ihnen die erste Hilfe.
Über ihnen brannte das Haus. Mit den Beinen standen sie im Wasser. Sie unterbrachen ihre Arbeit nicht.
Über 250 Verletzten wurde an dieser Stelle des Roten Kreuzes am Tag und in der Nacht des 27. Februar geholfen.
Nach Aussage der Schwestern waren Medikamente und Verbandmaterial ausreichend vorhanden. Die meisten Verletzten, die man einlieferte, hatten Rauchvergiftung. Sehr viele hatten vom Rauch schwer entzündete Augen, andere Knochenbrüche, Prellungen und sonstige Verletzungen.
Die Schwerverletzten wurden, soweit Transportgelegenheit vorhanden war, in das Krankenhaus gebracht. Teilweise mußten sie aber lange warten, bis es möglich war, einen Wagen zu beschaffen.
In dieser Stunde der Nacht, da das furchtbare Erlebnis die Nerven bis zum Zerreißen belastet hatte und jetzt die Schmerzen dazu kamen, wälzten sich die Verwundeten in verschmutzten und blutigen Kleidern auf der Bahre.
Die feuchte Luft und der muffige Kellergeruch, der sich mit Blut, Brand und Medikamenten mischte, legten sich auf zerrissene Lungen und machten das Atmen schwer.
“Hilfe, Schwester!” — “Wasser, Schwester!” —
“Mein — mein — Kind — wo …?” —
“Ich sterbe, Hilfe!” — “… sondern erlöse uns von dem Übel, Amen!” —
* * *
Verstaubt, verschmutzt, mit zerrissenen Kleidern, kamen die Menschen langsam wieder auf die Straße, als kein Motorenlärm mehr zu hören war. Was sie sahen, übertraf alles bisher in unzähligen Bombennächten Erlebte. Aber was sie seit dem 12. und 13. August 1942, dem ersten größeren Fliegerangriff auf Mainz, dem damals schon das ganze Altstadtviertel zwischen Schusterstraße und Rhein zum Opfer gefallen war, befürchteten, war nunmehr Gewißheit geworden.
Bei allen Luftangriffen auf Mainz (einschließlich der vier Vororte Gonsenheim, Mombach, Bretzenheim und Weisenau) wurden nach den Angaben des Hochbauamtes 53,82 Prozent aller Wohnungen zerstört, davon allein in der Innenstadt 67,68 Prozent. An Gebäuden wurden in ganz Mainz 43,35 Prozent, in Mainz Innenstadt 64 Prozent vernichtet. Obdachlos wurden bei allen Luftangriffen auf Mainz ca. 69 414 Personen.
Nach in etwa übereinstimmenden Angaben der Friedhofsverwaltung, des Statistischen Amtes der Stadtverwaltung und der Bergungskommandos wurden ca. 2400 Menschen, einschließlich Wehrmachtsangehöriger, getötet.
* * *
Die Lotharstraße brannte. In die Keller der Metzgerei Koch und Schulz hatten sich außer den Hausbewohnern noch einige Vorübergehende vor den fallenden Bomben geflüchtet. Gegenüber der Metzgerei Koch und Schulz befand sich in der Lotharstraße 11 die Metzgerei Beetz.
Zwischen den Trümmern kamen die Gehetzten hervor, um untätig zusehen zu müssen, wie ihre Habe, mühsam in Generationen zusammengespart und zusammengetragen, in knapp einer halben Stunde vernichtet wurde. Es war ein bitteres Gefühl, plötzlich bettelarm geworden zu sein. Die erste Sorge galt dem eigenen Leben und dem Leben der Angehörigen, das von den einstürzenden Mauern, den Flammen und der teuflischen Hitze bedroht war.
Die Lotharstraße drohte eine Sackgasse des Todes zu werden. Der Durchgang war verschüttet, der Weg in die Freiheit führte durch die Flammen, den zu gehen die meisten sich fürchteten. Sollten sie die Flucht durch das Feuer wagen? Sollten sie in den im Augenblick noch sicheren Keller zurück? Oder sollten sie wenigstens den Versuch machen, zu retten, was noch zu retten war?
“In den Keller zurück!” sagte Metzgermeister Beetz, “er ist sicher, er hat bei dem Bombardement standgehalten und wird uns auch noch so lange Schutz gewähren, bis das Feuer abgeebbt ist und wir sicher über die Trümmer aus der Straße heraus können.”
Im Hinterhaus der Metzgerei Koch und Schulz stand die Rolladenfabrik Stoll. Sie war in einem großen fünfstöckigen Hause untergebracht. Ungefähr 3 000 Rolläden waren dort aufgestapelt, zum Tell neue, zum Teil solche, die Bombengeschädigte zum Reparieren abgegeben hatten. Das Holz bot den dort niedergegangenen Phosphorbomben eine willkommene Nahrung. Das Hinterhaus brannte lichterloh.
Übrigens waren nicht viele Phosphorbomben in Mainz gefallen. Zwei Drittel der abgeworfenen Bombenlast (etwa 3 000 Tonnen, von schätzungsweise 1 000 Flugzeugen abgeworfen) waren Sprengbomben, ein Drittel Stabbrandbomben, die mit den gefährlichen Knallsalzen gefüllt waren, so daß sie in ihrer Wirkung den Phosphorbomben nahe kamen.
Die Metzgerei Koch und Schulz hatte nichts abbekommen, weder Spreng- noch Brandbomben. Während Metzgermeister Beetz und einige seiner Mitbewohner wieder in den Keller zurückkehrten, beteiligten sich die Bewohner des Hauses Koch und Schulz an den Löscharbeiten der Firma Stoll. Galt es doch, den eigenen Besitz damit zu retten.
Als die Hitze immer größer wurde, zogen auch sie sich in ihren Keller zurück. Es war der einzige kühle Zufluchtsort, bei dessen Betreten man erleichtert aufatmete.
“Wir können es gut und gerne einige Tage hier unten aushalten”, meinten sie. “Lebensmittel sind genug vorhanden.” Sie hatten aber vergessen, daß zum Leben nicht nur das Essen, sondern vor allem das Atmen notwendig war. Das Feuer draußen verbrannte den Sauerstoff. Als sich der Luftmangel in dem Keller bemerkbar machte, drängte Herr Reith, der Bruder eines Hausbewohners, der zufällig hier vom Angriff überrascht wurde, den Keller zu verlassen. Überall stieß er auf Ablehnung. Man wollte nicht mehr, man hatte genug und wiegte sich in Sicherheit.
Herr Reith ging nach oben, spürte die alles verzehrende, immer stärker werdende und näher kommende Glut, die bereits durch die Gewölbe sich nach unten auszubreiten drohte. Noch einmal kehrte er um.
“Das ist ja Wahnsinn, stumpfsinnig im Keller zu hocken, wenn das Haus über euch brennt. Hinaus! Ihr wollt nicht? Seid ihr verrückt geworden? Seid ihr von allen guten Geistern verlassen? Hinaus, rettet euch!”
Die Männer, Frauen und Kinder zögerten, Herr Reith versuchte, den einen mit sich zu ziehen, den anderen vor sich her zu stoßen und brüllte die apathische Masse an. Er schrie, bis er heiser war. Nur wenige beugten sich seiner Persönlichkeit und folgten ihm.
Um 16.50 Uhr war der Angriff zu Ende.
Um 17.50 Uhr verließ Herr Reith mit seiner Tochter und etwa acht weiteren Personen, durch nasse Tücher geschützt, die Luftschutzbrillen vor den Augen, den Keller.
Der Ausbruch war nicht mehr leicht. Wenn sie sich sofort dazu entschlossen hätten, wäre es einfacher gewesen durchzukommen. Kostbare Minuten, die ausgereicht hätten, allen das Leben zu retten, waren auf der Straße und im Keller damit verbracht worden, die Zweckmäßigkeit oder Unzweckmäßigkeit einer Flucht zu diskutieren.
Als die Gruppe um Herrn Reith an den Stadtrand kam, und die Gefahrenzone hinter ihr lag, hatte man Zeit, an sich selbst zu denken. Der Phosphor hatte sich durch das Schuhwerk gefressen und die Füße verbrannt. Wohl keine zehn Minuten mochten vergangen sein, daß Herr Reith den Keller verlassen hatte, als die Rolladenfabrik Stoll zusammenstürzte und das Hinterhaus mit seiner gesamten Wucht auf das Vorderhaus fiel. Was jetzt noch erhalten blieb, ging in Flammen auf. Der Keller hatte zwar standgehalten, aber durch die Gewölbe drangen Hitze und Rauch. Der Luftschutzraum wurde zu einem Backofen. Der Sauerstoff begann noch knapper zu werden. Langsam schliefen die Menschen ein.
Nachts um 24.00 Uhr stand Herr Koch, der Schwager des Metzgermeisters Schulz, vor dem abgebrannten Gebäude. Er ließ die Notausgänge von den Bergungskommandos öffnen. Der Schein der Taschenlampe leuchtete auf Leichen. Sie saßen noch genau so auf ihren Plätzen, wie Herr Reith sie verlassen hatte. Herr Koch wollte durch die Kelleröffnung zu den Toten. Das Bergungskommando versperrte ihm den Weg. In dem Keller lagerte das gefährliche Kohlenoxid, das sein eigenes Leben gefährdet hätte.
Da unten war ohnehin niemand mehr zu retten. So entschloß sich Herr Koch, die Bergung der Leichen auf den anderen Tag zu verschieben. Als er jedoch wiederum an der gleichen Stelle stand, brannte auch der Keller. Qualm und Flammen schlugen aus ihm heraus.
Drei Monate hindurch schwelte es unter den Trümmern. Als der Keller ausgeglüht war, barg ein polnisches Kommando eine Handvoll Skelettteile. Herr Koch selbst holte 32 verbrannte Schädel heraus, ohne die Kinderschädel, die sofort zerfielen, als er sie in die Hände nahm. In einem einzigen Sarg wurden die Reste von 32 Toten auf dem Hauptfriedhof an der Unteren Zahlbacher Straße beigesetzt. Auch Metzgermeister Beetz, der sich im Keller sicherer gefühlt hatte als auf der Straße, befand sich unter den Toten.
Einige Häuser weiter, an der Ecke zur Großen Bleiche, Lotharstraße 12, gab es einen öffentlichen Luftschutzkeller. Auch diejenigen, die hier Schutz suchten, hatten es vorgezogen, zu bleiben und waren erstickt. Unter ihnen befanden sich der Mainzer Arzt Dr. von Himmen und seine Frau. Etwa 30 Tote wurden identifiziert. Der Keller blieb unzerstört. In dem öffentlichen Schutzraum, Lotharstraße 28, wurden neun Tote amtlich festgestellt.
* * *
Am Frauenlobplatz stand die Frauenlobapotheke, eine der beiden Stadtapotheken der Neustadt. Die Einrichtung der Apotheke besaß einen Hauch Altertümlichkeit und strömte, zusammen mit dem Geruch der Medikamente, so etwas Feierliches aus, daß die Männer, was sie in anderen Geschäften nicht zu tun pflegten, beim Betreten der Apotheke sogar die Mütze oder den Hut abnahmen.
Es war der geheimnisvolle Odem, der über den alten Regalen, Retorten und dickbauchigen Ballonflaschen stand, und der den Gedanken an eine Alchimistenküche aufkommen ließ, von der die Leute, die mit dem Rezept des Arztes in der Hand die steile schmale Treppe heraufkamen, Heilung und Hilfe erwarteten.
In dieses Milieu fügte sich, wie von Gott dazu berufen, der schon etwas ältere Apotheker ein, der hier mit seiner Schwester wohnte, und der Jahraus, jahrein Hustentropfen und Tee mischte, ein Pülverchen für alle Krankheitsfälle zur Hand hatte und gewissenhaft die Rezepte nach den Vorschriften des Arztes zusammenstellte.
Es war auch für den Apotheker am Frauenlobplatz nicht ganz leicht, bei den spärlichen Zuteilungen gegen Ende des Krieges alle Wünsche zu befriedigen, aber immer hatte er zumindest ein noch gut helfendes Mittel, das er sich, oft unter persönlichen Opfern, besorgt hatte. Es war auch ein. persönliches Opfer, im Nachtdienst die immer größer werdende Zahl der Patienten zu versorgen, denn der fehlende Schlaf und die nächtlichen Sitzungen in den naßkalten Kellern verschlechterten den Gesundheitszustand der Leute, die die Hilfe des Arztes und des Apothekers in Anspruch nehmen mußten.
Auch der Apotheker mußte in diesen Tagen oft seinen Laden schließen, seine persönlichen Sachen, die, wie bei allen anderen, griffbereit hinter der Wohnungstüre standen, in die Hand nehmen, wenn das Heulen der Sirenen über den Straßen von Mainz die müden Menschen in den Keller trieb.
In diesem Hause wohnte auch Anneliese Burckardt. Zusammen mit den Bewohnern des Nachbarhauses hatte sie Hals über Kopf den Schutzraum aufgesucht, als um 16.20 Uhr Luftalarm gegeben wurde. Die meisten hatten ihren Klappstuhl mitgebracht, damit sie nicht zu stehen brauchten. Nicht alle hatten einen solchen Klappstuhl. Diejenigen, die ihn besaßen, behüteten ihn als kostbares Gut. Nur wer gute Beziehungen hatte, konnte sich in der damaligen Zeit, in der das Geld keinen Wert mehr besaß, einen besorgen oder besser gesagt eintauschen.
In einem Teil des Kellers lagen Verbandzeug, Chemikalien und Arzneien, die der Apotheker hier untergebracht hatte, um bei einer Zerstörung des Hauses noch etwas davon retten zu können.
In dem überfüllten Keller standen überall Koffer und prall gefüllte Kartons, die im Rhythmus der Alarme täglich mehrmals die Treppen hinauf- und heruntergeschleift wurden. In der Ecke befand sich der Radioapparat, der erst in den letzten eineinhalb Jahren, als sich die Angriffe häuften, heruntergeholt wurde, weil man während der vielen Stunden, die man im Keller verbringen mußte, nicht auf die Meldungen des Drahtfunks verzichten wollte, auch wenn dieser immer unzuverlässiger wurde.
Der Apotheker hatte noch einmal neue elektrische Leitungen ziehen lassen, damit es wenigstens hell genug war. Für den Fall, daß das elektrische Licht ausfiel — und das kam sehr häufig vor — lagen, zum eisernen Bestand jedes Luftschutzkellers gehörend, einige Stearinkerzen bereit, mit denen man aber sparsam umgehen mußte, weil sie einmal kaum noch zu haben waren und zum anderen bei geschlossenen Luken den Sauerstoff mit verbrauchen halfen.
Die älteren Leute drängten sich um ein kleines elektrisches Heizöfchen, das natürlich nicht ausreichte, einen Ofen zu ersetzen. Viele alte Frauen hatten Strohpantoffeln über ihre Lederschuhe gezogen, um sich besser gegen Kälte und Feuchtigkeit von unten zu schützen.
Schon die Betrachtung der äußeren Ausstattung der Menschen in dem Keller ließ Rückschlüsse auf ihren. Charakter, ihre Eigenarten und ihre Einstellung zum Leben zu. Die einen waren sehr schlecht angezogen. Unter ihnen befanden sich viele, die durchaus noch bessere Kleider im Schrank oder in ihrem Gepäck hatten. Sie gehörten zu jenen, die gute Kleider jahrelang schonten und sie nur an Sonn- und Feiertagen, wie sie es von ihren Vorfahren her kannten, zu tragen gewohnt waren. Bescheidene und einfache Leute, die selbst der lange Krieg, die bereits eingetretene Entwertung des Geldes und die Vernichtung aller Ersparnisse nicht davon abbrachten, ihren Grundsätzen getreu, selbst in der Nähe des Todes bescheiden zu bleiben. Die anderen saßen in kostbaren Pelzmänteln, mit den besten Schuhen an den Füßen und wertvollem altem Familienschmuck in dem Keller. Das waren diejenigen, die ihre besten Sachen bei sich haben wollten, denn das, was man am Körper trug, war, wenn überhaupt, sicherer mitzunehmen als im Koffer oder Persilkarton.
Das Luftschutzgepäck bestand aus 1 bis 2 Koffern, die meist einmal bessere Tage gesehen hatten. Sie gehörten zu den unerschwinglichen Gegenständen, die es gegen Ende des Krieges nicht mehr gab. Wer einen Rucksack sein eigen nannte, schätzte sich glücklich, denn diesen konnte man im Ernstfall leichter mitnehmen als die Koffer, die die Hände behinderten und oft zurückgelassen werden mußten.
Die Frauen hatten das Nötigste an Wäsche, Strümpfen, Schuhen und etwas zum Essen eingepackt, für kleine Kinder Wollsachen und Zwieback, für die Säuglinge das Milchfläschchen und eine Büchse Trockenmilch. Die Studenten trugen ihren Faust bei sich, Geistliche ihr Brevier oder die Bibel, jeder das, was er materiell und ideell für das Wertvollste und Unentbehrlichste hielt.
Besonders behutsam wurden die Bilder der nächsten Angehörigen verwahrt. Zu den wichtigsten Dingen, die mitgeführt wurden, zählten u. a. die Lebensmittelkarten. Sie waren in der Stadt wichtiger als ein amtlicher Personalausweis, denn nur sie berechtigten ihre Besitzer zu leben. Viele, die daran dachten, daß sie bei Gefahr ihr Gepäck nicht mehr würden mitnehmen können, hatten sich diese Papiere und Fotografien, zusammen mit dem Sparkassenbuch und etwas Geld, in einen Beutel genäht und um den Hals gehängt.
In Kissen und Decken eingehüllt, saß das Kleinkind auf dem Schoß der Mutter. Immer wieder versuchte sie die eigene Angst nicht zu zeigen und ihre Kinder zu beruhigen, zu unterhalten und einzuschläfern.
Viele der Frauen sprachen mit der Nachbarin über neu erprobte Kochrezepte, das heißt über die Möglichkeit, mit Ersatznahrungsmitteln die Mahlzeiten zu strecken. Die Männer gingen manchmal aus dem schlecht gelüfteten Raum nach oben, um die Lage zu erkunden, oder um einmal frische Luft zu schöpfen und eine der wenigen Zigaretten zu rauchen, die es auf Zuteilung gab.
16.20 Uhr. Niemand wagte, eine Zigarette zu rauchen. Niemand hatte Zeit dafür, denn die Sirenen waren kaum verhallt, als schon die ersten Bomben fielen.
Unter den Leuten, die in den Keller stürzten, war auch Anneliese Burckardt. Es blieb ihr keine Zeit mehr, ihr Klappstühlchen aufzumachen. Als die Bomben einschlugen, warf sie sich auf den Boden und hatte, wie alle anderen in dieser Stunde, Angst um ihr Leben und das ihres Verlobten.
Gegen 18.30 Uhr fiel eine Sprengbombe. Mauerwerk stürzte herab, der Boden wellte sich. Anneliese war sich im klaren darüber, daß ein weiteres Verbleiben unter dem zusammengestürzten Haus den sicheren Tod bedeutete.
Über das bittere Ende des Krieges hatte sie gestern abend im Cate Münstertor mit ihrem Verlobten
gesprochen. Sie hatte ihm beim Abschied zugerufen: “Ich will dich nicht verlieren!” Und sie hatte nicht daran gedacht, daß schon am folgenden Nachmittag der Tod an ihr nicht vorübergehen würde.
Noch war der Ausgang frei. Draußen aber fielen Bombenteppiche. Mauern stürzten auf die Gewölbe wie der schwere Trommelschlag des Tambours bei der Hinrichtung. Eine Stadt wurde hingerichtet. Das Urteil war in Teheran und in Yalta gesprochen. Flugzeuge waren zu Tausenden bestimmt, die Exekution durchzuführen.
Statt mit verbundenen Augen und gefesselt an der Mauer das Kommando des Offiziers “Gebt Feuer” zu hören, wurden die Panzertüren zum Luftschutzraum geschlossen und über ihnen gab ein alliierter Fliegeroffizier den Befehl zum Bombenabwurf.
Was jedem, der zur Exekution schreitet, gewährt wird, der Beistand des Geistlichen und der letzte Brief an die Angehörigen, war ihnen versagt. Sie wußten noch nicht einmal, tausendfach zum Richtplatz in den Keller geführt, ob sie dieses Mal an der Reihe sein würden.
Für die Menschen im Keller unter der Stadtapotheke des Frauenlobplatzes war es soweit. Die Bomben trommelten, die auf die Gewölbe stürzenden Trümmer trommelten, trommelten zum letzten und schwersten Gang. Noch war der Ausgang frei, der Weg durch das Feuer, der Weg durch stürzende Häuser und herabfallende Bomben.
Anneliese Burckardt beschwor die Frauen mit den Kindern, ihn zu gehen. Sie geleitete sie bis zur Kellertüre, atmete schon die von Pulver und Staub verunreinigte Luft und wollte selbst in einer kurzen Feuerpause den Sprung auf die gegenüberliegende Seite wagen.
Da, schwere Brocken kamen zum Eingang herein, Steine und Mörtel schossen nach, prallten an den Wänden ab und rissen Anneliese in die Tiefe. Während die beiden Frauen mit ihren Kindern als die einzigen Überlebenden, gehetzt von den aufsprühenden Brandbomben, sich in Sicherheit bringen konnten, lag Anneliese Burckardt mit schweren inneren Verletzungen, von Steinmassen eingeschlossen, im Sterben.
Die anderen konnten ihr nicht einmal mehr helfen. Jeder hatte mit sich selbst zu tun und kämpfte mit verbissener Kraft um sein Leben. Mit den Händen krallten sie sich in den Staub, um sich zum Ausgang durchzuwühlen. Die Luft reichte nicht mehr.
Das Feuer erhitzte die Decke.
Anneliese dachte an ihren Verlobten: “Werner, komm zu mir, hilf mir — ich sterbe …”
Die Temperatur stieg. Das Blut begann zu kochen. Die Chemikalien und das Verbandzeug brannten und nahmen den letzten Rest des Sauerstoffs, der zum Leben notwendig war. Der Tod brachte, nachdem er seine Opfer genug gequält hatte, schließlich die Erlösung. Ihm folgte das Feuer und verbrannte die Leichen. Man schätzt, daß etwa 28 Menschen sich in dem Keller befunden haben. Nur wenige Skeletteile konnten geborgen werden. Niemand wurde identifiziert, viele liegen noch unter den Trümmern.
Werner Hilbert verließ, nachdem die amerikanischen Flugzeuge wieder abgeflogen waren, den Graben und lief auf dem schnellsten Wege nach Mainz. Von der Gaugasse bis zum Frauenlobplatz brauchte er über zwei Stunden. Ein paar Tage später war er zugegen, wie man Skeletteile ausgrub. War auch Anneliese dabei? Niemand wußte es.
“Ich will dich nicht verlieren …” Er dachte an das Gespräch im Café Münstertor. Seine Zukunft war von den Bomben zerschlagen.
Wozu diese Menschenvernichtung? Wozu das “Aushalten bis zum Letzten”? Leere Phrasen! “Verflucht sei der Krieg, der erbarmungslos Städte in Trümmer legt und alles Leben auslöscht!
Wofür noch kämpfen? — Wofür — wofür?…”
Am 27. Februar 1946, als Werner aus der Gefangenschaft zurückgekehrt war, legte er auf den Trümmern der Frauenlobapotheke einen Kranz nieder. Er war für Anneliese und die Toten, die zusammen mit ihr unter der Stadtapotheke ihr Grab gefunden hatten.
* * *
Welschnonnengasse 9.
Hier lebte Joseph, ein Soldat der Heilsarmee. Abends ging er durch die alten Mainzer Gaststuben, sang die bekannten Lieder der Heilsarmee und verkaufte den “Kriegsruf” , ein Büchlein, in dem die Aufgaben und Ziele dieser wohltätigen Organisation niedergelegt waren.
In der Welschnonnengasse 9 war der Versammlungsraum der Heilsarmee und hier wohnte auch der Offizier, Herr Wagner mit seiner Familie, zusammen mit dem Soldaten Joseph, zu dessen Dienstobliegenheiten es gehörte, die Aufsicht über die hier nächtigenden Tippelbrüder und Obdachlosen zu führen Für nur ein paar Pfennige konnten sie die Nacht unterkommen. Wer diese wenigen Pfennige für ein Lager und die Morgensuppe mit einem Kanten Brot nicht aufbringen konnte, mußte unter Josephs Leitung Holz hacken.
Der Offizier Wagner war ein Tscheche und stammte aus Prag. Seine Frau hatte er sich aus dem bergischen Land mitgebracht. Sie hatten zwei erwachsene Söhne und noch ein vierjähriges Bübchen, das sie wegen der Luftgefahr zu Verwandten am Niederrhein gegeben hatten. Der eine Sohn war gefallen, der andere bei den Soldaten.
Als am 27. Februar die Bomben fielen, ging auch der Offizier Wagner mit seiner Frau, mit Joseph und einigen Männern, die gerade Holz gehackt hatten, in den Keller. Ein Volltreffer machte auch ihrem Leben ein Ende.
Das Feuer, das anschließend in den Keller drang, verbrannte ihre Leichen.
* * *
Für Schwester Ilse, die im Soldatenheim Dienst tat, war die Ablösung gekommen. Es war spät am Nachmittag. Da gerade einmal “nur” Voralarm gegeben war, wollte sie die Zeit benutzen, um ihre Einkäufe zu tätigen und ihrer alten Mutter, die auf dem Markt wohnte, diesen gefährlichen Weg abzunehmen.
Sie ging durch die Steingasse, als über die Dächer der Stadt die Sirenen heulten und die Leute von den Straßen und aus ihren Wohnungen in die Keller jagten. Mit dem Ausklingen der Sirenen fielen auch sofort die Bomben. Da sie früher einmal in der Rettungsstelle 1 (Handelsschule, Steingasse) stationiert war und großes Zutrauen in die dortigen Luftschutzräume hatte, ging sie durch das Tor der Handelsschule in den Mittelhof und von da in den öffentlichen Luftschutzraum. Keine Sekunde zu früh.
Die schweren Panzertüren wurden geschlossen. Bomben fielen. Das Licht erlosch. Die Decke bebte, die Mauern wankten. Das Haus mußte mehrmals getroffen sein. Der Luftdruck hatte die Luken an den Decken weggerissen. Die Menschen lagen auf dem Boden und schrien. Einige beteten. Zwischen den Sprengbomben das widerlich helle Zischen der Brandbomben. Durch die Entlüftungsluken strömte ungehindert der Rauch.
Noch während die Bomben fielen, flüchteten die Leute aus dem Keller, weil sie Angst hatten, hier ersticken zu müssen. Sie flohen über den Gang in die Räume der Rettungsstelle 1, die hier schon im Jahre 1939 eingerichtet worden war.
Die Stadt Mainz besaß sechs solcher Rettungsstellen: 1 in der Steingasse, 2 in der Eisgrube, 3 auf der Mathildenterrasse, 4 im Sautanz (alle am 27. Februar zerstört), 5 in der Goetheschule (bereits am 21. September 1944 zerstört, wobei das Sanitätspersonal Verluste hatte), 6 in Kastel. Diese hatte am wenigsten abbekommen. Nur die Unterkünfte für die Schwestern brannten dort aus, die Rettungsstelle selbst blieb erhalten.
Jede Rettungsstelle wurde von einem Arzt geleitet, dem in der Regel sechs bis acht Schwestern und ebensoviele Sanitäter zur Seite standen. Die Rettungsstelle 1 in der Steingasse war sehr gut eingerichtet. Der dazugehörige Operationssaal, in dem allerdings niemals operiert wurde, war ausreichend mit Verbandzeug und Medikamenten ausgestattet, auch noch am 27. Februar. Weiter gehörten dazu ein Schlafsaal für Frauen, ein Schlafsaal für Männer und der Entgiftungsraum. Am Ende des breiten Ganges war in einem kleineren Raum die Heizungsanlage untergebracht. Von diesem Gang aus war auch ein weiterer Luftschutzkeller zu erreichen, den viele deswegen bevorzugten, weil er besonders tief lag und besonders dicke Gewölbe besaß. Andere jedoch scheuten ihn, weil er keine direkten Zugänge hatte. Man konnte auch nicht über eine Treppe in ihn gelangen, sondern mußte über eine in die Mauer eingelassene eiserne Leiter durch eine Falltüre hinuntersteigen. Abgeschlossen von der Außenwelt und tiefer liegend als die anderen unterirdischen Räume ähnelte er einer Grube. Er war durch Stahltüren von dem Keller in der Welschnonnengasse 9 getrennt.
Als Rauch und Hitze durch die Decke kamen, flüchteten die Leute aus dem öffentlichen Luftschutzraum. Sie stolperten und fielen übereinander, da es dunkel war und nur ganz wenige eine Taschenlampe bei sich trugen. Kerzen durften wegen des knappen Sauerstoffes nicht angezündet werden.
Wahllos, ohne Überlegung, verteilten sich die Flüchtenden auf die gegenüberliegenden Räume der Rettungsstelle. Viele legten sich auf die Betten. Andere zogen sich in die Heizungsanlage zurück, weil diese am weitesten entfernt und deshalb dort der Rauch vorerst am wenigsten zu spüren war. Andere rannten verzweifelt in jene “Grube”. Unter ihnen befand sich ein Soldat namens Schramm, der gerade auf Urlaub gekommen war. Seine Eltern hatten irgendwo in einem anderen Keller, wahrscheinlich in der Welschnonnengasse, wo sie wohnten, Zuflucht gesucht.
In dem Operationssaal waren auf engstem Raum etwa siebzig Leute zusammengepfercht. Darunter auch Schwester Ilse. Sie hatte Glück, denn sie fand einen Sitzplatz, einen Eimer mit Chlorkalk. In ihrer Nähe tropfte das Waschbecken. Schwester Gretel, die hier Dienst tat, ließ das Becken vollaufen mit dem Wasser, das noch in dem Reservoir zurückgeblieben war. Darin feuchteten sie Tücher an und reichten sie den Leuten. Von Zeit zu Zeit wurden sie zurückgegeben und wieder frisch naßgemacht. Das half etwas gegen den beißenden Rauch, der jetzt auch hier eindrang.
Eingeschlossen, eingeschlossen in einer Rettungsstelle, dem Rauch, dem Feuer, vielleicht sogar dem Tod ausgeliefert. Man besaß Medikamente und konnte sie nicht mehr anwenden. Man hatte kein Licht, um sie zu suchen. Schwester Gretel bahnte sich einen Weg, reichte dem einen ein paar Baldriantropfen, dem anderen ein Glas Wasser. Das war so ungefähr alles, was man tun konnte.
Der Luftmangel wurde immer größer. In dem Operationssaal lagerte eine Sauerstoffflasche mit der dazu notwendigen Apparatur, um mehrere gleichzeitig mit Luft zu versorgen. Aber sie konnte nicht eingesetzt werden. Die Bedienung war schwierig, ohne Licht unmöglich. Die abzugebende Sauerstoffmenge hätte genau überwacht werden müssen. Zuviel Sauerstoff in die Lungen gepumpt, würde den sofortigen Tod zur Folge gehabt haben. So stand die Sauerstoffflasche mitten unter den Menschen, die keinen Sauerstoff mehr zum Atmen hatten.
Neben Schwester Ilse saß eine Frau, die gerade vom Milchholen gekommen war. Sie reichte von Zeit zu Zeit ihren Nachbarn die Flasche und ließ sie einen Schluck daraus tun.
So vergingen die Stunden. Noch einmal öffnete der Luftschutzwart die Panzertüre, um zu sehen, ob man nicht den Weg durch den öffentlichen Luftschutzraum wieder zurückgehen und von da ins Freie gelangen könnte. Es war unmöglich. Der Rauch verdichtete sich, die Temperatur stieg. Die Treppe aus dem öffentlichen Schutzraum war außerdem von herabgestürztem Mauerwerk halb verschüttet.
“Öffnet rasch, ich ersticke!” Der Luftschutzwart schlug mit beiden Fäusten an die Türe zur Rettungsstelle. Man ließ ihn wieder herein.
Eingeschlossen, doppelt eingeschlossen durch die Steinmassen, die den Eingang und die Mauerdurchbrüche blockierten, durch Feuer und Rauch, die die Absicht auszubrechen von vornherein völlig aussichtslos erscheinen ließen. Die Glut und das Bewußtsein, lebendig begraben zu sein, trieb die Todgeweihten dem Wahnsinn in die Arme. Die brennenden Trümmer dämpften ihre grellen, unartikulierten Rufe und das wilde Rauschen der Flammen übertönte sie.
“Wieviel Uhr?” fragte Schwester Ilse die neben ihr stehende Kollegin, die zum hundertsten Male mit immer gleichbleibender Geduld in dem Waschbecken die Tücher näßte, die zum hundertsten Male Baldriantropfen verteilte.
“22.00 Uhr.”
Fünfeinhalb Stunden nach dem Angriff.
“Glaubst du, daß wir wieder herauskommen? — Ich habe keine Hoffnung mehr.” -
Langsam begannen die Menschen einzuschlafen. Auch Schwester Ilse verließ das Bewußtsein. Schwester Gretel reichte ihr die üblichen Baldriantropfen und legte ihr ein nasses Tuch auf die Stirne. So kam sie wieder zu sich.
“Schwester, hilf mir”, rief irgend jemand. Doch diesmal vermißte man das Aufblinken der Taschenlampe. Schwester Gretel war eingeschlafen. Auch sie bekam Baldriantropfen. So hinderte der eine den anderen am Sterben. Die Stunden vergingen.
Sie begannen zu schreien. — Draußen wurden sie gehört. Sechs Soldaten gruben sich einen Weg durch Feuer und Steine. Und es war, als habe der Himmel ihnen helfen wollen: Der Feuersturm, der den Ausgang des öffentlichen Luftschutzkellers blockiert hatte, drehte sich. Die Soldaten arbeiteten sich zur Panzertüre durch, drangen in den Keller ein und forderten die Leute auf, ihnen zu folgen.
Die Männer stürzten sich als erste auf die freigewordene Treppe. Die Soldaten stellten sich ihnen entgegen: “Zuerst die Frauen und Kinder!” Einen nach dem anderen zogen die Soldaten heraus. In kleinen Gruppen faßten sie sich an den Händen und gelangten über Feuer, durch Feuer in die Freiheit.
Es war 23.50 Uhr.
Viele, die bei dem Marsch über die Trümmer hingestürzt waren, hatten Brandwunden davongetragen. Bei einigen fingen die Kleider Feuer. “Hilfe, Hilfe, ich brenne!” Sie liefen in den Keller zurück, dort sind sie geblieben. Wer den Ausbruch in dieser Stunde nicht wagte, bekam keine Chance mehr. Auf den Betten der Schlafräume, auf dem Gang, in der Heizungsanlage, überall fand man später Tote.
Auch diejenigen, die in dem hinteren Keller, der “Grube”, Zuflucht gesucht hatten, kamen nicht wieder lebend heraus. Eine 15-Zentner-Bombe, deren Zunder mit Verzögerung eingestellt war und erst auf dem Kellergewölbe detonierte, durchschlug die Decke und tötete alle. Man sprach von 70 Toten in den Kellern der Handelsschule. Die Leichen schaffte man heraus und legte sie vor das Kreisamt an der Umbach. Dort blieben sie liegen, bis sie identifiziert werden konnten und in Papiersäcken auf Lastwagen verladen zum Mombacher Waldfriedhof gefahren wurden.
Die allen Mainzern bekannte Metzgerei Falk in der Großen Langgasse wurde ebenfalls vernichtet. Der alte Metzgermeister war schon vor dem Angriff gestorben. Seine Frau wurde unter den Trümmern begraben. In der Großen Langgasse 2, Hammelsmetzgerei Rupp, gab es 30 Tote.
Ebenfalls 30 Menschen kamen im Keller des Hauses Schirm-Lietz, Pfandhausstraße 1, ums Leben.
Ungenannt die vielen anderen, die zwischen der Großen Bleiche und der Ludwigstraße, der Schusterstraße und der Schillerstraße und anderswo den Tod fanden.
* * *
In der Gymnasiumstraße lag das Kloster der “Ewigen Anbetung”. Die Gründer hatten sich zur Aufgabe gesetzt, Tag und Nacht im Gebet das Allerheiligste zu verehren und die Sünden ihrer Mitmenschen zu sühnen. Nach 1933 wurde auch dem Kloster der Kapuzinerinnen, wie allen anderen Klöstern, das Leben schwer gemacht. So entzog man ihnen u. a. bei Beginn des Krieges die Kleider- und Spinnstoffkarte.
Die über den Schwestern schwebende Gefahr, dem Kloster entrissen und in einen Rüstungsbetrieb befohlen zu werden, wurde dadurch abgewandt, daß sie für die Firma Werner und Mertz Heimarbeit übernahmen. Fünfzehn Maschinen wurden in dem Kloster aufgestellt, mit deren Hilfe sie täglich 45 000 Dochthalter für Hindenburglichter herstellten. Oft mußten sie bis spät in die Nacht arbeiten, um das auferlegte Soll zu erfüllen. Trotzdem haben sie ihre eigentliche Aufgabe, das Gebet, nicht vergessen. Bereits am 1. Februar 1945 fiel eine schwere Bombe auf das Kloster, und am 14. Februar brannte das Chor, getroffen von einem Brandkanister, völlig aus.
Da am 27. Februar fast ununterbrochen Fliegeralarm gegeben war, hatten sich die Schwestern bereits um 15.30 Uhr zum Chorgebet im Keller versammelt. Als nach 16.20 Uhr die ersten Bomben fielen, eilten auch die noch in den Klosterräumen beschäftigten Schwestern in den Keller. Brandkanister trafen das Klostergebäude. Sprengbomben schlugen in der Nähe ein. Der Boden dröhnte. Die Schwestern blieben im Gebet versammelt. Pausenlos hämmerten die Bomben.
Die Oberin nahm das Allerheiligste aus dem Tabernakel und begab sich mit den Schwestern in den vorderen Teil des Kellers unter der Kapelle. Als es draußen ruhiger wurde, liefen einige Schwestern nach oben. Das Kloster brannte, der Ausgang war aber noch frei. Sie kehrten sofort zurück und forderten die anderen auf, den Keller zu verlassen. Die Schwestern blieben. Nur drei wagten den Weg durch das Feuer und kamen mit dem Leben davon.
Um 21.00 Uhr stürzten die Mauern des Klosters zusammen.
Am nächsten Vormittag drangen Pater Manuwald vom Priesterseminar und eine der drei Überlebenden in den Keller ein. Die Oberin und ihre 40 Mitschwestern waren tot. Eine Kerze brannte noch. Das Ziborium war leer. Die Oberin hatte ihren Schwestern in der Sterbestunde die Heilige Kommunion gereicht, bis der Speisekelch leer war …
Mit den 41 Schwestern starben der Küster und seine Frau, die beiden Pförtnerinnen, eine Frau mit ihrem Kind und ein 17 jähriges Mädchen. Am 6. März, vormittags um 7.00 Uhr, wurde der Konvent im Klostergarten in einem einzigen Grab beigesetzt. Die Oberin lag in der Mitte und links und rechts von ihr die Ordensfrauen.
Ein großes Holzkreuz steht über dem Grab der 41 Kapuzinerinnen. Sie starben getreu ihrem Gebet: “Wir opfern uns selbst Dir auf und sind bereit, die Strafen auf uns zu nehmen, welche die Welt durch ihre Frevel verdient hat.”
* * *
Mitten in der bereits brennenden Stadt, auf die seit fast einer Viertelstunde die Bomben hämmerten, stand noch erhaben der schwere moderne Eisenbetonbau der Allgemeinen Ortskrankenkasse in der Hinteren Bleiche.
Robert Niedhammer, der es gewohnt war, bevor er den Luftschutzraum aufsuchte, noch einmal nachzusehen, ob alle Fenster geöffnet waren, machte seinen Rundgang. Das höllische Inferno der niedergehenden Bombenteppiche trieb auch ihn wie alle anderen in der Stadt in den Keller. Unter dem Gebäude der Allgemeinen Ortskrankenkasse waren die beiden unter der Erde befindlichen Kellerstockwerke als Luftschutzräume ausgebaut. In dem obersten Stockwerk lag der Tresor.
Herr Niedhammer befand sich gerade auf der Treppe zum unteren Keller, als Sprengbomben auf die AOK niedergingen.
Die schweren Stahltüren wurden durch den Luftdruck aufgerissen, und der Beton, noch zusammengehalten durch das Eisengestänge, bröckelte. Die herabstürzenden Trümmer und der Luftdruck schleuderten ihn die Treppe hinunter. Bewußtlos, mit einer schweren Augenverletzung, blieb er liegen.
Als es draußen wieder ruhiger wurde und die Leute sich gefaßt hatten, wurde er aufgefunden. Man schleppte ihn, der inzwischen das Bewußtsein wiedererlangt haben mußte, nach draußen. Wie später Robert Niedhammer wieder in den Keller kam, wußte er selbst nicht mehr. Am anderen Morgen gegen 9.00 Uhr fand man ihn dort. Erst nach zehn Tagen konnte er sehen.
Während der Zeit, da er bewußtlos an der untersten Stufe der Treppe lag, haben 21 Menschen über ihm, im ersten Stockwerk, den Tod gefunden. Sie waren in dem Hauptluftschutzraum, der nur zwei Ausgänge besaß und durch keinerlei Streben abgestützt war, umgekommen. Die Decke hielt dem Luftdruck und den nachfolgenden Schuttmassen nicht stand und brach ein. Der Druck zerriß die Lungen der Menschen, die, an den Wänden sitzend, vom Tod überrascht wurden. Niemand kam lebend heraus. Unmittelbar daneben gab es im gleichen Stockwerk einen kleineren Raum, dessen Wände die Decke besser abstützten und die deswegen nicht eingedrückt wurde. Wer hier Schutz gesucht hatte, kam mit dem Leben davon.
Ehe das Bergungskommando an den Todeskeller herankommen konnte, waren ungeheure Trümmermassen wegzuräumen.
Die schweren Betonpfeiler und Eisenträger versperrten den Weg. Die Bergung aus den Häusern der Altstadt ließ sich meist leichter durchführen als aus den modernen, von den Bomben zusammengehauenen Betonklötzen. Ein Dickicht von Draht, Trägern, Stahl und Stein, entstanden durch die dynamische Kraft des zur Entzündung gebrachten Sprengstoffes, erdrückte nicht nur den Schutzraum der dem Tod Ausgelieferten, es sperrte den Schwerverletzten die Luft und mauerte sie ein. Die Bergungskommandos mußten mit den modernsten Mitteln der Technik arbeiten. Stahltüren mußten aufgeschweißt und Eisenträger zerschnitten werden. Erst die Bagger, knapp fünf Monate nach dem Angriff im Juli 1945 eingesetzt, gruben einen Weg zu den Toten.
Während der Lärm der Waffen längst verklungen war und hungernde Menschen durch zusammengeworfene Stadtteile irrten, die unter dem Schutt ihrer Wohnungen vielleicht noch etwas Brauchbares zu finden hofften, senkten sich die Greifzangen der schweren Bagger laut aufschlagend in die Steine. Sie faßten die ausgebrannte, zusammengeschmolzene und wertlos gewordene Habe, einst mühsam zusammengespart von vielen Generationen. Alles zerschlagen: Hab und Gut, Erinnerungen, liebe Angehörige. Zurück blieb das Leben, das gierig nach Brot riel, das Leben, das sein Recht forderte und vielleicht noch ein gerettetes wertvolles Andenken wegzugeben befahl, um dem schleichenden Tod, dem Hunger, zu entrinnen.
Oft nahm der Baggerführer den Dampf weg, wenn seine Zangen etwas anderes gegriffen hatten. Die Arbeit ruhte, bis der Totenwagen seine Last geladen hatte, Wenn eine Hausruine enttrümmert wurde, unter der man noch Leichen vermutete, fanden sich oft Angehörige ein, um bei der Auffindung ihrer Toten dabei zu sein. Tag für Tag standen sie da und warteten.
Nachdem in der Hinteren Bleiche an der AOK die Arbeit getan war, zogen die Bagger ab, um in der Frauenlobstraße ihre Tätigkeit aufzunehmen. Sie wurden wieder herbeigerufen. An einer Stelle, an der es niemand vermutet hatte, fand man die Leichen von fünf Personen. An der Steintreppe zum Tresor gab es einen kleinen Raum, in dem bei Fliegeralarm die Schreibmaschinen abgestellt wurden. Hierher hatten sich diese fünf Leute zurückgezogen. Der Luftdruck mußte besonders stark gewesen sein. Die schweren Panzertüren waren durchgebogen, die Schreibmaschinen von den Tischen auf die andere Seite des Raumes geschleudert. Fünf Monate schienen an den Toten fast spurlos vorübergegangen zu sein. Während draußen die amerikanischen Panzer durch die Trümmer rollten und ein Krieg zu Ende ging, war da unten die Zeit stehengeblieben. Von der Luft völlig abgeschlossen, blieben die Leichen konserviert. Unter ihnen befand sich ein Mädchen, das einen Tag später, am 28. Februar, seine Hochzeit hatte feiern wollen.
Als der Keller geöffnet wurde und Luft eindrang, entzündete sich der Phosphor. Sechs Familien, die in dem anschließenden Raum Möbelstücke untergestellt hatten, verloren noch fünf Monate nach Kriegsende ihre Habe. Zurück blieb feine weiße Asche.
* * *
Von der Großen Bleiche bis zur Ludwigstraße, von der Schusterstraße bis zur Schillerstraße stand jener Häuserkomplex der Mainzer Altstadt, der bei den seitherigen Angriffen noch einigermaßen verschont geblieben war. Auf ihn konzentrierte sich insbesondere der Schwerpunkt der Vernichtung.
Wenn auch die Neustadt und andere Teile der Stadt stark mitgenommen wurden, und auch dort ganze Straßenzüge ausgelöscht wurden, so hatte die Zerstörung doch nicht dasselbe Ausmaß wie gerade in dem Gewirr jener kleinen historischen Mainzer Gäßchen wie Steingasse, Spritzengasse, Welschnonnengasse, Lotharstraße, Kötherhofgäßchen, Emmeranstraße, Pfandhausstraße, Große und Kleine Langgasse u. a. mehr.
Wer später hier durchwanderte, kannte das alte Mainz nicht mehr. Keine Straßen, keine Häuser, eine einzige Steinwüste, auf der das Unkraut wucherte. Gerade in diesen Straßen waren besonders viele Brandbomben gefallen, die die Dächer durchschlugen und fast grundsätzlich im Treppenhaus detonierten. An den alten morschen Holzstiegen fanden sie reiche Nahrung. Die engen, gewundenen Treppenhäuser rissen wie in einem Kamin das Feuer nach oben.
So kam es, daß in diesen alten Mainzer Häusern zuerst das Treppenhaus und dann das ganze Haus von oben nach unten herunterbrannte, ohne daß der Feuerwehr ein Eingreifen möglich gewesen wäre. Dazu kam, daß nicht nur ein Haus brannte, sondern gleichzeitig ganze Straßenzüge vom ersten bis zum letzten Haus von den Flammen erfaßt wurden.
Nur so war es auch zu erklären, daß gerade in diesem Viertel der Altstadt die meisten Toten zu verzeichnen waren. Die Menschen, die nach dem Angriff aus den Kellern drängten, sahen sich von Flammen und Hitze eingeschlossen. Die herabstürzenden Trümmer brachten die Ausbrechenden in größte Lebensgefahr.
Dies war in einem solchen Maße in der Neustadt nicht der Fall, da die Häuser — von einigen Ausnahmen abgesehen — nicht so dicht aufeinandergebaut waren. Durch ihre Betonunterlagen brannten sie nicht so rasch herunter, und die breiteren Straßen ließen meist noch einen Fluchtweg offen.
Die Holztreppen, das Sorgenkind der Mainzer Feuerwehr, dürften zum großen Teil an der völligen Vernichtung der Mainzer Altstadt und den vielen Menschenopfern schuld gewesen sein.
In dem obengenannten Teil der Altstadt waren auch die meisten Toten auf der Straße zu beklagen, die beim Ausbruch von den Trümmern erschlagen wurden.
In den Kellern der Lotharstraße, Großen Bleiche, Welschnonnengasse, Steingassé, Emmeranstraße, Großen Langgasse, Pfandhausstraße und anderswo fanden Menschen den Tod.
Unter vielen Trümmern liegen sie noch heute. Nach Schätzungen der Leichenbergungskommandos kamen im Laufe der Kriegsjahre insgesamt etwa 2 400 Menschen durch Bombeneinwirkung ums Leben. Davon entfallen allein auf den 27. Februar 1945 1 200, einschließlich einiger Wehrmachtsangehöriger und solcher Personen, die sich zufällig an diesem Tage in Mainz befanden.
27. Februar, 22.00 Uhr.
Der Wind fegte über das Rollfeld von Dijon. Am Platzrand stand die Maschine von Captain Smith und seiner Besatzung. In der Unterkunft nahe bei dem Flugplatz drückte Captain Smith seine Zigarette aus und löschte das Licht.
Das Feuer aber, das er in einer Stadt am Rhein entzündet hatte, löschte kein Druck auf den Knopf. Es fraß sich weiter und vernichtete die letzte Habe von einigen zehntausend Menschen, die müde über zerschossene Straßen wanderten, einem ungewissen Schicksal entgegen, Vater und Mutter, Mann und Frau, Eltern und Kinder zurücklassend als namenlose Opfer des Krieges in den Kellern, in den Trümmern, auf den Straßen.
* * *
28. Februar 1945
5.00 Uhr morgens.
Nach einem etwa dreistündigen Marsch durch die Finsternis hatte Erika den Stadtrand erreicht. Schon in Weisenau sah sie die Verwüstung. Nur sehr langsam kam sie in den Straßen vorwärts.
Vor den brennenden Häusern standen Feuerlöschzüge, die über lange Schlauchleitungen das Wasser aus dem Rhein pumpten. Obwohl es Wasser im Überfluß gab, konnte die Feuerwehr die Flammen nicht bekämpfen. Die Knallsalze aus den Brandbomben hatten jeden Quadratmeter Fläche eingedeckt, so daß das Feuer sich nicht, wie es bei normalen Bränden der Fall ist, von einem einzigen Herd aus ausbreitete.
Es gab Tausende und aber Tausende von Brandherden, gegen die aufzukommen der Feuerwehr, die immerhin am 27. Februar allein in Groß-Mainz über 40 Löschzüge verfügte, nicht möglich war. Aus dem näheren und weiteren Umkreis, aus Groß-Gerau, Darmstadt, Frankfurt, Bingen, Bad Kreuznach, Alzey, Oppenheim, Worms waren nach Aussage des zuständigen Brandoberingenieurs einige hundert (die genaue Zahl konnte nicht mehr festgestellt werden) modernste Feuerlöschzüge bei der Bekämpfung des Feuers beteiligt.
Bombentrichter hatten die Straßen erneut aufgerissen. Auf dem Rhein brannten die Schiffe und versanken in den Fluten.
Ausgebrannte Kraftwagen standen am Wege, Pferdefuhrwerke versperrten die Durchgänge. Zerrissene, aufgedunsene und angebrannte Pferdekadaver lagen über der Deichsel und verbreiteten jenen widerlichen Geruch von Brand und Verwesung, der die Zähne zusammenbeißen ließ, um den Ekel nicht aufkommen zu lassen.
Erika preßte das Taschentuch vor den Mund und setzte ihre Luftschutzbrille auf. Sie ging die Rheinstraße entlang und bog am Fischtor in die Ludwigstraße ein.
Jedes Haus brannte. Die Trümmer lagen meterhoch über der Straße und ließen keinen Durchgang mehr frei. Bei jedem Schritt klirrte es. Scherben, nichts als Scherben! Wie schnell eine Stadt abbrennen konnte!
Zwölf Stunden nach dem Angriff schwelten noch die Reste des einstmals schönen und reichen Mainz.
Unheimlich die Stille und die Leere auf den Straßen. Wo waren ihre Bewohner geblieben? Hatten sie die Stadt bereits verlassen? Waren sie in die Kasematten der Forts am Stadtrand geflüchtet? Lagen sie in den Kellern, erstickt, verkohlt, verbrannt?
Kein menschlicher Laut. Nur das unheimliche Knistern der erstickenden Flammen. Erschüttert stieg Erika über Trümmer, stieß gegen ausgebrannte Stabbrandbomben und gelangte in die Schusterstraße, die einigermaßen passierbar war, weil bereits die Bomben am 12. und 13. August 1942 sie in ein Trümmerfeld verwandelt hatten.
So kam sie zum Flachsmarkt. Das Haus, in dem sie gewohnt hatte, stand nicht mehr. An seiner Stelle lag ein Trümmerhaufen. Der Kellereingang war verschüttet.
An einem Nachbarhaus gewahrte sie eine Frau, die mit Kreide auf einen stehengebliebenen Quader schrieb: “Wir leben!”
“Wir leben.”
War das noch ein Leben? Ein Leben zwischen Himmel und Hölle, wo Gott die Menschen verlassen zu haben schien, ein Leben zwischen dem ersten Stock und dem Keller, wo eine alte Holztreppe noch nicht einmal einer einzigen Stabbrandbombe standhielt, ein Leben von heute auf morgen mit dem bitteren Gefühl, dem Teufel bereits ausgeliefert zu sein.
“Wir leben!”
Wir leben von hundert Gramm Brot, von fünfzig Gramm Fleisch, von zehn Gramm Kaffee-Ersatz und einer Wassersuppe.
“Wir leben!”
Wir leben in der Angst, nicht nur von oben zerbombt, sondern auch von den näher kommenden Fronten zermalmt zu werden.
“Ja, wir leben!”
Eigentlich war es ein Wunder, was Menschen, ganz einfache Menschen, auszuhalten imstande waren, und wie sie verbissen um jede Minute ihres Lebens kämpften.
* * *
Die Aufgaben des Bergungskommandos erschöpften sich nicht in dem Freilegen der Keller, dem Bergen von Verwundeten und Toten, dem Identifizieren und Wegschaffen der Leichen.
Die vielen Blindgänger, die an verkehrswichtigen Punkten niedergegangen waren, mußten beseitigt und entschärft werden, damit nicht noch neue Opfer dazukamen. Dies war nicht immer leicht.
Da, wo ein Blindgänger mitten auf der Straße lag, hatte das Bergungskommando verhältnismäßig leichte Arbeit. Durch ihre Durchschlagskraft drangen sie meist einige Meter tief in den Boden ein und hinterließen einen sauberen Schlagrand, der sehr leicht zu erkennen war. Die Auffindung war mühevoller und gefährlicher da, wo Trümmermassen auf dem Blindgänger lagen.
Fünfzehn bis zwanzig Prozent aller abgeworfenen Bomben waren Blindgänger. Das Sprengkommando Ludwig hat allein bis zum 2. Mai
1949 5 500 Bomben und Granaten im Gesamtgewicht von 150 000 Kilogramm sowie 1 500 Tellerminen, 35 000 Flakgeschosse und 62 000 Schuß Infanteriemunition weggeschafft, gesprengt oder entschärft.
Während des Krieges, also auch am 27. Februar, wurden diese Bomben vorsichtig verladen und außerhalb von Mainz gesprengt. Nach dem Kriege führte Herr Ludwig die Sprengungen zwischen Weisenau und Laubenheim bei den Portlandzementwerken durch.
Als sich die Sprengungen häuften, konnte man es nicht mehr verantworten, dort weiterzuarbeiten, da in der unmittelbaren Umgebung die Häuser durch den Luftdruck gefährdet waren. Von da ab wurde die gefährliche Last in die Nähe des Flugplatzes Wackernheim transportiert und dort gesprengt.
Viele Bomben jedoch, die nicht fortgeschafft werden konnten, mußten an Ort und Stelle unter Einsatz des Lebens entschärft werden.
Der Versuch, Blindgänger durch Wünschelrutengänger auszumachen, scheiterte. Ein Radargerät schien zunächst wertvolle Hilfe zu bieten, wurde aber dadurch unbrauchbar, daß es jede Blechbüchse anzeigte, und man so an jeder Stelle hätte graben müssen.
Viele Blindgänger fand man erst später, als bei der Enttrümmerung die Greifzangen der Bagger sie faßten.
Auf dem Fischtorplatz Ecke Rheinallee wohnte der Arzt Dr. Georg Müller. In sein Haus fiel eine Zweieinhalb-Zentner-Bombe bis in seine Wohnung im ersten Stock auf das Bett. Durch die Federung wurde sie wieder emporgeschnellt und sprang auf die Bettvorlage. Dort blieb sie liegen. Auch sie wurde von dem Sprengkommando abgeholt, auf einen Wagen verladen und außerhalb der Stadt zur Detonation gebracht.
* * *
Die Stunden vergingen. Der Feuersturm peitschte durch die Straßen des brennenden Mainz, riß den Rauch mit sich fort und trug ihn über den Strom. Da saßen sie, müde, zerschunden, arm geworden in 22 Minuten. Sie zogen die noch gerettete und vom Feuer angesengte Decke enger um den vor Kälte und Angst zitternden Körper. Sie rückten näher zusammen, um einander zu wärmen. Vom Rheine her kam die eisige Kälte der Nacht.
Ja, es war Nacht geworden. In der Ferne hörten sie Motorengeräusche. Sie hatten keine Angst mehr. In das Rauschen des Rheines, in das Prasseln des Feuers mischte sich der rollende Donner der Geschütze einer zusammengebrochenen Front. Wann kommen sie? Morgen? Übermorgen?
Sie lebten. Sie lebten in dieser schicksalsschweren Stunde, die ihnen nur die Erinnerung an die Vergangenheit und an bessere Tage gelassen hatte. Der Mann gefallen. Die Mutter erschlagen. Aber im Schoße schlief fröstelnd das Kind, das die ganze Härte des Verlustes noch nicht ahnte, das Kind, das um ein bißchen Milch gebeten hatte. Nichts, noch nicht ein Stück Brot, noch keine Tasse Kaffee. Nichts und doch etwas: Mit dem Leben davongekommen. Was sollte werden?
Langsam machten sich die Ausgebombten, als der Morgen graute, auf den Weg und wanderten den Strom entlang, nicht wissend, wer ihnen ein Zuhause geben würde.
Nachwort
Es war nicht leicht, nahezu sieben Jahre nach der Zerstörung von Mainz authentisches Material und insbesondere Zahlenmaterial über den Luftangriff vom 27. Februar 1945 zusammenzutragen. Den Wirren der letzten Kriegswochen sind sämtliche Unterlagen, soweit sie überhaupt vorhanden waren, zum Opfer gefallen.
Der Verfasser hat den Versuch gemacht, bei einigen strittigen Zahlen durch Anhören eines möglichst großen Personenkreises der Wahrheit am nächsten zu kommen. Größere Abweichungen haben sich nicht ergeben. Die Namen wurden größtenteils belassen und nur in einigen wenigen Fällen auf besonderen Wunsch abgeändert.
An dieser Stelle sei all denen gedankt, die durch Überlassen von Unterlagen zur Gestaltung des Büchleins beitrugen.
Der Verfasser