Beratung in der Schule

herrselent
8 min readApr 21, 2018

Die Minister und Ministerinnen der Kultusministerkonferenz (KMK) fordern sie. Die Bundesländer haben sie in ihren Bildungs- und Erziehungszielen formuliert. Sowohl ältere, als auch vor allem jüngere Menschen brauchen sie und Schulen bieten sie in unterschiedlicher Form an:
die Beratung.
Lehrer sind stetig gefordert, nicht nur zu unterrichten, sondern auch zu bewerten, einzuschätzen, zu motivieren, zu fördern, zu fordern — ganz platt ausgedrückt — das Beste aus Lernenden ‘herauszukitzeln’.
Neben der entsprechenden Diagnostik (das klingt sehr technisch, aber die aktuelle, universitäre Lehrerausbildung wandelt sich gerade tatsächlich nicht nur terminologisch von den Erziehungswissenschaften hin zu den Bildungswissenschaften) soll eben auch beratend und begleitend der nächsten Arbeitnehmergeneration zur Seite stehen und im Zuge der Integration Lernenden mit individuellem Potenzial zu einer bestmöglichen Vorbereitung auf das spätere Berufsleben verhelfen.

Ein Beispiel der Christlichen Gesamtschule Bleibergquelle (CGB) in Velbert

Neben denen im Zeitplan der Woche, fest eingebauten Mentorengesprächen, gibt es in dem pädagogischen Konzept der CGB einen weiteren Baustein der Beratung, nämlich die Beratungstage.

Die Beratungstage an der CGB bestehen aus 30minütigen Terminen an denen das Klassenlehrerteam, der Schüler/die Schülerin, ein oder beide Elternteile bzw. Erziehungsberechtigte und ggf. ein Sonderpädagoge / eine Sonderpädagogin teilnehmen.
Im Fokus des Beratungstages steht nicht so sehr der vierteljährliche Notenstand an sich, da dieser schon kurz vor den Beratungstagen bekannt gegeben wird, sondern eher das allgemeine Sozialverhalten der Lernenden.
In den Jahrgangsstufen 9 und 10 wird hier an den Beratungstagen außerdem eine Prognose, mit den aktuellen Noten, zum erreichten Abschluss der Klasse 10 preisgegeben. Die Beratungstage bieten im Optimalfall einen Mehrwert an Transparenz und klarer Kommunikation und im “Nicht-So-Sehr”-Optimalfall 😉 ein sogenanntes Fallback, falls der sonstige Kommunikationsfluss zwischen Schule und Elternhaus schon einmal beeinträchtigt sein könnte.

Ein Fallback bezeichnet u.a. in der IT die letzte Möglichkeitsstufe zur Fortführung eines vorab festgelegten Prozesses.

Einmal im Schulhalbjahr, ziemlich genau zwischen den Zeugnissen, finden diese Beratungstage statt, so dass gewünschte notwendige Veränderungen noch bis zum nächsten Zeugnis bereits einen Effekt erwirken können. Gerade in Hinblick auf Verhalten, das sich schlussendlich in Zeugnisnoten ausdrückt, die für das Erreichen eines Abschlusses oder einer Qulaifikation benötigt werden, kann dies absolut relevant sein.

Spannend in diesem Kontext ist, dass für diese Beratungstage vorab Einschätzungsbögen (auch Reflexionsbögen genannt) über das Verhalten des Lernenden, sowohl von den unterrichtenden Fachkräften, als auch vom Lernenden selbst, aber auch von den Eltern oder Erziehungsberechtigten, ausgefüllt und später ausgewertet werden.
Die Einschätzungsbögen beinhalten unterschiedliche Aussagen zu Verhalten und Status Quo des Lernenden in den Bereichen

  1. Persönliche Situation,
  2. Unterricht und Lernen,
  3. Zusammen leben und arbeiten,

die mit diversen Ausprägungen von trifft voll zu bis trifft nicht zu, versehen werden. Eine relativ neutrale Ausprägung (trifft zu) wird voraussgesetzt, wenn es bisher weder negative noch besonders positive Tedenzen bei dem Lernenden zu beobachten gab. Während des Beratungsgesprächs werden dann besonders abweichende Ausprägungen angesprochen, wenn diese alarmierend sind und vermutlich dazu beitragen könnten, dass bestimmte Ziele des Lernenden nicht erreicht werden. Besonders positive Ausprägungen hingegen werden dann natürlich entsprechend gelobt und bilden Anzeichen für bereits vorhandene Fähigkeiten, die natürlich auch einen Teil der Beratung ausmachen.

Kompetenzen der Lehrkäfte in Beratungssituationen

Lehrkräfte sind also gefordert auch beratend tätig zu sein. Dies erfordert gewisse Kompetenzen, die hier eine wichtige Rolle spielen. Interessant wird es vor allem in denjenigen Beratungssituationen, in denen es kleinere oder größere Probleme gibt, die adressiert werden müssen und eine Lösung gefunden werden muss, damit das avisierte Ziel des Lernenden, doch noch erreicht werden kann. Ein spezielles Vorgehen in solchen Beratungssituationen ist also sehr hilfreich, um als Lehrkraft erfolgreich zu moderieren und so zusammen mit Lernenden und Eltern / Erziehenden eine Problemlösung zu erarbeiten.

Viele Lehrkräfte, vor allem älteren Semesters, werden Beratungskompetenzen nicht unbedingt während des Studiums erworben haben, sondern werden sich diese mühevoll über die Jahre, neben allen Vor- und Nachbereitungen des Unterrichts und allen anderen Verpflichtungen, selbst beigebracht haben. Es scheint fast so, als würde sich die Lehrerausbildung erst langsam und immer erst nachträglich den tatsächlichen Herausforderungen des alltäglichen Lehrerberufs anpassen, um dann verspätet, entsprechende Inhalte während des Studiums anzubieten.

Handlungsmöglichkeiten der Lehrkraft

Gerard Egan, emeritierter Professor der Loyola Universität in Chicago, stellte bereits Mitte der Achtzigerjahre ein recht übersichtliches und damit gut handhabbares Modell eines Beratungsprozesses, bestehend aus drei Stufen und mehreren Unterschritten, dar. In diesem Modell wird das beraterische Vorgehen in den Stufen

1) Besprechen des Ist-Zustandes
2) Beschreiben des Soll-Zustandes und
3) Den Soll-Zustand in die Realität umsetzen

in weitere kleine Schritte heruntergebrochen. Praktisch daran sind die pragmatischen Handlungsmöglichkeiten, die dieses Modell mit sich bringt.

1) Besprechen des Ist-Zustandes

Egan zufolge werden im ersten Schritt der ersten Stufe die Lernenden dazu ermutigt von sich selbst zu berichten. Erfahrungsgemäß gelangen so auch Dinge ‘auf den Tisch’, die Außenstehenden bisher nicht bewusst waren. Natürlich spielt hier, wie bei den meisten anderen Tätigkeiten eines Lehrers, die Beziehung zum Lernenden eine entscheidende Rolle und ist wichtig dafür, ob sich der Lernende offenbart oder nicht. Egan schlägt vor, dass dafür bei der Lehrkraft “ein Repertoire an Verhaltens- und Kommunikationsfertigkeiten [entwickelt sein sollten].”
An der CGB werden hierfür die Einschätzungsbögen zur Grundlage des Gespräches genommen. ‘Ausreißer’ können in dieser Phase des Beratungsgesprächs nun angesprochen werden und ermöglichen im weiteren Verlauf des Gesprächs eine mögliche Ursachenergründung des Verhaltens. Dies ist besonders effektiv, wenn diese ‘Ausreißer’ von unterschiedlichen Seiten beobachtet worden sind. Wie beschrieben ist es sehr hilfreich sowohl positive als auch negative ‘Ausreißer’ aufzuzeigen, um dem Lernenden einerseits zu zeigen, was bisher gelungen ist und andererseits den bevorstehenden notwendigen Entwicklungsraum aufzuzeigen.

Ein weiterer Schritt ist es laut Egan, den Fokus auf die wichtigen Anliegen zu legen. Besonders in den höheren Jahrgangsstufen der Sekundarstufe I ist es relevant hier die Bausteine anzusprechen, die für einen angestrebten Abschluss oder eine Qualifikation relevant sind und entsprechende Mittel sein können, um eventuell die Zeugnisnote, hoffentlich in die eine Richtung zu bewegen.

Egan nennt die Hilfe zur Entwicklung neuer Perspektiven als einen weiteren Schritt, der beinhaltet, dass man hilft “blinde Flecken zu bearbeiten”. Genau dieses Prinzip wird durch den CGB-Einschätzungsbogen, der ja hauptsächlich nicht nur vom Lernenden selbst, sondern von den Lehrkräften und Eltern/Erziehungsberechtigten als Außenstehende ausgefüllt wird, verfolgt. Nimmt der Lernende bestimmte Ausprägungen in seinem Verhalten nicht wahr, können Lehrkraft und Elternteil im Gespräch diesen Blindspot aufdecken oder aber für das Ziel unwesentliche Aspekte, aus dem Fokus des Lernenden herausnehmen und auf wichtige Entwicklungspunkte hinweisen.

2) Beschreiben des Soll-Zustandes

Diese Stufe besteht laut Egan aus drei weiteren Schritten, welche das Ziel aufweisen, den Soll-Zustand kontinuierlich zu entwickeln und die Frage nach dem WAS? zu klären. Dazu ist es erforderlich, zunächst ein “Zukunftsbild [zu] entwerfen” welches darauf abzielt eine Perspektive zu entwickeln. Hier könnte man als Lehrkraft ein Bild skizzieren, welches einen ‘besseren’ Schüler / eine ‘bessere’ Schülerin darstellt. Dies wären vor allem erst einmal das Einstellen des unerwünschten Verhaltens, wie bspw. Störungen im Unterricht, Fehlverhalten gegenüber anderen Personen oder fehlende Unterrichtsbeteiligung aber auch das Anwenden von aktivem erwünschten Verhalten.

Daraus folgt dann der Schritt die “Zukunftsbilder [zu] bewerten”, in dem die Lehrkraft mit dem/der Lernenden gemeinsam “klare, spezifische und realistische Zielvorstellungen […] in Einklang mit den Wertvorstellungen” des Lernenden entwickelt, die “mit der Problemsituation in Bezug stehen”.

Im Weiteren folgt nun “Ziele auswählen und zum Engagement ermutigen” in denen Verbindlichkeiten gegenüber dem/der Lernenenden möglichst auch schriftlich aufgestellt werden. Eine Selektion und Beschränkung der wichtigsten Veränderungen sind hier nicht nur erwünscht, sondern wichtig, da der/die Lernende anderenfalls sicher sonst schnell den Fokus verlieren könnte und überfordert ‘das Handtuch wirft’. Eine Erarbeitung von Anreizen kann in diesem Fall tatsächlich auch erträglich sein. An der CGB werden diese Zielsetzungen schriftlich festgehalten und von allen drei Parteien (Elternschaft, Lernende, Lehrende) unterzeichnet, so dass eine gewisse Verantwortlichkeit vom Lernenden ausgehend geschaffen wird. Die Ziele werden im übrigens S.M.A.R.T (spezifisch, messbar, angemessen, realistisch und terminiert) formuliert.

3) Den Soll-Zustand in die Realität umsetzen

Für diese recht praktische Stufe, bedarf es laut Egan weiterer kleiner Schritte, die dazu führen, dass Lernende tatsächlich ihr Verhalten verändern, um die perspektivische höhere Zielsetzung (z.B. bessere Noten, Erreichen eines Abschlusses oder einer Qualifikation) zu erreichen. Hierzu ist sicher etwas Hilfestellung von unterschiedlichen Seiten notwendig. Im besten Fall arbeiten hier Eltern/Erziehungsberechtigte und Lehrende konsequent zusammen.

Demnach wäre der erste Schritt “Handlungsstrategien [zu] schaffen”. Hierbei, wie auch in den nächsten beiden Schritten, geht es darum die Frage nach dem WIE? zu beantworten. Dabei geht es darum ein konkretes Vorgehen zum Erreichen der Ziele, möglicherweise in kleinen, heruntergebrochenen Teilstücken zu entwickeln. Besitzt der/die Lernende beispielsweise in einer Fremdsprache einen geringen Wortschatz, macht es Sinn einen Vokabellernplan mit einer überschaubaren Menge an neuen Vokabeln pro Tag zu etablieren und evtl. ein Inzentiv zu setzen. Natürlich funktionieren auch anders-motivatorisch gespickte Anreize. 😉

Nun folgt die Zusammenfassung zu einem machbaren Plan bzw. einen “Plan [zu] formulieren”. Passen die Strategien aus dem vorangegangenen Schritt zu “Wesen, [..] Möglichkeiten und [..] Umgebung” des Lernenden, sollte daraus ein Plan zusammengestellt werden. Dieser würde dann die Frage nach dem WAS und WANN? beantworten, so dass konkrete Handlungen umgesetzt werden können, um das weitere Zeil zu erreichen.

Dieser Schritt führt unweigerlich zum nächsten und letzten von Egans vorgeschlagenen Schritten: der “Handlung — die Ausführung des Plans”. Hierbei geht es um die Umsetzung. Hilfe zur Umsetzung, aber auch Hilfe bei der eigenen Überwachung der Fortschritte werden hier von den Lernenden benötigt. Hierzu bietet es sich an bestimmte Routinen einzuführen und Reflexionsmethoden aufzuzeigen. Je nach Engagementmöglichkeit des Lehrenden können bereits kleinere Kurzberatungsgespräche terminiert werden und ein Entwicklungsfortschritt bei dem / der Lernenden umegsetzt werden.

Aus Gründen der persönlichen Kapazität ist es sinnvoll und notwendig, Eltern oder Erziehungsberechtigte nicht nur als ‘Zuschauer’ des Geschehens, sondern als aktive Gestalter in diesen Prozess zu integrieren. Schließlich soll die Erziehungsarbeit sowohl im Elternhaus als auch in der Schule passieren. Die landläufige Meinung, staatliche Einrichtungen wie Schule oder Kindertageseinrichtungen seien Unterhaltungseinrichtungen ist einerseits unrealistisch und andererseits nicht korrekt, da Eltern / Erziehungsberechtigte erst einmal selber die Pflicht zur Erziehung (vgl. § 1631, BGB) haben und diese nur zeitweise, aber nicht vollständig auf Lehrkräfte als Akteure einer staatlichen Institutionen aufgrund des “Recht[s] auf schulische Bildung, Erziehung und individuelle Förderung” übertragen, welches durch das jeweilige Schulgesetz eines Landes festgelegt ist (vgl. §1ff, SchulG, NRW und Artikel 8, Landesverfassung, NRW).

Darüberhinaus kann ein solches Vorgehen und der Involvierung von Eltern eine Hilfestellung in der familiären Erziehung der eigenen Kinder sein.
Engagierte Lehrende stehen in der Gefahr sich so einzubringen, dass das eigene Wohlbefinden (Schlaf, Erholung, Rekreation) leidet und gesundheitliche Aspekte außer Acht gelassen werden.

Kurzfassung

Es ist wichtig, als Lehrkraft in Beratungssituationen in der Schule systematisch und professionell vorzugehen. Dies erfordert Handlungs- und Fachkompetenzen bei den Lehrenden. Gerard Egan bietet hierzu ein Drei-Stufen-Modell an, welches ein schritt- und stufenweises Beratungskonzept darstellt. Wenn man sich das pädagogische Konzept der CGB in Velbert anschaut, erkennt man in den Beratungstagen eine konsequente Durchführung ähnlicher Schritte. Mit Hilfe der schulweit geführten Einschätzungsbögen, welche während der etablierten Beratungstage, die einmal zwischen dem Schulhalbjahr stattfinden, werden in der Gesprächsmoderation an den Beratungstagen systematisch Ist- und Sollzustand des Schülerverhaltens aufgezeigt und anhand von schriftlichen Zielvereinbarungen so definiert und umgesetzt, dass ein avisierter Abschluss zum Ende der Sekundarstufe I erreicht werden kann.

Literatur:

  • Egan, Gerard (1996): Helfen durch Gespräch: ein Trainingsprogramm für helfende Berufe (=Edition sozial), Weinheim, 3., unveränd. Aufl.
  • Spielberg, Saskia/Akoda, Melanie (Hgg.) (2015): Offener Unterricht im heterogenen Klassenzimmer: Best-Practice-Beispiele zur effektiven Unterrichtsorganisation ; [geeignet für die Klassen 5–10] (=Ratgeber Inklusion), Mülheim an der Ruhr.

Internetquellen:

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