Heim.Kind — Teil 1: Brandenburger Tristesse.

Hannes Kling
9 min readSep 5, 2017
“Sleeping Woman” by Jakob Schottstaedt (CC BY-NC-ND 2.0)

[TW: In diesem Bericht geht es um viele Dinge, bis hin zu sexualisierter Gewalt, die einen als Kind und Jugendlichen mitnehmen.]

Übersicht zur Reihe “Heim.Kind”
Teil 1: Brandenburger Tristesse.
Teil 2: Flucht nach Berlin.
Teil 3: Straßenhund.
Teil 4: Der Weg hinaus.

In diesem und den weiteren Artikeln versuche ich, einen Einblick zu geben, was es für mich persönlich bedeutet hat, als Heimkind aufzuwachsen, sich hochzukämpfen, Abitur, Studium, Karriere zu machen und welche Erfahrungen ich mit einem (ost-)deutschen Jugendamt und den verschiedenen Kinderheim-Konzepten gemacht habe.

Seit ich 13 bin, habe ich nicht mehr “Zuhause” gewohnt. Ich war in verschiedenen Kinderheimen in Berlin und Brandenburg. Und auf der Straße. Viele Menschen, die keine Berührungspunkte mit diesem System haben, haben keine Vorstellung davon, wie es in Deutschland funktioniert. Unser mediales Bild ist geprägt von harten Berichten über massenhaften Missbrauch in der westdeutschen Provinz der 50er bis 70er Jahre; oder von der heilen Welt des Internat Einstein; oder ganz schlimm: vom Pflegekind-System der USA, das inzwischen weitestgehend familienbasiert ist. Kaum etwas davon hat mit der deutschen Heimrealität der 2000er zu tun. Ich kann mir auch vorstellen, dass meine Erfahrungen inzwischen sehr veraltet sind — immerhin bin ich seit über einem Jahrzehnt “draußen”.

Hinzu kommt, dass ich einen sehr speziellen Blick und eine sehr spezielle Erfahrung mit meinen Heimaufenthalten habe: ich komme aus einer formal intakten Patch-Work-Familie, ein Familienmitglied ist akademisiert und die finanzielle Situation war m.W.n. immer stabil. Ich selbst war zum Zeitpunkt meines “Wegschickens” am Gymnasium (und blieb bis zum Ende meiner Schullaufbahn auch in dieser Schulform). Warum ich aus meiner Familie gehen musste, habe ich bis heute nicht verstanden und auch, nachdem ich über ein Jahr für meine Akte beim Jugendamt gekämpft habe, bin ich auch nicht schlauer. In meiner Familie, zu der ich inzwischen einen insgesamt guten und arbeitsfähigen Kontakt habe und wir auch einige familiäre Herausforderungen gemeinsam gemeistert haben, wird über diese Zeit nur selten gesprochen. Und wenn, dann offenbaren sich grundlegend verschiedene Wahrnehmungen der Situation. Während meiner gesamten Kindheit allerdings war der Satz “Wenn du nicht artig bist, dann gebe ich dich ins Heim” präsent und das finde ich in der Nachbetrachtung immer noch sehr verstörend. Was sich mir auch nicht erschlossen hat: warum es unbedingt die Aufgabe meinerselbst zum Kinderheim sein musste, warum nicht “mildere Mittel” wie der Besuch eines Internats für meine Eltern in Betracht kamen. Wir haben uns damals sogar die Internatsinsel Scharfenberg in Berlin-Tegel angeschaut — warum sie nicht in Betracht kam, hat sich mir nicht erschlossen. Es hätte den damals nötigen Abstand gegeben, ohne mich der Situation im staatlichen Obhutssystem auszusetzen. Nur um das an dieser Stelle klarzustellen: ich habe mich nie als Opfer oder ungerecht behandelt gefühlt. Familie hat nichts mit Gerechtigkeit zu tun und die Pflegeeinrichtungen können den sozialen Kontext, den sie anbieten, nur eingegrenzt bestimmen.

Meine erste Station, die ich hier darstellen will, war mit 13 das sogenannte familienbetreute Wohnen in einer Unterkunft wenige Kilometer von der polnischen Grenze entfernt. Mitten in der brandenburgischen Einöde. Selbst wenn ich hätte fliehen wollen, ich wäre auf einem der vielen Felder der Umgebung zugrunde gegangen.

Angeleiert hatte den Transfer eine “Freundin der Familie”, die zufällig in entscheidungskräftiger Position beim Jugendamt war. Statt einer neutralen Prüfung der Umstände kam diese “Freundin” zu uns nach Hause, man versammelte sich um mich und fragte mich, ob ich es nicht auch für eine gute Idee hielte, ins Heim zu gehen. Fünf Erwachsene schauten auf mich herab, ich war verstört und eingeschüchtert und stimmte zu. Daran kann ich mich noch sehr gut erinnern. Zu diesem Zeitpunkt wohnte ich in einem Dorf, in dem ich jede Ecke kannte, alles mit Fahrrad abgefahren bin. Und ich bin regelmäßig in die große Stadt, nach Berlin, reingefahren — zu dem Zeitpunkt schon alleine! Ich war so sehr Kosmopolit, wie man es mit 13 im ruhigen Speckgürtelleben eben sein konnte. Nun also weit weg, in ein gottverlassenes, rurales Gebiet der Nachwendezeit. Wendeverlierer allerorten. Einziger Arbeitgeber waren die Hinterlassenschaften der lokalen LPG, wichtige Errungenschaft das Moped oder das Auto, beides für mich in dem Alter unerreichbar.

Ich kam mit meinen Großeltern an (ob meine Eltern dabei waren, weiß ich nicht mehr) und räumte meine wichtigsten Besitztümer ein: Fantasy-Bücher und einen funktionsunfähigen Computer. Unter Tränen verabschiedete ich mich von meinen Großeltern, mein wichtiger Bezugspunkt in der Familie. Dann fuhren sie los und ich vergrub mich in dem Zimmer, das irgendwie nie meines wurde.

Familienbetreutes Wohnen, das bedeutet: eine Familie — in diesem Fall ein kinderloses Ehepaar — betreut eine Gruppe von Kindern und/oder Jugendlichen und erhält dafür die finanziellen Mittel, um die Kinder im täglichen Bedarf zu versorgen und auszustatten sowie ihre Betreuungsleistung abzurechnen. Das Ehepaar hatte sich mit der Betreuung von insgesamt 7, später 9, Kindern ein florierendes System aufgebaut. Ein großes Grundstück war zweigeteilt, das Ehepaar lebte in einem Haus und die betreuten Kinder in einem anderen. Über Nacht war immer einer der Erwachsenden anwesend. Das Gehalt schien nicht nur für zwei komplette Häuser zu reichen, sondern auch für Mercedes-Limousinen, die neben dem Kleintransporter für die Kinder im privaten Bereich genutzt wurden. Der Tagesablauf hatte es in sich: neben Schule mussten wir Kinder das Haus in Ordnung halten und hatten im Sommer täglich den Selbstversorgergarten zu betreuen, zum Teil 3 bis 5 Stunden täglich.

Ich hatte dabei Glück und Pech zugleich: aufgrund meines langen Schulwegs musste ich unter der Woche nicht an der Gartenarbeit teilnehmen, weil ich oft erst zu zwischen 16 und 18 Uhr zuhause war und dann noch Hausaufgaben hatte. Das weckte den Neid der anderen Kinder, obwohl es mir dabei nicht so viel besser erging. Denn durch eine spezielle Fächerkombination kam für mich nur ein Gymnasium in Frage, das über 2 Stunden Fahrtweg entfernt war — wenn man mit Auto gebracht wurde. Das wurde ich die ersten Wochen, dann wurde es den “Pflegeeltern” zu teuer. Ab dann durfte ich mit dem Fahrrad fahren und mein Tag begann mit einem Fahrradweg über 20km Landstraße, oft um 5 Uhr morgens. Im Winter war ich an einige Tagen der erste, der durch den frisch gefallenen Schnee sich abmühte, mühsam im Dunkeln die Konturen der Straße findend. Bei einigen Dezimetern Neuschnee lohnt sich schieben, das habe ich dieser Tage schmerzhaft erfahren müssen. Wenn das Fahrrad kaputt war, hieß es schieben, oft über Stunden. Und selbst wenn ich fahren konnte, das flache Land bot immer genug Angriffsfläche für den Wind und ließ mich durch die Landschaft kämpfen. Mein bester Begleiter dieser Tage wurde, ich war schon subkulturell angehaucht, der Kassettenspieler. Immer am Sonntagabend nahm ich das “Fritz Stahlwerk” auf, das mir für den Rest der Woche genügen musste. An MP3s war nicht zu denken, tragbare CD-Spieler zu stromfressend und shockempfindlich. In der Schule war ich übrigens zwar Außenseiter, oder weniger aufgrund meiner familiären Situation, mehr aufgrund meines Auftretens als Metal-Fan. Brandenburg, da bist du entweder Hopper oder Nazi. Meine Freunde fand ich in der Schulbibliothek und dort konnte ich auch zwei Jahre weitgehend ungestört überleben. Das Niveau der Schule war allerdings grottenschlecht. Neben politischen Streits mit meinem Klassenlehrer verbrachte ich meine Zeit gelangweilt mit der Zerstörung sämtlicher digitaler Infrastruktur, die so eine Schule kurz nach der Jahrtausendwende hatte. Mit 14 las ich das Kapital, danach Nietzsche und alles kam irgendwie zusammen. Ich bin mir heute sicher, dass ich kein Wort verstanden habe, aber in meinem Kopf formte sich ein elitäres, aber weltgewandtes und solidarisches Gedankenkonstrukt zusammen.

Zurück im Kinderheim: mein Sonderstatus als Gymnasiast brachte nicht oft den Neid, genauso der Umstand, dass ich einen eigenen PC hatte. Ich mochte einige der anderen Kinder und Jugendlichen, andere machten mir Angst. Höhepunkt des Zusammenlebens der Gemeinschaft war jeden Abend die tägliche Folge “Gute Zeiten Schlechte Zeiten”, eine Sendung, die mir ob ihres Un-Niveaus ungemein zuwider war und nicht zu meiner damaligen Beschäftigung mit Nietzsche passte. Es bestand ein großer Unterschied zwischen uns, die dort lebten, und wir fanden trotzdem punktuell immer wieder zusammen. So etwas wie meine Freunde und Verbündeten in dieser Gruppe waren drei Brüder, die ihre Eltern früh verloren haben und ihr ganzes Leben bei dem Ehepaar verbrachten. Zum Teil deutlich älter als ich, aber sehr aufgeschlossen und freundlich. Ausstiegshoffnung für sie war die Bundeswehr und die Landwirtschaft. Dann waren da noch ein junges Geschwisterpaar, um die 7, 8 Jahre alt, zwei Brüder. Einer mit einer sehr offenen körperlichen und geistigen Einschränkung, der andere furchtbar aggressiv und, wenn niemand hinsah, seinen behinderten Bruder quälend. Sich dort schützend einzubringen war eine dauerhafte Herausforderung für mich und hat mich in den zwei Jahren furchtbar viel Kraft gekostet. In den zwei Jahren kamen noch weiter Neuzugänge: ein furchtbar armer Tropf in meinem Alter, dessen Mutter offen und ehrlich zugab, dass sie lieber in Indien feiern gehen wollte und deswegen sich nicht um ihr Kind kümmern würde. Der Junge weigerte sich über Monate, am Familienleben teilzuhaben und erzählte uns anderen Bewohnern immer, dass _seine_ Mutter ihn ja holen würde, wir würden schon sehen, denn unsere Eltern wären halt schlechte Menschen, aber seine Mutter würde ihn hier rausholen. Gegenüber diesen Beleidigungen und dem Unwillen, sich dem gemeinsamen Leiden der Haus- und Gartenarbeit zu beugen (in den Sommerferien musste ich wettmachen, was ich in der Schulzeit verpasst habe) schlossen wir ihn schnell aus. Die Monate vergingen, seine Mutter kam nicht, am Ende saß ein gebrochener Mensch vor uns. Mir war ziemlich klar, schon damals mit 14: wir sitzen alle im selben Boot. Aber jeder kämpft für sich allein, an Land zu kommen. Nach ihm kamen wenige Monate vor meinem Wechsel in ein anderes Heim ein junges Schwesternpaar, Schwestern um die 5 Jahre. Unsere “Pflegeeltern” erzählten mir frei heraus, dass sie in ihrer Familie nur wenige Tage zuvor vergewaltigt wurden, als ich mich erkundigte, warum sie Nachts immerfort schreien würden. Ohne Kontext, ohne mit mir weiter drüber zu reden. Ich konnte am Ende nicht mehr schlafen, wenn ich diese Schreie höre. Ich frage mich bis heute, ob ich irgendwas hätte tun können, um ihr Leiden zu mindern.

Meine wirklichen Freunde und Begleiter in all der Zeit waren aber die Hunde der Familie, drei wunderschöne Chow-Chows unterschiedlichen Alters, die von Beginn an eine einige Liebe zu mir entwickelten. Wann immer nur sie konnten, stahlen sie sich in mein Zimmer und verbrachten die Nacht bei mir: der Jüngste neben meinem Kopf, die Mittlere auf meinen Füßen und der Älteste neben dem Bett, aber immer so, dass ich eine Hand in seinem Fell haben musste, sonst schubste er mich leicht an, sodass ich ihn gefälligst wieder berühren sollte. Diese Innigkeit war sehr zum Missfallen meiner “Pflegeeltern”, die Hunde waren ähnlich ihrer Autos eigentlich ihre Status- und Luxussymbole und sollten durch uns Kinder nur ausgeführt, nicht aber geliebt werden. Irgendwann führte nur noch ich sie aus, selten kam jemand mit, wenn ich sie durch den Ort führte. Sie waren neben der lokalen Bibliothek und dem Kulturkino meine größte Stütze, diese Jahre durchzustehen, die bei aller Solidarität unter uns Kids geprägt von Neid, Missgunst, Bildungsunterschieden, Gewalt, Übergriffe und Trauma waren. Das galt auch für mich, explizit in einer Situation, wo ich gegenüber einem gleichaltrigen Mitbewohner in einer für mich unkontrollierbaren Situation zwischen Übergriff und Spaß landete. Wir haben wenig später drüber gesprochen, aber ich war nachhaltig vor meinem 13-jährigen Selbst und der Frustration, die sich in mir aufgebaut hat, erschreckt. Das gehört zur Selbstanalyse dazu, ich bin von all dem nicht entkoppelt gewesen, auch wenn ich es immerzu probierte.

Mit der Zeit wurden die Differenzen zwischen den “Pflegeeltern” und mir schwerer. Schon längst ging es nicht mehr um die Hunde, sondern darum, dass ich formal alle Regeln befolgt, aber auf intelligente Art und Weise mir meine eigenen Freiräume schaffte. Außerdem habe ich mich schon früh über die behördlichen Rahmenbedingungen der finanziellen Leistungen informiert: mir war aufgefallen, dass wir für Klamotten und Schulsachen mehr Geld zur Verfügung hatten, also die Familie uns tatsächlich kaufte. Heute bin ich mir sicher: sie haben durchgehend und massiv die Mittel abgeschöpft, die uns Kids zugestanden hätten. Das Abrechnungsbüro war ein einziges Chaos, in dem Belege produziert wurden. Warum ich am Ende aus der Einrichtung rausgeflogen bin, haben sie aber anders begründet: ich wäre als Metal- und Gothic-Fan einem Kult beigetreten und hätte auf einem regionalen Festival, beobachtet von der dörflichen Bibliothekarin (die nebenbei ein schlechten Einfluss auf mich hätte), Drogen genommen und Alkohol konsumiert. Der Kult hätte sich dem Tod von Kindern verschrieben. Das sorgte bei einer gemeinsamen Runde im Jugendamt, die ich wegen meiner Schlafprobleme erbeten hatte, für hartes Lachen und eine verärgerte Aktennotiz über die Einrichtung. Aber ich wollte eh weg. Ich hasste das Dörfliche, die rassistischen und sexistischen Vorurteile und den kulturfeindlichen Habitus meiner “Pflegeeltern”, die Landbevölkerung, die Dorfjugend, das fehlende Bildungsniveau der Schule (die nach meinem Weggang zur Gesamtschule runtergestuft wurde), die körperliche Entbehrung, die fehlende Hochkultur, schlicht: ich vermisste die Stadt und all das, was sie einem jungen Menschen für das Leben auf den Weg gab. Nur, das ich die Hunde zurücklassen musste, brach mir das Herz. Vor einigen Monaten bin ich mit viel, dringend nötiger seelischer Unterstützung in den Ort des Heims gereist. Inzwischen ist es ein Kurort für Drogenkranke, die Familie ist weg. Und mit ihnen die letzte Hoffnung, zumindest einem der feuchtnasigen Begleiter für alles zu danken zu können.

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Hannes Kling

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