Inneres Absencing

Isabell Herzog - CoCreatingFuture
7 min readSep 22, 2022

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Von Eva Pomeroy, übersetzt von Isabell Herzog | CoCreatingFuture

Originalartikel unter https://medium.com/presencing-institute-blog/inner-absencing-9b64561ee3dd

Bild von Jayce Pei Yu Lee

Die letzten beiden Pandemiejahre waren einige der schwersten meines Lebens. Während die Welt um mich herum in vielfacher Hinsicht zur gleichen Zeit zusammenbrach, fand ein paralleler Zusammenbruch in meinem Inneren statt. Zu oft fühlte ich mich an einen Ort der Dunkelheit zurückversetzt, ohne die Art von Einsicht, die diese Erfahrung transformativ machen könnte. Erst jetzt, da ich und die Welt beginnen, aus der akutesten Phase der Pandemie herauszukommen, kann ich meine eigene innere Erfahrung mit klareren Augen sehen. Ich habe über diese Erfahrung durch die Brille der Theorie U nachgedacht — dem von Otto Scharmer von der MIT Sloan School of Management entwickelten Rahmen für tiefgreifende gesellschaftliche und persönliche Veränderungen.

Entscheidungspunkt

Im Zentrum der Theorie U steht ein Entscheidungspunkt: Er liegt im Atemzug zwischen Presencing und Absencing. Presensing ist der Akt der Öffnung für die Welt um uns herum und das Eingehen einer direkten Beziehung zu ihr. Es ist eine bewusste Entscheidung, sich mit echter Neugier, offenem Herzen und Mut auf neue Handlungsweisen einzulassen. Absencing ist eine Handlungsweise, die zu vielen der schlimmsten Probleme der Welt führt. Sie ist durch eine Reihe von Handlungen gekennzeichnet, die eine Trennung schaffen und aufrechterhalten: Verleugnung und Desensibilisierung für die Realitäten anderer, Verschließen des kollektiven Potenzials, Lokalisierung der Ursache von Problemen außerhalb der eigenen Person und die Beteiligung an verschiedenen Formen von Gewalt.

Immer wieder stehen wir vor der Wahl, uns entweder für andere und die Welt um uns herum zu öffnen oder es nicht zu tun und uns stattdessen von ihnen abzuwenden oder uns sogar gegen sie zu stellen. Absencing ist weniger eine Wahl als vielmehr eine Tendenz — eine oft unbewusste Reaktion, sich von dem, was um uns herum geschieht, abzuwenden und sich der Verletzlichkeit der Öffnung für das Unbekannte zu stellen. In diesem Raum, dem Entscheidungspunkt zwischen Presencing und Absencing, wird unser Bewusstsein geboren und durch unzählige Entscheidungen, die wir jeden Tag von Augenblick zu Augenblick treffen, ausgelebt.

In letzter Zeit habe ich eine andere, weniger sichtbare, aber ebenso zerstörerische Strömung in der Dynamik von Presencing und Absencing wahrgenommen, die unsere Aufmerksamkeit verdient. Es ist ein sich gegen das Selbst richten, die man als inneres Absencing bezeichnen kann.

Inneres Absencing

Inneres Absencing nimmt die Tendenz zu Verleugnung, Nicht-Spüren, Schuldzuweisung und Zerstörung auf und richtet diese Handlungen auf uns selbst statt auf andere. Es ist eine Tendenz zur Verleugnung unseres eigenen Selbst-Sein, zur Desensibilisierung für das Wissen, das wir in uns tragen, zur Selbstbeschuldigung und im schlimmsten Fall zur Beteiligung an unserer eigenen Selbstzerstörung. Bei den 15- bis 19-Jährigen ist Selbstmord die vierthäufigste Todesursache, und über die gesamte Lebensspanne hinweg sind Depressionen eine der häufigsten Ursachen für Erwerbsunfähigkeit. Letztlich hindert uns das innere Absencing daran, uns dem Potenzial zu öffnen, das in uns lebt, und die Bedingungen zu schaffen, die es uns ermöglichen, es zu entfalten.

Das gegen sich selbst Richten findet im privatesten Bereich statt — in unserer inneren Welt. Das macht es schwieriger zu sehen und zu erkennen, aber nicht weniger real. Ich kann mir vorstellen, dass diese Wendung bei den verschiedenen Menschen unterschiedliche Formen annimmt. Hier sind einige, die ich um mich herum und in mir selbst sehe, betrachtet durch die Linse des Verstandes, des Herzens und des Willens von Theory U.

Ein Umgang mit der Welt mit offenem Denken erfordert eine Art von Demut, das Anerkennen, dass es viel gibt, was ich nicht weiß und was ich noch lernen kann, wenn ich anderen meine Aufmerksamkeit schenke. Was passiert, wenn sich die Demut gegen sich selbst wendet? Sie kann in ein Gefühl des Kleinseins im Vergleich zu anderen abgleiten. Abwesende Demut kann zu einem Gefühl der Minderwertigkeit werden, das uns das Vertrauen und den Glauben an unser Recht und unsere Kompetenz zu handeln raubt. Sie entsteht aus der Unfähigkeit, im Moment das Teil des Puzzles zu sehen, das unsere Gabe ist, die wir ausfeilen, pflegen und wertschätzen dürfen.

Einfühlungsvermögen und Mitgefühl mit offenem Herzen hängen von einer gewissen Verletzlichkeit ab, die es uns ermöglicht, uns der Welt voll und ganz zu öffnen und von ihr berührt zu werden. Gegen sich selbst gerichtet kann die Verletzlichkeit des Mitgefühls in Überwältigung umschlagen, besonders wenn wir Zeuge von Leid werden. Ich persönlich finde, dass die Grenze zwischen Mitgefühl und Überwältigung manchmal mikroskopisch dünn ist. Allzu oft bohrt sich eine Nachricht in mein Herz und versetzt mich in einen freien Fall von Wut und Herzschmerz angesichts der Ungerechtigkeiten, die mir vor Augen geführt werden, und meines Gefühls der Ohnmacht ihnen gegenüber. In Momenten der Überwältigung verliere ich den Sinn für den Dienst, der mein Leben begründet und leitet.

Die Hingabe mit offenem Willen fordert uns auf, alles loszulassen, was uns nicht mehr dient, und der leisen Stimme des Auftauchens Raum zu geben, damit sie gehört werden kann. Gegen sich gerichtet verwandelt sich die “Hingabe an” in einen “Aufgeben von”. Die innere Abwesenheit auf der Ebene des Willens markiert eine Verschiebung von der Hingabe an das, was sich durchsetzen will, hin zur Hingabe unserer eigenen Handlungsfähigkeit, um die Welt mitzugestalten. Auch wenn es so aussieht als würden wir in einer Geste der Hoffnungslosigkeit die Hände hochwerfen, erlebe ich es eher so, dass wir in eine beliebige Richtung gezogen werden, ohne ein Gefühl für ein Ziel oder eine Wahl zu haben. Aus einem offenen Willen heraus zu handeln erfordert ein klares Gefühl, in der Welt zu sein, zu existieren und einen Platz in der Ordnung der Dinge zu haben. Paradoxerweise ist es gerade die Festigkeit des Seins, die es uns ermöglicht, uns hinzugeben.

Das innere Absencing wird durch Gedankenmuster und Erfahrungen genährt, die uns das Gefühl geben, klein, überwältigt und hilflos zu sein. Wir befinden uns in verschiedenen Zuständen der Kontraktion und des inneren Zusammenbruchs, die dazu führen, dass wir das Vertrauen in unsere eigene Handlungsfähigkeit verlieren. Das Gegenmittel zum inneren Absencing ist die Verbindung zu einem Gefühl des Selbst, das auf einem Purpose, einem Zweck, beruht, das sich aus dem Verständnis unseres Platzes in der Welt und einem Gefühl dafür ergibt, was wir in ihr zu tun haben.

Die Hinwendung zum Selbst

Die Hinwendung zu sich selbst erfordert in erster Linie, dass wir den Lärm des inneren Absencing zum Schweigen bringen. Dazu müssen wir einen besonderen Akt der Freundlichkeit vollziehen: Selbstliebe. Eine Forschergruppe der Universität von New Mexico hat herausgefunden, dass das Ausmaß der Selbstliebe von unserer Fähigkeit abhängt, den drei wichtigsten Herausforderungen an uns selbst — Kritik und Ablehnung, Versagen oder Fehler machen und das Bewusstwerden von Mängeln und Unvollkommenheiten — mit Akzeptanz, Freundlichkeit, Geduld und Liebe zu begegnen. Wenn wir uns in unseren schwierigsten Momenten mit einer Haltung der Selbstliebe an uns selbst wenden, öffnen wir einen Raum für etwas Neues, Kreatives und Lebensspendendes, das in unserem Leben entstehen kann.

Doch diese Abkehr vom inneren Absencing — die Veränderung unserer Gedanken über uns selbst — ist bekanntermaßen allein schwer zu erreichen. Der Psychologe Kenneth Gergen, Autor von The Relational Being: Beyond Self and Community” („Das Beziehungswesen: Über das Selbst und Gemeinschaft hinaus“) , argumentiert, dass unsere Selbstkonzepte Produkte sozialer Beziehungen und Interaktionen sind — dass die Unterscheidung zwischen Selbst und Anderem eine künstliche ist. Dies bedeutet, dass die sozialen Felder, in denen wir uns befinden, eine entscheidende Rolle bei der Abkehr vom inneren Absencing spielen. Wenn ich die Wurzel meiner eigenen kürzlichen Rückkehr zum Selbst zurückverfolgen sollte, würde ich sie in drei Worten verorten: Ich sehe dich. Dies war die abschließende Bemerkung, wiederholt und nachhallend, in einem kraftvollen Kreis, in dem ich in einem generativen Feld von Aufmerksamkeit und Fürsorge gehalten wurde. Mich selbst mit den Augen der Mitglieder meines Kreises zu sehen, brachte die innere Unruhe und den Lärm lange genug zum Schweigen, um etwas Neues wahrzunehmen und mich ihm zuzuwenden. Es ist schwierig, sich klein zu fühlen, wenn man gesehen wird; es ist schwierig, keine Zielklarheit zu empfinden, wenn unser Potenzial hochgehalten und uns zurückgespiegelt wird. Das ist das Geschenk, das wir einander machen können: unsere Aufmerksamkeit und Offenheit, unser Zuhören und Spiegeln, unser gegenseitiges Sehen und das Sehen des Potenzials, das direkt außerhalb unserer Wahrnehmung liegt. Indem wir unsere Aufmerksamkeit verschenken, können wir Präsenz verbreiten.

Das Selbst als Instrument

Bei der Arbeit an der Transformation von Gesellschaften und Systemen sind wir selbst das wichtigste Instrument der Arbeit. Wir verfügen zwar über Werkzeuge und Methoden, aber im Wesentlichen ist es unser eigenes Sein, das wir dem Veränderungsprozess zur Verfügung stellen. Wenn die Qualitäten unseres Seins, die wir in die Arbeit einbringen wollen, überstrapaziert werden — zu viel Demut, zu viel Verletzlichkeit, zu viel Hingabe — verlieren sie ihr transformatives Potenzial. Die innere Arbeit des sozialen Wandels bedeutet, diese Qualitäten mit einem Sinn für Ziele und Handlungsfähigkeit in Einklang zu bringen. Um die äußere Arbeit gut zu machen, müssen wir die innere Arbeit leisten, indem wir eine gute Beziehung zu uns selbst haben und uns mit Offenheit und Freundlichkeit uns selbst zuwenden. Die Entscheidung, sich uns selbst zuzuwenden, ist immer möglich — nicht einfach, oft bedarf es der Unterstützung — aber möglich. In einer Welt und einer Zeit, in der es so viel Schmerz, so viel Unrecht und so viel Heilungsbedarf gibt und in der wir uns oft machtlos fühlen, gibt es viele Triebfedern für das innere Absencing. Doch gleichzeitig ist unsere innere Welt der Ort, an dem wir die größten Handlungsmöglichkeiten haben. Wenn wir unsere Einstellung zu uns selbst ändern, wenn wir unseren Blick nach innen mit Freundlichkeit und Offenheit lenken, wird sich das auf unser Leben und unsere Arbeit auswirken und beides verbessern. Dies ist ein Hebel, den wir immer greifbar haben.

Ich möchte Jim Gavin für seine Kommentare zu mehreren Versionen dieses Textes und Jayce Pei Yu Lee für die Bereitstellung des Bildmaterials meinen Dank aussprechen. Außerdem danke ich Paolo Fedi für die Übersetzung des Artikels ins Italienische, Patrick Brandabur für die Übersetzung ins Spanische und Laura Pastorini für ihre Übersetzungshilfe sowie Jayce Pei Yu Lee und Crystal Huang für die Übersetzung ins traditionelle Chinesisch.

Um mehr über Theory U zu erfahren, besuchen Sie https://www.u-school.org/theory-u oder werden Sie Mitglied der diesjährigen u.lab-Kohorte.

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